Franz Mehring 19080617 Bücherschau (Des Francois Rabelais Pantagruel)

Franz Mehring: Bücherschau

Des Francois Rabelais Pantagruel

17. Juni 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 582-584. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 10-13]

Des Francois Rabelais Pantagruel. Erstes Buch. Verdeutscht von Engelbert Hegaur und Dr. Owlglaß. München 1907, Verlag von Albert Langen. 139 Seiten. Preis 2,50 Mark.

Rabelais ist wohl der nationalste Schriftsteller der französischen Literatur genannt worden, in dem immerhin beschränkten Sinne, dass man Franzose sein müsse, um ihn ganz zu verstehen und wirklichen Geschmack an ihm zu finden; Karl Hillebrand, der lange Jahrzehnte in Frankreich gelebt hat, ein intimster Kenner französischen Geistes war und sich selbst zu einer „fast allzu ausschließlichen Bewunderung" für dessen große Träger bekennt, gesteht dennoch, kein rechtes Verhältnis zu Rabelais gewinnen zu können.

Dem scheint nun freilich zu widersprechen, dass der berühmte Satiriker des sechzehnten Jahrhunderts gerade in Deutschland seinen genialsten Übersetzer nicht sowohl, als seinen ebenbürtigen Nachahmer in Johann Fischart gefunden hat, dessen Hauptwerk, die „Affenteuerliche, naupengeheuerliche Geschichtsklitterung, von Thaten und Rathen der vor kurzen langen Weilen vollen wol beschreiten Helden und Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel" dem Gargantua und Pantagruel von Rabelais nachgebildet worden ist. Selbst ein so beschränkter und orthodoxer Literarhistoriker wie Vilmar findet den Meister vom Schüler übertroffen, so dass man, wenn man von Fischart auf Rabelais zurückkehre, diesen kaum für einen Satiriker zu halten geneigt sei, und jedenfalls hat Vilmar recht, wenn er meint, wer nicht Fischarts Gargantua kennen und verstehen gelernt habe, der solle sich nicht einbilden, das Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts zu kennen.

Tatsächlich trifft dieser Einwand aber nicht zu, weil auch Fischart jahrhundertelang in Deutschland vergessen gewesen ist und selbst heute noch nicht entfernt das Ansehen und namentlich die Verbreitung eines nationalen Klassikers genießt; Marx zitiert ihn in seinen Streitschriften gern und oft1, aber man wird kaum noch einen großen modernen Schriftsteller nennen können, von dem sich das Gleiche sagen ließe. Dagegen ist Rabelais in Frankreich immer überaus populär geblieben, durch alle Geschmacksumwälzungen der Jahrhunderte hindurch; sein Werk ist wieder und wieder aufgelegt worden und hat unzählige Kommentare hervorgerufen; es ist der Mittelpunkt einer weitschichtigen Literatur, die sich immer noch vermehrt, und so hat Rabelais auch in Deutschland mehr Übersetzer gefunden als Fischart bis jetzt Herausgeber.

Was dennoch seine Einbürgerung in Deutschland erschwert, das ist nicht sowohl die Schwierigkeit, die Satire zu verstehen, die er in den Tagen der Renaissance, einer Zeit der mächtigsten Umwälzungen, gegen die Torheiten und Verkehrtheiten einer überlebten Welt gerichtet hat. In dieser Beziehung ist mit dem Aufwand eines ebenso großen wie unfruchtbaren Scharfsinns viel in Rabelais hineingeheimnist worden, was er ganz und gar nicht im Sinne gehabt hat; darüber herrscht heute ziemliche Übereinstimmung. Wer sich in der Geschichte der Renaissance einigermaßen umgetan hat, begegnet insoweit keinen großen Schwierigkeiten des Verständnisses bei Rabelais; an der geistigen Entladung seiner mächtigen und urgesunden Natur wird man vielmehr die ungeheure Lebenskraft messen, die damals explodierte.

Es sind vielmehr zwei andere Hindernisse, die dem Deutschen ein rechtes Verhältnis für Rabelais erschweren. Das ist zunächst seine Freude am Kot, nicht am moralischen Kot – denn in geschlechtlichen Verhältnissen wird er nirgends unsauber –, sondern am physischen Kot, den er unermüdlich herankarrt, um damit sozusagen sein ganzes Buch zu verbarrikadieren. Rabelais entwickelt darin eine Genialität und Virtuosität der Phantasie, die in ihrer Art wirklich bewundernswert ist, aber den deutschen Geschmack auf die Dauer anwidert und ermüdet, wobei selbstverständlich irgendwelcher Prüderie nicht das kleinste Zugeständnis gemacht werden soll; es ist eben nur zu viel des Schmutzes, und was dem französischen Geschmack erträglich sein mag, weil Rabelais seit manchem Jahrhundert mit der Gloriole eines nationalen Klassikers umgeben ist, das ist für unseren Geschmack unerträglich, weil wir daran nicht gewöhnt sind.

Dann aber hat er auch um den unsterblichen Kern seines Werkes eine solche Masse nicht unreinlichen, aber lästigen Gerölls und Gesträuchs aufgehäuft, dass Karl Hillebrand nicht mit Unrecht meint, es sei die langweiligste und mühseligste Arbeit der Welt, da hindurch zu dringen; die Aufzählungen, Wiederholungen, haarspaltenden Schattierungen, eingeschachtelten Paranthesen nähmen so ungeheuerliche Verhältnisse an, dass selbst der unerschrockenste Leser davor zurückbeben oder darin stecken bleiben müsse. Bald sind's etwa zweihundert Spiele, bald hundert verschiedene Gerichte und Getränke, dann selbsterfundene Genealogien und wahre Rottenfeuer schlechtester Kalauer, oder es werden lange Reden mit unendlichen Zitaten gehalten oder einem Menschen unzählige Beinamen beigelegt, und solcher atemraubender Listen und Litaneien enthält das Werk von Rabelais zu Hunderten.

Der erste seiner modernen Übersetzer, Regis, suchte nun seiner Aufgabe gerecht zu werden, indem er die altertümliche Sprache des Originals in ähnlichem Deutsch wiedergab, die Anstößigkeiten und Rohheiten möglichst milderte und verdeckte, übrigens aber durch eine ganze Last fleißiger Anmerkungen und Erläuterungen das Verständnis des Franzosen zu fördern suchte. So schuf er eine sehr verdienstliche Arbeit, die heute noch ihren großen Wert hat, aber mehr geeignet ist für den, der Rabelais studieren, als für den, der ihn nur genießen will.

Einen anderen Weg schlug Gelbcke ein. Er beschränkte die „allegorisch-historischen Deutungen" auf einen schmächtigen Anhang, gab der Sprache nur noch einen leisen Hauch altertümlichen Chronikenstils und wählte selbst für die hässlichsten und widerwärtigsten Dinge, die in dem seltsamen Buche vorkommen, die einfach gebräuchliche deutsche Benennung, ohne sich durch ein, sei es nun wohl oder übel angebrachtes Zartgefühl beirren zu lassen. Er meinte, die Sache selbst solle und werde ja doch verstanden werden, jede Umschreibung wie jede bildliche Einkleidung diene aber nur dazu, eine an sich hässliche Vorstellung noch hässlicher zu machen, indem man sie mit einer anderen verbinde und dadurch nichts erreiche, als sie zu vervollständigen, sie mannigfaltiger zu gestalten und die Phantasie noch mehr anzuregen; „immer besser, man schreitet mit dem kürzesten Wort über den Schmutz hinweg, als dass man ihn, ängstlich hin und her trippelnd, mit den metaphorischen Zehen breittritt". Offenbar hat auch diese Auffassung ihre gute Berechtigung; man hat bei Gelbcke in der Tat den ganzen und unverfälschten Rabelais, nur freilich, dass er in seiner unverhüllten und unverstümmelten Pracht dem deutschen Leser mehr und mehr auf die Nerven fällt.

Wieder einen anderen Weg schlagen die neuesten Übersetzer ein, deren Arbeit uns zur Kritik vorliegt. Sie scheiden, wie sie in einem kurzen Nachwort sagen, alles „Allegorische, Kommentarbedürftige und Bloß-Zeitgenössische" aus, kürzen „die Listen und den parabolischen Unsinn" und suchen auch durch „kleine Umstellungen" das „mirakulöse" Büchlein dem Leser von heute zugänglicher und eindringlicher zu machen. Dann aber suchen sie auch sich dem Französischen des Originals durch ein entsprechendes Deutsch zu nähern und so einen gewissen Schleier über die Zoten und Zynismen zu decken.

Es ist nun durchaus anzuerkennen, dass sie ihre Aufgabe, soweit ihre Absicht reicht, in geradezu unübertrefflicher Weise gelöst haben. Man wird ihre Leistung nicht ohne großen ästhetischen Genuss lesen und der Art, wie sie Sprache und Stil beherrschen, die aufrichtigste Anerkennung spenden. Aber ihre eigene Hoffnung, dass ihre chirurgischen oder orthopädischen Bestrebungen nicht auf das bekannte Resultat hinauslaufen würden: Operation glänzend gelungen, Patient tot, erfüllt sich doch nicht ganz. Gerade in dem, was uns an Rabelais ungenießbar geworden ist, steckt ein gutes Stück seiner Genialität, und man spürt es nur um so mehr, je meisterhafter dieser Versuch ist, ihn deutschen Lesern genießbar zu machen.

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