Franz Mehring 19120126 Charles Dickens

Franz Mehring: Charles Dickens

26. Januar 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 621-624. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 45-50]

Von den drei großen englischen Romanschriftstellern aus der langen Regierungszeit der Königin Viktoria, Bulwer, Dickens und Thackeray, ist Dickens der in Deutschland beliebteste und gelesenste gewesen, obgleich ihm die Literatur und die Philosophie des Festlandes viel weniger vertraut war als seinen beiden klassisch gebildeten Nebenbuhlern. Aber dafür übertraf er sie weit durch sein urwüchsiges Talent und jene unverwüstliche Arbeits- und Lebenskraft, die vielleicht seine auszeichnendste Eigenschaft gewesen ist.

Er war ganz und gar Engländer, ja, es ist nicht mit Unrecht gesagt worden, dass er den Cockney von London1 nie völlig losgeworden sei. In seinen Briefen, die sein Freund Forster nach seinem Tode herausgegeben hat, klagt er immer wieder, wenn er sich auf Reisen befindet, selbst in den Bergen der Schweiz, die zu seiner Zeit noch nicht so vom Touristenschwarm durchtobt war wie heute, über den Mangel an Straßenlärm, der ihm für seine dichterische Produktion unerlässlich war. „Ich kann nicht sagen, wie sehr die Straßen mir fehlen", schrieb er 1846 aus Lausanne, wo er einen seiner größten Romane („Dombey und Sohn") verfasste. „Es ist, als ob sie meinem Gehirn etwas gäben, dessen es, wenn es arbeiten soll, nicht entbehren kann. Eine Woche, vierzehn Tage kann ich wunderbar schreiben an einem entlegenen Orte; ein Tag in London genügt dann, mich wieder aufzuziehen und von neuem loszuschießen. Aber die Mühe und Arbeit, zu schreiben, Tag für Tag, ohne diese magische Laterne, ist ungeheuer… Meine Figuren scheinen stillstehen zu wollen, wenn sie keine Menge um sich haben. Ich schrieb gar wenig in Genua und glaubte einen derartigen Einfluss zu verspüren,… aber, guter Gott, dort hatte ich doch wenigstens zwei Meilen Straße, in deren Beleuchtung ich nachts herumirren konnte, und ein großes Theater jeden Abend." Dutzende ähnlicher Klagen ließen sich aus den Briefen des Dichters sammeln. Unter seinen Brüdern in Apoll steht er darin ganz einzig da.

Das nervenzerrüttende Leben der Weltstadt ist der eigentliche Atem seines dichterischen Schaffens gewesen. Er kannte sie in allen Höhen und Tiefen; mit einem wunderbaren Scharfblick wusste er ihre sozialen Typen aufzufassen und in lebendigen Gestalten zu verkörpern, von denen viele bis auf den heutigen Tag in England und selbst über Englands Grenzen hinaus populär geblieben sind. Mr. Pickwick und sein Sam Weller mögen sich an Weltruhm selbst mit Don Quichotte und seinem Sancho Pansa messen. Dabei blieb das Herz des Dichters, auch zur Zeit, wo er der gefeierte Tischgast von Ministern und mit allen berühmten Namen Englands eng befreundet war, den Armen und Elenden, aus deren Mitte er sich mit ungeheurer Geistes- und Lebenskraft ins Land des sonnigen Ruhmes gerettet hatte. Niemand konnte tiefer mit den Stiefkindern der Natur empfinden, den Blinden, Stummen und Tauben, niemand aber auch tiefer – was ungleich mehr sagen will – mit den Stiefkindern der Gesellschaft. Selbst bürgerliche Ästhetiker haben, halb anklagend, halb bewundernd, von Dickens gesagt, dass ihn in seiner Sympathie für die arbeitenden Klassen nicht die Rohheit, nicht das Verbrechen, nicht die Unsittlichkeit, ja selbst nicht einmal der Schmutz beirrt habe.

Fast ans Unglaubliche streift seine Schöpferkraft. So sehr er in vollen Zügen das bewegte gesellschaftliche Leben genoss, das ihm der reiche Ertrag seiner Dichtungen ermöglichte, so schuf er doch im Laufe von kaum zwei Jahrzehnten zwölf große Romane, daneben eine Menge von kleinen Erzählungen und Skizzen, alljährlich eine Weihnachtsgeschichte, dazu Reisetagebücher und anderes mehr; selbst Dinge, die sonst das Leben eines ganzen Mannes erfordern, wie die Gründung einer großen Zeitung, der „Daily News", oder einer gediegenen Wochenschrift, der „Household Words", erschienen bei ihm durchaus nur als Nebenwerke. Man hat sich seine Produktivität durch ihre Flüchtigkeit erklären wollen, man hat dem Dichter den Mangel aller Ökonomie vorgeworfen, die Ungeschicklichkeit, womit meistens der Knoten geschürzt und gelöst wird, die Unwahrscheinlichkeiten der Fabel, die Manier im Stil, die Äußerlichkeit der Komik, die fratzenhafte Übertreibung und manches andere. Vieles von diesen Vorwürfen ist in der Tat schwer zu widerlegen und mag sich aus der Leichtigkeit erklären, womit Dickens produzierte. Doch ist man viel zu weit gegangen, wenn man ihm den Lorbeer des Dichters überhaupt streitig machen wollte, weil er in vielen seiner Schöpfungen, und nicht in den schlechtesten, praktische Zwecke verfolgt hat.

Es sei nur an „Oliver Twist" erinnert, worin er die Armenpflege, oder an „Nicholas Nickelby", worin er das Schulwesen, oder an „Bleakhouse", worin er das Gerichtswesen mit beißendem Spotte schildert. Beiläufig sind diese Romane, so schauderhafte Zustände sie enthüllen, doch auch wieder ein Ruhmestitel des englischen Volkes. Hätte ein deutscher Dichter zur Zeit, wo Dickens schrieb, [gewagt], oder würde heute auch nur ein deutscher Dichter wagen, die offiziellen Institutionen des Reiches so in ihrer Gebrechlichkeit und Verknöcherung darzustellen wie Dickens zum Beispiel die englische Rechtspflege in „Bleakhouse", so würde sein Name in allen patriotischen Kreisen, einschließlich der „liberalen Kalbsköpfe", als eines Schänders der Reichsherrlichkeit verfemt werden, und die beleidigten Gerichte würden sich ihre echt preußische Genugtuung bereiten, indem sie den Übeltäter zu langem Nachdenken hinter schwedischen Gardinen einlüden. Es ist etwas Wahres in dem Dichterwort:

Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes!

Um aber auf Dickens zurückzukommen, so hielt er nicht die Tendenz in Kunstwerken für verwerflich, sondern nur die Tendenz, die mit unkünstlerischen Mitteln arbeitet. Und in der Wahl dieser Mittel ist Dickens, wie seine von Forster herausgegebenen Briefe zeigen, von außerordentlicher Gewissenhaftigkeit und Umsicht gewesen. Freilich nach einer Ästhetik, die er sich selbst gemacht hatte. Aber schon Lessing hat gewusst, dass jedes Genie sich neue Regeln schafft, und so streng die Theorie der Ästhetik darauf dringen mag, die Grenzen des ethischen Urteils und des künstlerischen Geschmacks scharf zu ziehen, so werden sich diese Grenzen in der Praxis des künstlerischen Schaffens doch immer verwischen, was viele der berühmtesten Kunstwerke aus allen Völkern und Zeiten bekunden. „Die Menschen zu bessern und zu bekehren" ist ein unausrottbarer Trieb auch auf dem Gebiet der Dichtung und Kunst, und ihm mit ängstlicher Scheu auszuweichen, kann zu ebenso widerlichen Extremen führen wie die geschmack- und salzlosen Brühen, in denen sich die satte Moral so oft unter dem Schein der Kunst ergossen hat.

Wie stark das künstlerische Temperament in Dickens trotz alledem war, beweist nichts schlagender als die Tatsache, dass er sich trotz seiner gespannten Aufmerksamkeit auf die wichtigsten Fragen des öffentlichen Lebens und trotz seiner radikaldemokratischen Gesinnungen dem aktiven politischen Leben fern hielt. Andere Gründe für diese Zurückhaltung, etwa Mangel an Einsicht oder gar an Mut, sind bei Dickens vollkommen ausgeschlossen, denn er hat oft die empfindlichsten Stellen auf der Haut der herrschenden Klassen mit rauer Hand angetastet. Aber seine demokratische Überzeugung hielt nicht stand, wo ihm ein gänzlicher Mangel an künstlerischem Empfinden entgegentrat; wie bitter und ungerecht hat er über die Vereinigten Staaten abgeurteilt. Umgekehrt versöhnte ihn das Künstlerische des italienischen Lebens mit den argen Zuständen der italienischen Mittel- und Kleinstaaterei. Als er einmal aus Italien in der Schweiz eintraf, schrieb er: „Die Reinlichkeit der kleinen Kinderhäuser ist wirklich wunderbar für die, die aus Italien kommen. Aber die schönen italienischen Manieren, die weiche Sprache, das schnelle Erkennen eines freundlichen Blickes, eines scherzenden Wortes, der bezaubernde Ausdruck des Wunsches, einem in allem angenehm zu sein: ich habe sie hinter den Alpen gelassen. Denke ich daran, so seufze ich immer nach Schmutz, Backsteinfußboden, nackten Wänden, ungetünchten Decken und zerbrochenen Fenstern."

Man darf nun aber nicht annehmen, dass der Künstler in seiner Art weniger tief gesehen hätte als der Politiker, dass Dickens sich in jenem faden Wohltätigkeitssport gefallen hätte, durch den die Bourgeoisie ihr böses Gewissen einzulullen sucht. Im Gegenteil, gerade dies widerwärtige Treiben machte ihn zum Demokraten; unermüdlich bekämpfte er den „schlimmsten und gemeinsten aller cants, den cant über den philanthropischen cant"2. Den christlichen Sozialisten rief er zu: „Gebt ihm und den Seinigen einen Schein des Himmels durch ein wenig Luft und Licht, gebt ihm Wasser; helft ihm, reinlich zu sein, erleuchtet die dumpfe Atmosphäre, in der er hinsiecht, und die aus ihm das schwielige Wesen macht, das er ist… dann, aber nicht vorher kann er dazu gebracht werden, gerne von dem zu hören, dessen Gedanken so gern mit den Elenden waren, und der Mitleiden mit allem menschlichen Kummer empfand." Als sein Freund Cruikshank eine Reihe von Zeichnungen veröffentlichte, um die Folgen der Trunksucht abschreckend zu schildern, lobte Dickens zwar die technische Ausführung, fügte jedoch hinzu: „Die Philosophie der Sache aber, als Lehre, halte ich für ganz falsch, denn um treffend und originell zu sein, hätte das Trinken im Kummer, der Armut oder Unwissenheit beginnen sollen, den drei Dingen, in denen es unter seiner gräulichen Gestalt wirklich immer beginnt. Dann würde die Zeichnung ein zweischneidiges Schwert gewesen sein – aber zu ,radikal' für unseren guten alten George, denk' ich mir." Dickens sah in der Trunksucht das englische Nationallaster, allein auch hier hielt er sich von allem beschränkt-einseitigen Fanatismus frei; er selbst trank gern einen guten Tropfen und verfiel nicht der Wunderlichkeit des Abstinententums; trotzdem war er grundsätzlich für Mäßigkeitsgesellschaften; nur wo sie mit frömmelnd-moralischen Redensarten die Trunksucht auszurotten versuchten, hat er sie, wie zum Beispiel in einer Szene der „Pickwickier", aufs ergötzlichste verspottet. Er wies immer wieder auf die sozialen Ursachen der Trunksucht hin, auf die engen, ungesunden Wohnungen mit ihren widerlichen Gerüchen, auf die schlechten Werkstätten mit ihrem Mangel an Licht, Luft und Wasser; er meinte, dass, wenn man so eindringlich die Seite der Münze zeige, worauf das Volk mit seinen Fehlern und Verbrechen abgestempelt sei, man um so mehr verpflichtet sei, die andere Seite zu zeigen, worauf die Fehler und Laster der über das Volk gesetzten Regierungen nicht minder tief eingedrückt seien.

Einen sozialistischen Dichter darf man ihn deshalb freilich nicht nennen. Dazu fehlte ihm schon jede spekulative Anlage und Neigung, ohne die damals der Gedanke, die bürgerliche Gesellschaft umzuwälzen und auf neue Grundlagen zu stellen, viel unmöglicher war als heute. Dickens hatte sich aus bitterster Armut emporarbeiten müssen, ohne jede systematische Bildung und Erziehung; alle Philosophie würde ihm, wenn er sich je um sie gekümmert hätte, ein wenig närrisch erschienen sein. So schwer ihm aber die ersten Schritte ins Leben gewesen sein mochten, so war er doch mit 27 Jahren schon ein berühmter Dichter, und an ihm persönlich hatte sich die bürgerliche Gesellschaft just nicht als Stiefmutter erwiesen. Was sie bieten konnte, hatte sie nach einigen Jahren rastloser Anstrengung über ihn ausgeschüttet. Deshalb wurde er nicht ihr Speichellecker, wie so viele seinesgleichen auch schon um geringeren Preis zu werden pflegen, sein gutes Herz und sein gesunder Menschenverstand sorgten dafür, dass er die Augen offen behielt für ihre Schäden, aber nach manchem heftigeren Worte ging sein politisches Kredo doch dahin, dass man an den englischen Einrichtungen verbessern müsse, was schlecht daran sei, jedoch ohne sie durch neue zu ersetzen.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens wurde Dickens sogar von der auri sacra fames gepackt, dem unseligen Hunger nach Golde, der reichlich genug gestillt wurde, jedoch nicht nur der Dichter ging daran zugrunde, sondern auch der Mensch rieb sich in einem allmählichen, in seinen Einzelheiten qualvollen Selbstmord auf. Es sind anscheinend Herzenswirren gewesen, die ihn auf die fixe Idee brachten, dass er viel und immer noch mehr verdienen müsse, um den Seinen ein verschwenderisches Leben nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft zu sichern. Ein ausgezeichnetes Talent der Darstellung, das Dickens schon oft als Schauspieler, Tischredner und Vorleser bewährt hatte, verwandte er nunmehr auf den öffentlichen Vortrag seiner Werke. Sein Freund Forster hatte den Mut, ihm ehrlich zu sagen, diese Art Geldverdienens sei seiner nicht würdig, aber die einsame Freundesstimme verhallte ungehört in dem Sturme des Beifalls, der die neue Laufbahn des Dichters begleitete. Jedoch er hatte sich Dämonen verkauft, die ihn von nun an hetzten und peitschten, bis er im Juli 1870 elend zusammenbrach.

So liegt ein Schatten auf dem Abend des Dichters; jedoch vermag dieser Schatten nicht die strahlende Helle zu verscheuchen, die um seinen Morgen und Mittag leuchtet. Auch von der deutschen Arbeiterklasse verdient das Grab des Dichters am 7. Februar, seinem hundertsten Geburtstag, einen ehrenden Kranz.

1 Cockney – gebürtiger Londoner (aus dem Osten der Stadt).

2 cant – (engl.) Scheinheiligkeit, Heuchelei.

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