Franz Mehring 18930000 Der Vikar von Bray

Franz Mehring: Der Vikar von Bray

Aus dem Englischen von Friedrich Engels1

1893

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 3, S. 10-12. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 40-42]

Zu König Karls Zeit, da noch war

Loyalität zu finden,

Dient' ich der Hochkirch' ganz und gar

Und so erwarb ich Pfründen.

Der König ist von Gott gesetzt -

So lehrt' ich meine Schafe -

Und wer ihm trotzt, ihn gar verletzt,

Den trifft die Höllenstrafe.

Denn dieses gilt, und hat Bestand,

Bis an mein End' soll's wahr sein:

Dass, wer auch König sei im Land,

In Bray will ich Vikar sein.


Jakob nahm auf dem Throne Platz,

Das Papsttum kam zu Ehren;

Da galt's, die Katholikenhatz

Ins Gegenteil zu kehren.

Für mich auch, fand ich, passten schon

Roms Kirch' und Priesterorden;

Kam nicht die Revolution,

Wär' ich Jesuit geworden.

Denn dieses gilt, und hat Bestand,

Bis an mein End' soll's wahr sein:

Dass, wer auch König sei im Land,

In Bray will ich Vikar sein.


Als König Wilhelm kam, der Held,

Und rettete die Freiheit,

Hab' ich mein Segel umgestellt

Nach dieses Windes Neuheit.

Der Knechtsgehorsam vor'ger Zeit,

Der war jetzt bald erledigt:

Der Tyrannei gebt Widerstreit!

So wurde nun gepredigt.

Denn dieses gilt, und hat Bestand,

Bis an mein End' soll's wahr sein:

Dass, wer auch König sei im Land,

In Bray will ich Vikar sein.


Als Anna wurde Königin,

Der Landeskirche Glorie,

Das hatte einen andern Sinn,

Und da ward ich ein Tory.

Für unsrer Kirch' Integrität,

Da galt es jetzt zu eifern,

Und Mäßigung und Laxität

Als sündhaft zu begeifern.

Denn dieses gilt, und hat Bestand,

Bis an mein End' soll's wahr sein:

Dass, wer auch König sei im Land,

In Bray will ich Vikar sein.


Als König Georg bracht' in's Land

Gemäßigte Politik, mein Herr,

Hab' nochmals ich den Rock gewandt,

Und so ward ich ein Whig, mein Herr.

Das war es, was mir Pfründen gab

Und Gunst bei dem Regenten;

Auch schwor ich fast alltäglich ab,

So Papst wie Prätendenten.

Denn dieses gilt, und hat Bestand,

Bis an mein End' soll's wahr sein:

Dass, wer auch König sei im Land,

In Bray will ich Vikar sein.


Hannovers hoher Dynastie -

Mit Ausschluss von Papisten -

Der schwör' ich Treu', solange sie

Sich an dem Thron kann fristen.

Denn meine Treu' wankt nimmermehr -

Veränd'rung ausgenommen -

Und Georg sei mein Fürst und Herr,

Bis andre Zeiten kommen.

Denn dieses gilt, und hat Bestand,

Bis an mein End' soll's wahr sein:

Dass, wer auch König sei im Land,

In Bray will ich Vikar sein.


Das obige Lied ist ein englisches Volkslied, das sich seit anderthalb Jahrhunderten unverändert in der Gunst des englischen Volkes erhalten hat – freilich dank auch seiner prächtigen Melodie, von der wir an dieser Stelle unsern Lesern keinen Begriff geben können. Der Vikar von Bray, der allen wechselnden Dynastien und Regierungen gleich treu, hold und gewärtig ist, vorausgesetzt, dass ihm seine kirchliche Pfründe sicher bleibt, ist aber keineswegs eine Figur, die bloß dem englischen Leben angehört. Sie ist typisch für alle zivilisierten Völker, und weniger als irgendeine andere leidet die deutsche Nation Mangel an solchem Vikar von Bray. Neben der scharfen Satire atmet das Gedicht aber auch den echten Humor des Volksliedes, und der Name des Übersetzers wird es unseren Lesern doppelt interessant machen.

1 Engels' Übersetzung des „Vikar von Bray" wurde am 7. September 1882 in der illegalen Zeitung „Der Sozialdemokrat" veröffentlicht. Engels schrieb dazu: „Das obige Lied ist wohl das einzige politische Volkslied, das sich in England seit mehr als hundertsechzig Jahren in Gunst erhalten hat. Es verdankt dies großenteils auch seiner prächtigen Melodie, die noch heute allgemein gesungen wird. Im Übrigen ist das Lied, auch gegenüber unsern heutigen deutschen Verhältnissen keineswegs veraltet. Nur dass wir, wie sich gebührt, inzwischen Fortschritte gemacht haben. Der brave Originalvikar brauchte doch bloß bei jedem Thronwechsel seinen Rock zu wenden. Aber wir Deutsche haben, über unseren vielen politischen Vikaren von Bray, einen richtigen Papst von Bray [Anspielung auf Bismarck], der seine Unfehlbarkeit damit bewährt, dass er nach immer kürzer werdenden Zeiträumen die ganze politische Glaubenslehre selbst gründlich umwälzt. Gestern Freihandel, heute Schutzzoll; gestern Gewerbefreiheit, heute Zwangsinnungen; gestern Kulturkampf, heute mit fliegenden Fahnen nach Canossa – warum nicht? Omnia in majorem Dei gloriam [Alles zur größeren Ehre Gottes], was auf Deutsch heißt: Alles, um mehr Steuern und mehr Soldaten herauszuschlagen. Und die armen kleinen Vikare müssen mit, müssen immer von neuem, wie sie es selbst nennen, ,über den Stock springen', und das noch oft genug ohne Entgelt. Mit welcher Verachtung würde unser alter strammer Vikar auf diese seine winzigen Nachtreter herabsehen – er, der noch ordentlich stolz ist auf den Mut, mit dem er seine Position durch alle Stürme behauptet."

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