Franz Mehring 18921102 Ein ruhender Pol

Franz Mehring: Ein ruhender Pol

2. November 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 193-196. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 23-27]

Der Handel um die neue Militärvorlage ist in vollem Gange; selbst die radikalsten Organe der bürgerlichen Parteien lehnen es feierlich ab, dem Militarismus an den fetten Leib zu wollen; abdingen möchten sie ihm so viel wie möglich, und als zähe Schacherer mögen sie sich im günstigsten Fall auch wohl bewähren. Im günstigsten, obwohl nicht einmal im wahrscheinlichsten Falle. Der erste Schrecken ist überwunden, und alle die staatsmännischen Rechner von links und von rechts, nicht zum wenigsten aber die klugen Handelsleute aus dem Zentrum, wissen wohl, dass wer Kirschen isst mit dem großen Moloch, auf gar viel mehr als die Steine doch nicht rechnen darf. Ein Fraktionsprofitchen hier und ein Fraktionsprofitchen da, und dann wird man abermals seinen Frieden machen mit dem Militarismus. Denn er hat im heutigen Klassenstaate alle Trümpfe in der Hand, und in ihrem Ausspielen ist er niemals weder blöde noch ungeschickt gewesen.

Derweil klingen die Festglocken der Schlosskirche von Wittenberg in die deutschen Lande. Wie richtig traf doch der Kaiser den Geist derjenigen Reformation, die von diesem Gotteshause ihren Anfang nahm, als er in seiner Festrede aber und abermals von der Untertanentreue sprach! Wie elend steht gegenüber solchem historischen Scharfblicke das Prachern und Schachern freisinniger Blätter da, die aus der konventionellen, bei evangelischen Festfeiern nun einmal üblichen und ja auch unerlässlichen Verbeugung des Kaisers vor der katholischen Kirche ein Extraprofitchen für ihre philosemitische Demagogie heraus zu quirlen suchen. Freiheit des Glaubens! schreien sie entzückt und schlagen im byzantinischen Überschwange ihre Stirnen auf das Pflaster, welches die Füße des Kaisers getreten haben. Dass Freiheit des Denkens auch eine schöne, aber im neuen deutschen Reiche nicht gar beliebte Sache sei, haben die Braven längst vergessen.

Hätten sie ein wenig Grütze im Kopfe und ein wenig Courage im Herzen, so würden sie mit jenem Männerstolze, dessen sie sich sonst vor Königsthronen rühmen, auf die Kaiserrede von Wittenberg antworten: Sie spricht von Zeiten, die vergangen sind. Die Untertanentreue, die der Kaiser als das köstlichste Erbe Luthers pries, liegt längst unter allerhand anderen seltsamen Raritäten in der historischen Rumpelkammer vergraben; kein Mensch und noch weniger ein Gott oder Teufel hilft ihr wieder auf die zerbrochenen Beine. Begreiflich genug, dass der Kaiser, der immer nur die jammervolle Liebedienerei der herrschenden Klassen um sich hat, in dem Urteil über die Gegenwart ebenso irrt, wie er in dem Urteil über die Vergangenheit den Nagel auf den Kopf trifft. Wir möchten so wenig mit den Fartcatchern1 des Herrn Bismarck über diesen interessantesten Fürsten unserer Zeit jammern wie mit den Fartcatchern des Kapitalismus vor ihm wimmern. Wir sehen nur ein merkwürdigstes Zeichen der Zeit darin, dass die Gedankenwelt des Kaisers, dessen aufrichtiges Ringen mit seinem Schicksale jedem aufrechten Mann trotz alledem doch immer wieder aufrichtige Achtung abringt, auch nicht durch den Faden einer Spinnwebe mehr zusammenhängt mit der Gedankenwelt der arbeitenden Klassen.

Die Geschicke vollenden sich mit eherner Gewalt, und heute ist dreimal, ist hundertmal für Deutschland wahr, was Lord Chesterfield zwanzig Jahre vor 1789 von Frankreich schrieb: „Kurz alle Symptome, die einem je in der Geschichte als Vorläufer großer Staatsveränderungen und Revolutionen vorgekommen sind, finden sich jetzt in Frankreich und mehren sich täglich." Jene aberweise Geschichtschreibung, die heutzutage das große Wort führt, will uns zwar das Gegenteil lehren; die Taine in Frankreich und die Treitschke in Deutschland klittern ihre dicken Bände zusammen, um zu beweisen, dass wenn die edlen Absichten der weisen Fürsten und Junker nicht durch die Bosheit, die Torheit, den Unverstand der feilen Menge durchkreuzt worden wären, Europa seit hundert Jahren in einem goldenen Zeitalter gelebt haben würde. Doch nicht mit diesem Widersinn lohnt es sich zu rechten. Dagegen ist es nicht ohne Reiz, zu beobachten, wie die freiesten und tiefsten Geister des alten Frankreichs sich die Umwälzung ausmalten, welche sie mit unaufhaltsamen Schritten kommen sahen, und damit zu vergleichen, wie heute die nahende Zukunft ihre gewaltig wachsenden Schatten wirft.

In einem seiner letzten und reizendsten Romane2 erzählt Voltaire, dass die Vernunft, die sich während des Mittelalters in einen Brunnen geflüchtet hatte, vom Mitleid für die Menschen sich rühren ließ und mit ihrer dreisten Tochter, der Wahrheit, die Welt zu besuchen kam. Beide wurden zwar recht übel aufgenommen, allein schon ihre Erscheinung genügte, die Menschheit zu erhellen. Sie fanden in Rom einen Papst, der sie herzlich begrüßte und sie versicherte, dass er, wenn er hätte ahnen können, die Damen wären auf der Erde, ihnen den ersten Besuch gemacht haben würde. Nachdem sie Clemens XIV. verlassen haben, wandern sie durch ganz Italien und sind überrascht, statt des Machiavellismus einen Wetteifer unter allen Fürsten und Republiken von Parma bis Turin zu finden, wer seine Untertanen besser, reicher, glücklicher zu machen vermöchte. Dann sehen die hohen Frauen jenes Deutschland, das einst in sein eigenes Blut gebadet war, um genau zu wissen, ob das Ding in, cum, sub oder nicht sei3, drei feindliche Religionen in seinen Schoß aufnehmen, und die Religionen selber scheinen erstaunt, so friedlich beieinander zu wohnen. Darauf werden Vernunft und Wahrheit von der Kaiserin Maria Theresia entzückt und verlieben sich vollends in den Kaiser Josef. Sie bewundern, was die Semiramis des Nordens in Russland schafft; sie preisen England, dessen „Glück nicht wie das der andern Nationen gemacht war". Frankreich finden sie im Jubel über die Thronbesteigung des tugendhaften Fürsten, von dem die Nation den Anfang einer besseren Zeit erwartet. Überall lebt ein neuer Geist, ein Geist des Wohlwollens, des Fortschritts, der Aufklärung. Vernunft und Wahrheit finden das unendlich viel schöner als die Rätsel, die sich Salomo und die Königin von Saba unter vier Augen aufgaben. „Ich sehe", sagt die Mutter, „dass man sich in Europa seit zehn bis zwölf Jahren auf die Künste und die notwendigen Tugenden verlegt hat, welche die Bitternisse des Lebens mildern. So lass uns denn, meine liebe Tochter, diese schönen Tage genießen." Und so bleiben Vernunft und Wahrheit auf Erden.

In einem so anmutigen Märchen spiegelte sich dem Geiste eines Voltaire die kommende Revolution voraus und – wie weit entfernt sind wir heute von so holden Illusionen! Die Vernunft und Wahrheit, die Voltaire aus ihrem Brunnen beschwor, sind elende Dirnen geworden, käuflich für rotes Gold, leicht zu erwerben von jedem, der bar bezahlt. Wer heute von Voltaires Geist auch nur einen Hauch verspürt, der hat kein anderes Verlangen, als die Lügenaltäre dieser großen Huren von Babylon zu zerschmettern. Sie vergiften die Brunnen, aus denen das durstige Volk schöpft. Sie verleumden den Denker, sie knebeln den Kämpfer, sie verbreiten überallhin durch die gesittete Welt die Pest erbärmlicher, kriechender, niedriger Gesinnung.

Wer heute das, was kommen muss und wird, mit so rosigen Farben malen wollte, wie Voltaire: niemand würde ihm glauben, von den Unterdrückern keiner und auch keiner von den Unterdrückten. Jene sind gepackt von allen Schauern des bösen Gewissens, von der bebenden Angst um Haut und Beutel; diese haben längst gelernt, das Rätsel der Geschichte zu lösen. Sie lassen die ideologischen Hirngespinste da, wohin sie gehören: in den Brunnen, wo sie am tiefsten sind. Sie träumen nicht, sondern sie bauen eine neue Welt. Es gibt keine Vernunft und keine Wahrheit, die in seligen Höhen über dem ewigen Werdeprozess der Geschichte thronen; auch Vernunft und Wahrheit sind diesem Prozesse unterworfen; auch sie sind Produkte der geschichtlichen Entwicklung. Die Sklaverei war einmal die höchste Vernunft der Geschichte, wie sie heute ihre höchste Unvernunft ist.

Die Vernunft und die Wahrheit, die Voltaire und alle die anderen großen Vorkämpfer europäischen Bürgertums im achtzehnten Jahrhundert preisen, waren die glänzenden Widerspiegelungen der jugendfrischen Kraft, womit die bürgerlichen Klassen in die weltgeschichtliche Entwicklung eingriffen. Mit dem Verfalle dieser Klassen verfielen auch ihre Vernunft und ihre Wahrheit; aus den Göttinnen wurden Dirnen, aus den Tempeln Bordelle. „Man hat das Wort Duldung auszusprechen gewagt", ruft die Mutter Vernunft in Voltaires Märchen jubelnd der Tochter Wahrheit zu; nun wohl, das Theater, auf dessen Brettern die Lessing und die Voltaire Duldung predigten, wird in der kapitalistischen Entwicklung mehr und mehr ein öffentliches Haus. Diese Entwicklung zu begreifen und zu verstehen, in dem Vergehen der alten Welt das Werden einer neuen Welt zu erkennen: das ist heute Wahrheit. Und diesen qualvollen Werdeprozess zu beschleunigen und zu erleichtern, Altes zu zertrümmern und Neues zu schaffen: das ist heute Vernunft.

Der glänzende Roman Voltaires und das nüchterne Protokoll eines sozialdemokratischen Parteitags: wie himmelweit verschiedene Dinge! Und die Dreipfenniglichte, welche heute die bürgerliche Literatur erleuchten, mögen über einen so respektwidrigen Vergleich ihre funzeligen Dochte voll heftiger Entrüstung schnäuzen. Lassen wir aber diese kläglichen Existenzen, deren armseliger Witz gerade dazu hinreicht, alles Große und Gute der Zeit argwöhnisch zu beschnüffeln; könnten die wirklichen Denker und Dichter des Bürgertums einen Augenblick erwachen, niemand würde heftiger als sie eine so jammervolle Gefolgschaft abschütteln. War es die Vernunft und Wahrheit des vorigen Jahrhunderts, von einem Lande der Seligen zu träumen, das wie eine schimmernde Wolke am Abendhimmel dahinzog, wir haben die lange Nacht hinter uns, die darnach kam, und unsere Vernunft und Wahrheit ist es, im grauenden Tageslichte Stein auf Stein zu der mächtigen Halle zu türmen, die zum ersten Male, solange es Menschen gibt, die ganze Menschheit zu einträchtigem und frohem Schaffen vereinen wird.

Stein auf Stein, und vieler Steine bedarf sie. Aber jeder Stein mehr ist eine Schutzwehr für die Freunde der Menschheit, ein Bollwerk, an dem sich ihre Feinde die Köpfe zerschellen. Und so sei der sozialdemokratische Parteitag diese Woche begrüßt als ein ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht, in dem wirbelnden Totentanze, worin eine absterbende und verfaulende Gesellschaft ihre letzte Kraft vertobt.

1 Fartcatcher – (engl.) wörtl. „Furzfänger".

2 Gemeint ist „Lobrede auf die Vernunft gehalten von Herrn … in einer Provinzhochschule" (1775).

3 Frage der Wesenseinheit Gottes, des Vaters und des Sohnes.

Kommentare