Franz Mehring 18941121 Ein Wort über Voltaire

Franz Mehring: Ein Wort über Voltaire

21. November 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 257-260. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 18-22]

Am heutigen Tage sind zweihundert Jahre seit Voltaires Geburt verflossen. Er selbst pflegte zu sagen, wenn sein Blick über die Unzahl seiner Schriften schweifte, die nicht weniger als siebzig Bände umfassen, mit solchem Gepäck komme man schwer auf die Nachwelt. Und um auf die Nachwelt zu kommen, hat Voltaire allerdings sein Gepäck hinter sich lassen müssen. Es ist wenig in all seinen Schriften, das dem Zahn der Zeit widerstanden hat. Seine berühmte Henriade ist heute ungenießbar, ebenso die ganze Fracht seiner Tragödien; seine historischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen Schriften stehen am Anfange einer Entwicklung, von deren heute erreichtem Höhepunkt aus sie schon in völligem Dunkel verschwinden; was man um ihrer selbst willen von Voltaires Werken etwa noch lesen mag, das sind einzelne seiner Romane. So hat sich der Spötter Voltaire auch darin als Prophet erwiesen, dass er nicht mit seinem Gepäck auf die Nachwelt gekommen ist; nichts von ihm hat sich unsterblich erwiesen, als eben er selbst.

Dafür ist ihm aber die Unsterblichkeit erblüht, die ihm unstreitig die liebste gewesen wäre: er wird heute noch wie ein Lebender von denen gehasst und geschmäht, die er bis auf den Tod treffen wollte und auch bis auf den Tod getroffen hat. Niemals hat sich der religiöse Aberglaube von den Schlägen erholt, die Voltaire ihm versetzte. Was er heute noch fortschleppt, ist ein bloßer Schein von Leben. Aber die Priester, die von dem Altare dieses Aberglaubens leben, haben es verstanden, Voltaires Namen in eine Nacht zu tauchen, die für ganze Völker undurchdringlich zu sein schien. Wie Lord Campbell sagt, war seit der Französischen Revolution ein rücksichtsloses Herunterreißen Voltaires zum Prüfstein der Loyalität und Rechtgläubigkeit in England geworden, und erst durch das, was Lord Brougham, Carlyle, namentlich aber Buckle über Voltaire zu sagen hatten, ist darin Wandel geschaffen worden. Und nicht viel besser sah und sieht es noch in Deutschland aus. Von unseren Klassikern hat nur Goethe über Voltaire gerecht zu urteilen gewusst. Er nennt ihn den höchsten unter den

Franzosen denkbaren, der Nation gemäßesten Schriftsteller; er spricht ihm Adel und Anmut, Genie und Geist, Gefühl und Geschmack, Fülle und Wärme zu; was er ihm von allen höchsten Eigenschaften des Schriftstellers „vielleicht" abspricht, ist die Tiefe in der Anlage und die Vollendung in der Ausführung; alles, was übrigens von Fähigkeiten und Fertigkeiten auf eine glänzende Weise die Breite der Welt ausfülle, habe Voltaire besessen und dadurch seinen Ruhm über die Erde ausgedehnt. Aber wie philiströs klingt es dann schon wieder, wenn Schiller zu jenen Eigenschaften, die Goethe an Voltaire vermisst, noch das Gemüt zählt. Voltaire, der von sich sagen durfte, in den drei Jahren, die er für das Recht der Calas kämpfte1, sei kein Lächeln über seine Lippen gekommen, das er sich nicht wie ein Verbrechen zum Vorwurf gemacht habe, soll kein „Gemüt" gehabt haben!

Eins freilich gereicht den deutschen Missurteilen über Voltaire zur Entschuldigung. Frankreich, England, die Schweiz haben ihn als Kämpfer, Deutschland hat ihn nur als Höfling gesehen. Hierin liegt das Berechtigte und Wahre von Lessings tiefer Abneigung gegen Voltaire. Aber es ist unberechtigt und unwahr, diese subjektive Abneigung, wie es seitdem so oft geschehen ist, als eine objektive Verdammung von Voltaires ganzer Person und Wirksamkeit auszubeuten. Dagegen hat sich Lessing selbst schon sehr bestimmt verwahrt, und auch, wenn er es nicht getan hätte, würde ein solcher Trugschluss für eine unbefangene Forschung ganz unzulässig sein. Voltaire hörte als Höfling nicht auf, bürgerlicher Vorkämpfer zu sein; es ist eine bestimmte, historische und ziemlich lange währende Phase der bürgerlichen Bildung, ihre Ziele am Hofe, durch die Fürsten durchsetzen zu wollen. Immer sind ihr Fürsten und Höfe nur Mittel für ihre Zwecke, und wie sehr sie es auch nur für Voltaire waren, zeigt der unheilbare Unfriede, in dem er schließlich mit allen Fürsten und Höfen auseinander kam.

Damit soll keineswegs bestritten werden, dass die bürgerliche Aufklärung, die sich auf die bürgerliche Klasse selbst stützt, ein historischer Fortschritt ist gegenüber der bürgerlichen Aufklärung, welche die fürstliche Gewalt als einen Hebel für ihre Taten gebrauchen möchte. Insofern steht Lessing unbedingt höher als Voltaire. Aber die höhere Form des Werkzeugs bedingt noch keineswegs seine höhere Tauglichkeit, bei der die besonderen historischen Umstände ein entscheidendes Wort mitsprechen. Was half es Lessing, sich auf die bürgerliche Klasse zu stützen, wenn noch keine bürgerliche Klasse da war, die ihn stützen konnte? Mit einer an sich rückständigeren Form des Kampfes erreichte Voltaire zugleich mehr. Sieht man von allem Misslichen und Schiefen ab, das solchen historischen Parallelen anzuhaften pflegt, so erinnert das Verhältnis von Lessing und Voltaire an das Verhältnis von Hutten und Erasmus. Unsere Sympathien werden stets bei Lessing und Hutten sein, die daran untergingen, dass jener mit der bürgerlichen Aufklärung, dieser mit der humanistischen Bildung vollen Ernst machen wollte. Aber man darf deshalb nicht übersehen, dass Erasmus und Voltaire im Grunde dasselbe wollten und dass sie den Karren nur um so wirksamer vorwärtsgeschoben haben, je häufiger sie dabei in den Dreck traten, worin er stak.

Höfische Kriecherei und unersättliche Habsucht – das sind die hauptsächlichsten Vorwürfe, die von den Pfaffen und Philistern jeglichen Kalibers gegen Erasmus wie gegen Voltaire erhoben worden sind und noch immer erhoben werden. Trotzdem hatte Erasmus recht, mit seiner „Verachtung des Geldes" großzutun. Er suchte keineswegs Geld um des Geldes willen; das Geld sollte ihm nur ein Piedestal für eine großartige geistige Wirksamkeit bieten. Wie aber konnte er in seiner Zeit Geld erwerben? Honorare für geistige Arbeiten kannte die Zeit nicht. Das Almosensammeln der Bettelmönche hielt Erasmus für unwürdig eines freien Mannes; die Übernahme eines Amts, das ihn mit bestimmten Pflichten auch einen bestimmten Unterhalt geboten hätte, wies er als „unverträglich mit seiner Unabhängigkeit" weit von sich. In dem einen wie in dem anderen hatte er recht; weder ein Bettelmönch noch ein Fürstendiener konnte geistig das sechzehnte Jahrhundert beherrschen. Was Erasmus tun konnte, um eine Macht für sich darzustellen, war das eine, was er wirklich getan und allerdings bis zum peinlichsten Übermaß getan hat: für goldene Worte von den Machthabern seiner Zeit goldenen Lohn einzukassieren. Aber er gewann dadurch die Möglichkeit, eine großartige Einwirkung auf seine Zeit auszuüben. Diese Einwirkung wäre völlig unmöglich gewesen, wenn er sich durch seine bettelhaften Schmeicheleien nicht schließlich eine Stellung geschaffen hätte, die kein Fürst und kein Pfaffe, kein Kaiser und kein Papst antasten konnte. Erasmus durfte in seinem späteren Leben jährlich die nach damaligem Geldwerte außerordentliche Summe von sechshundert Dukaten ausgeben und hinterließ außer einem königlichen Schatz an goldenen und silbernen Geräten nicht weniger als siebentausend Dukaten.

Ganz so schlimm wie Erasmus war Voltaire nicht mehr daran. Zwar Honorare für literarische Arbeiten kannte auch seine Zeit erst in bedingtem Maße, aber finanziellen Spekulationen öffnete sie umso breitere Bahn. Lotterien, Seehandel, Kornaufkäufe, Armeelieferungen boten reiche Möglichkeit zu allerlei Gewinnsten. Der Ertrag einer Subskription, die der englische Adel auf die in Frankreich verbotene Henriade eröffnet hatte, bildete den Grundstock von Voltaires Vermögen; damit wucherte er auf den angedeuteten Wegen; „man muss", sagte er, „aufmerksam sein auf alle Operationen, die ein stets verschuldetes und schwankendes Ministerium in den Staatsfinanzen macht". Eine solche Operation, die der Minister Brühl in den sächsischen Finanzen gemacht hatte, wollte beispielsweise Voltaire in seinem berufenen Handel mit dem Juden Hirsch ausnutzen2 und fiel dabei, was ihm auch sonst einmal, aber keineswegs immer passierte, tüchtig hinein. Aber so unbedingt Lessing recht hatte, den widrigen Handel mit ätzendem Spotte zu überschütten, so lächerlich ist es, wenn die deutschen Hofgeschichtsschreiber sich vor sittlicher Entrüstung darüber nicht zu lassen wissen. Diese Herren sollten doch erst einmal versuchen, die schmutztriefenden Finanzgeschichten, womit sich die preußischen, sächsischen und sonstigen deutschen Landesväter im achtzehnten Jahrhundert besudelt haben, aus der Welt zu schaffen. Dann wollen wir uns gern mit ihnen über Voltaires Schacherei mit dem Juden Hirsch unterhalten.

Vernünftiger als diese Leute urteilte Carlyle, als er schrieb: „Voltaire verdiente fast nichts mit seinen Schriften, aber durch sein schönes anderweitiges Finanztalent hatte er ein ansehnliches Vermögen zusammengebracht. Er wusste so geschickt darüber zu disponieren, dass er in aller Herren Länder Hilfsquellen besaß, und keine erdenkliche Kombination konfiszierender Jesuiten und finsterer fanatischer Beamten konnte ihn außer Brot setzen, wohin er immer zu entwischen gezwungen sein mochte. Ein Mann, der die Tatsache ins Auge fasste, was ihm zum Lobe gereicht. Der gemeine Haufe nennt das Geiz, wie das seine Art ist, aber Voltaire ist überzeugt, dass Wirkungen auf Ursachen folgen und dass es einem vereinsamten Ismaeliten3, der seinen Weg durch die heulenden Wildnisse und verwirrenden gefräßigen Bevölkerungen dieser Welt entlang jagt, wohl gezieme, Geld in der Tasche zu haben. Er starb im Besitze von einigen 40.000 Talern jährlich, vermutlich so gut wie 120.000 heute, der reichste Literat, von dem man annoch gehört hat, ebenso wohl als der merkwürdigste in einigen anderen Beziehungen." Das „schöne" Finanztalent beiseite, aber Carlyle versteht die historische Berechtigung dieses Talents gut darzustellen. Um eine europäische Wirksamkeit ausüben zu können, wie er sie zum Heile für die gesittete Menschheit ausgeübt hat, musste Voltaire Finanzpraktiken entfalten, über deren Anmut sich zweifellos streiten lässt, obgleich sie ebenso zweifellos noch unendlich viel anmutiger waren, als die despotische Finanzwirtschaft des vorigen Jahrhunderts zu sein pflegte.

Voltaire erklärte, er lebe mit Königen, um sich selbst zum Könige zu machen, und die Konsequenz, womit er dies Programm durchführte, hat Goethe mit den Worten gezeichnet, nicht leicht habe sich jemand so abhängig gemacht, um unabhängig zu sein. Aber unabhängig ist Voltaire allerdings geworden, und in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens hat er in Ferney wie ein König der europäischen Aufklärung gewaltet. Es ist unmöglich, in einem Aufsatze von wenigen Seiten auch nur die bedeutendsten Spuren seiner Wirksamkeit aufzuzählen, ohne in phrasenhafte Allgemeinheiten zu verfallen. Deshalb überließen wir diese Art und Weise, seines zweihundertjährigen Geburtstags zu gedenken, der bürgerlichen Presse. Wir zogen es vor, sein Andenken zu ehren, indem wir an einem einzelnen Punkte die Sinnlosigkeit der gegen ihn geschleuderten Anklagen nachwiesen, an einem Punkte, der am ehesten dazu dienen kann, die geistigen und sittlichen Begriffe zu verwirren.

Mit all ihren Lästerungen über Voltaire verkleinern die Pfaffen und Philister nicht die Bedeutung des Mannes, der an der Hoheit seiner Ziele nur um so fester hielt, je erbärmlicher die Mittel waren, womit er in seiner erbärmlichen Zeit ihnen nachtrachten musste.

1 Der französische Protestant Jean Calas wurde 1762 das Opfer eines Justizmordes des katholischen Klerus; auch seine Familie stand unter falscher Anklage. Voltaire führte drei Jahre lang, unter Anteilnahme ganz Europas, den Kampf um die Revision des Urteils, das am 9. Mai 1765 endlich umgestoßen wurde. Voltaire erklärte: „Kein Lächeln ist während der drei Jahre des Kampfes über meine Lippen gezogen. Ich hätte es mir für ein tiefes Unrecht angerechnet."

2 Über Voltaires Prozess gegen den Juden Hirsch siehe „Die Lessing-Legende", Bd. 9 der „Gesammelten Schriften", S. 224 ff.

3 Ismaelit – Angehöriger einer muslimischen Sekte.

Kommentare