Franz Mehring 19021008 Emile Zola

Franz Mehring: Emile Zola1

8. Oktober 1902

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 35-39]

Der jähe Tod Zolas: rief im ersten Augenblick ein peinliches Gefühl hervor, ein Gefühl der Ohnmacht, die ein an Arbeit und Kampf so reiches Leben einem kläglichen Zufall preisgegeben sah. Aber der Hass der Feinde, der uferlos schäumend über die Leiche des tapferen Mannes hereinbrach, noch ehe sie erkaltet war, gab den sicheren Trost, dass dieser Tote ein ruhmvolles Tagewerk vollbracht hatte. Wer nicht einmal durch die Majestät des Todes die lästernde Zunge bändigen lässt, der ist bis ins Herz getroffen. Je wüster sich der Hass der Besiegten gebärdete, umso heller glänzte das Schwert auf der Bahre des Siegers.

Ein alter Philosoph hat von Apollo gesagt: „Bogenschütze ist der Gott und der Tonkunst Gott; ich liebe seine Harmonie, und ich fürchte seinen Bogen." Damit ist schon eine Zweiheit des dichterischen Schaffens angedeutet, die sich seitdem durch alle Geschichte der Dichtung verfolgen lässt: der Dichter als Kämpfer und der Dichter als Künstler. Eine Zweiheit gewiss nicht in dem Sinne, als ob sich die beiden Elemente jemals völlig scheiden ließen. Ein Dichter, der eben nur Kämpfer wäre, würde dadurch aufhören, ein Dichter zu sein, und ein Dichter wie Goethe, der vielleicht unter allen Dichtern im höchsten Sinne ein Künstler gewesen ist, hat sich noch in seinen letzten Lebenstagen gerühmt, ein Kämpfer gewesen zu sein. Aber so verschieden die Art ist, wie sich die beiden Elemente in den einzelnen Dichtern mischen, je nach ihren Anlagen und den historischen Umständen, unter denen sie leben, so werden immer Kämpfernaturen auftauchen, in denen der Künstler, und Künstlernaturen, in denen der Kämpfer zu verschwinden scheint.

Wie sich in Zola diese Elemente mischten, erhellt auf den ersten Blick; er war so sehr eine Kämpfernatur, dass manche auch unter seinen Bewunderern ihm geradezu den Namen eines Dichters abgesprochen haben, wie ihn sich Lessing einst selbst in einem Augenblick leidenschaftlichen Kampfes absprach. Das war sicherlich übertrieben, denn man kann nicht schaffen, was Zola geschaffen hat, ohne große Gaben des Dichters in erstaunlichem Maße zu besitzen. Aber andere dieser Gaben fehlten ihm in nicht minder erstaunlichem Maße. Wenn er ein ungemein scharfsichtiger Beobachter, ein Sittenschilderer ersten Ranges, ein feiner und tiefer Psychologe war, so mangelten ihm ästhetischer Geschmack und Takt, Phantasie und Witz und das, was er selbst l'expression personelle nannte, das individuelle Dichterleben, die schöpferische Gestaltungskraft, die eine neue Welt aus dem Nichts schafft.

Er selbst war sich vollkommen klar, dass er eine Kämpfer- und keine Künstlernatur sei. Diese Klarheit tritt weniger hervor in dem meistzitierten Satze seiner Ästhetik: „Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament", denn dieser Satz ist vieldeutig genug, um alle mögliche Ästhetik darin zu verpacken. Aber ein andermal sagt Zola: „Wir sind die geschäftigen Arbeiter, die das Gebäude sondieren, die morschen Balken, die inneren Risse, die losgelösten Steine, alle jene Schäden aufdecken, die von außen nicht gesehen werden und doch den Untergang des ganzen Gebäudes herbeiführen können. Ist das nicht eine nützlichere, ernsthaftere und würdigere Tätigkeit als sich, die Leier in der Hand, auf einen erhöhten Standpunkt zu stellen und durch eine tönende Fanfare die Menschheit zu entflammen?" Hier lehnt Zola mit dürren Worten die Leier ab und verlangt nur noch, wenn auch nicht den Bogen, so doch die Maurerhacke als sein Teil. Er verlässt den künstlerischen Boden und gerät in die bedenkliche Nachbarschaft jener biederen Manchesterleute, die ehedem nachzuweisen suchten, dass jeder brave Architekt oder auch jeder ehrliche Schweinezüchter ein nützlicheres Glied der menschlichen Gesellschaft sei, als Goethe mit seiner unproduktiven Versmacherei je habe sein können.

Man kommt darüber nicht hinweg, wenn man sagt, Zola sei zwar ein großer Dichter, aber ein schlechter Ästhetiker gewesen. Vielmehr stimmen der Ästhetiker und der Poet in Zola vollkommen zusammen. Seine Romane sind weit mehr reformatorische Mahn- und Weckrufe als reine Kunstwerke, wie sie der Dichter in seligem Genügen an seinem künstlerischen Schaffen aus sich heraus spinnt. Das wäre vom ästhetischen Standpunkt aus ein hartes Urteil, wenn nur eben der ästhetische Standpunkt nicht auch dem historischen Wechsel unterworfen wäre. Sicherlich ist die Kunst ein ursprüngliches Vermögen der Menschheit und nimmt als solches ihre Gesetze nur von sich selbst. Aber in dem historischen Flusse der Dinge steht sie auch, und sie kann sich nicht entwickeln ohne die revolutionären Erschütterungen, in denen es größere Ehre sein mag, ihre Altäre zu zerbrechen als auf ihnen zu opfern.

Inmitten einer solchen revolutionären Erschütterung zu stehen, war Zolas Stolz. Er hat immer abgelehnt, den Naturalismus, der sich in erster Reihe an seinen Namen knüpfte, erfunden zu haben. „Ich habe die naturalistische Methode im achtzehnten Jahrhundert gefunden; sie datiert, wenn man will, vom Beginn der Welt. Ich habe gezeigt, wie in unserer nationalen Literatur Balzac und Stendhal sie in glänzender Weise angewandt haben; ich habe behauptet, dass unser gegenwärtiger Roman das Werk dieser Meister fortsetzt und habe in erster Reihe Gustave Flaubert, Jules und Edmond de Goncourt, Alphonse Daudet genannt. Wie hat man nur daraus schließen können, dass ich eine Theorie zu meinem Privatgebrauch erfunden habe? Welche Toren haben die sonderbare Idee gehabt, mich als einen Hochmütigen darzustellen, der seine Rhetorik der Welt aufzwingen und auf sein Werk Vergangenheit und Zukunft der französischen Literatur basieren will? Dies ist in Wirklichkeit der Gipfel der Verblendung und Böswilligkeit… Die Anwendung der naturalistischen Methode in unserer Literatur datiert von dem letzten Jahrhundert, von dem ersten Stammeln unserer modernen Wissenschaft. Die Anregung war gegeben, die Bewegung musste allgemein werden. Wie oft schon habe ich die Geschichte dieser ungeheuren Bewegung gegeben, die uns der Zukunft entgegenführt. Sie hat die Geschichte und die Kritik umgestaltet, indem sie sie von der gedankenlosen Beobachtung der scholastischen Formen befreite; sie hat den Roman und das Drama verjüngt, von Diderot und Rousseau bis auf Balzac und seine Jünger. Kann man die Tatsache leugnen? Zeigen nicht die letzten Jahre unserer Geschichte den wissenschaftlichen Geist in der Vernichtung der schönen klassischen Regeln früherer Jahrhunderte, in dem Stammeln der romantischen Erhebung, in dem Triumph der naturalistischen Schriftsteller? Ich wiederhole es: der Naturalismus bin nicht ich. Er ist in jedem Schriftsteller, der bewusst oder unbewusst die wissenschaftliche Methode anwendet, das Studium der Welt in Angriff nimmt durch Beobachtung und Analyse, indem er das absolute, das geoffenbarte, mit dem Verstand nicht zu begreifende Ideal leugnet." In diesen Sätzen offenbart sich wie Zolas Stärke so auch seine Schwäche.

Der Naturalismus der Rousseau und der Diderot, wie der Balzac und der Zola hat gewiss eine gemeinsame Tendenz: es ist die Flucht der Kunst aus einem Zustand gesellschaftlicher Entartung, es ist ihre Rückkehr in die erlösenden Arme der Natur. Allein diese Rückkehr zur Natur ist tatsächlich nur Fortschreiten in eine höher entwickelte Gesellschaftsordnung. Sie kann nichts anderes sein, da gesellschaftliche Leiden nur auf dem Boden der Gesellschaft, nicht auf dem Boden der Natur geheilt werden können. Hier aber ergeben sich sofort gewaltige Unterschiede zwischen den Rousseau und Diderot einer-, den Balzac und Zola andererseits. Jene retteten sich vor der gesellschaftlichen Fäulnis des Feudalismus zur Natur, will sagen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung, diese aber suchen die Rettung vor der gesellschaftlichen Fäulnis des Kapitalismus ohne zu wissen, wo sie zu finden ist. So sind jene bei alledem Optimisten, diese aber Pessimisten, Balzac überhaupt, Zola wenigstens bis zu seinen letzten Romanen, in denen er einen utopischen Sozialismus predigt.

Bereits in einem seiner früheren Romane lässt Zola einen Lieblingsjünger von Karl Marx auftreten und so konfuse Reden führen, dass Zola bei aller experimentell-wissenschaftlichen Methode sich niemals mit dem wissenschaftlichen Sozialismus beschäftigt haben kann. Mit jener wunderlichen „Exaktheit", die dann von den deutschen Nachbetern Zolas karikiert worden ist, stellt Zola fest, dass Marxens Hauptwerk in gotischen Lettern gedruckt sei, was bekanntlich nicht einmal wahr ist, aber von dem Inhalt dieses Werkes hat er nicht die entfernteste Ahnung. Man wird uns hoffentlich nicht missverstehen in dem Sinne, den einmal ein naturalistischer Witzbold ausgetiftelt hat, als ob wir das Bekenntnis zum Erfurter Programm zum obersten ästhetischen Gesetz machen wollten, indem wir beklagen, dass der Naturalismus keinen Blick für den proletarischen Klassenkampf hat. Zola selbst, der seinen Stammbaum von den Diderot und Rousseau ableitete, der den Vorzug des experimentellen Romans darin sah, den Zusammenhang einer Erscheinung mit ihren nächsten Ursachen aufzusuchen und die Bedingungen festzustellen, wodurch diese Erscheinung bestimmt wird, Zola stand turmhoch über seinem kleinen Nachwuchs in Deutschland, und sein dichterisches Schaffen würde unendlich beflügelt worden sein, wenn er die Theorie des proletarischen Klassenkampfes als Schlüssel zur Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen besessen hätte, etwa statt des vulgären Fatalismus eines Lombroso, der ihn oft genug in die Irre geführt hat.

Ähnlich wie Zola zu Diderot und Rousseau steht, so steht er zu Voltaire. Zolas Eintreten für Dreyfus2 ist oft mit Voltaires Eintreten für die Calas verglichen; es ist gesagt worden, Zola habe größeres gewagt als Voltaire. Das ist vollkommen richtig; Zola setzte bei seinem mutigen und uneigennützigen Kampfe für den Verurteilten der Teufelsinsel ungleich mehr aufs Spiel als Voltaire, da er die Sache der Hugenottenfamilie in Toulouse zur seinigen machte. Allein die historische Bedeutung der beiden Fälle war ganz verschieden, und diese Verschiedenheit fällt zuungunsten Zolas. Voltaire führte einen vernichtenden Streich gegen die feudal-klerikale Justiz des Mittelalters, Zola hat im günstigsten Falle einen unschuldig verurteilten Mann gerettet, aber doch nur, bei aller Unsträflichkeit seiner persönlichen Beweggründe, im unbewussten Dienste einer Klasse, die in ihrer Art nicht minder verrottete Klassenjustiz treibt als jene Militärjustiz, der Dreyfus zum Opfer fiel. Es war ein widerliches Schauspiel, zu sehen, wie dieselben Soldschreiber der Bourgeoisie, die bis dahin nicht genug über den „gemeinen" und „schmutzigen" Romanschreiber zetern konnten, der die Kühnheit gehabt hatte, den Schleier von den Geheimnissen der kapitalistischen Wirtschaft zu ziehen, nun auf einmal den unvergleichlichen „Geisteshelden" priesen, der mit dem Eintreten für Dreyfus den von ihnen vertretenen Interessen den mächtigen Vorspann seines großen Namens lieh.

Mehr als durch diese interessierte Lobhudelei wird Zolas Andenken geehrt durch die unversöhnlichen Wutschreie derer, die seine Hand mit unverbindlichem Schlage getroffen hat. Aber am meisten ehrt den Toten der Lorbeer, den die Arbeiter diesseits und jenseits der Vogesen an seinem Grabe niederlegen. Zola gehörte nicht zu ihnen, und er hat nicht einmal verstanden, was ihres Lebens besten Inhalt bildet, aber er war ein rüstiger Bahnbrecher der besseren Zeit, so wie er sie nun verstand, ein Denker, dem die tiefsten Geheimnisse der Zeit verschlossen blieben, ein Dichter, der am ästhetischen Maßstabe gemessen nur unvollkommen bestand, jedoch ein Kämpfer, der in seiner Fähigkeit und seinem Fleiß, in seiner Ehrlichkeit und seiner Tapferkeit wohl das Recht hatte, sich zur glorreichen Schar der Diderot und Lessing, der Rousseau und Voltaire zu gesellen.

1 Besonders die Auffassungen Franz Mehrings über Emile Zola und die realistische französische Literatur des 19. Jahrhunderts überhaupt sind durch die neue marxistische Literaturwissenschaft längst überholt und besitzen lediglich noch historisches Interesse.

2 Auf Grund gefälschter Unterlagen wurde 1894 der französische Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus, jüdischer Abstammung, aus der Armee ausgestoßen und zu lebenslänglicher Deportation verurteilt. Die „Dreyfus-Affäre" war eine Machenschaft der antisemitischen, chauvinistischen und klerikalen Militärpartei, gegen die die fortschrittlichen Kräfte des Landes stürmischen Protest erhoben. Zola stand in der vorderen Reihe dieses Kampfes, der zunächst ein Wiederaufnahmeverfahren, dann die Begnadigung und schließlich die völlige Rehabilitierung (1906) erzwang.

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