Franz Mehring 19000717 Henrik Ibsen

Franz Mehring: Henrik Ibsen

17. Juli 1900

[Der Wahre Jakob, 1900, Nr. 365, S. 3290-3292. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 58-67]

Der trügerische Glanz des Kriegsruhms ist selten so schwer gebüßt worden wie von den skandinavischen Nationen. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges schien ihnen durch eine besondere Gunst der Verhältnisse die militärische Herrschaft über das zerrissene Deutschland gesichert zu sein; hundert Jahre später waren sie schon auf dem Kriegstheater zu einer halb lächerlichen Rolle verurteilt, geschweige denn, dass sie an dem geistigen Leben Europas noch irgendeinen maßgebenden oder überhaupt nur nennenswerten Anteil gehabt hätten. Der Sturmwind der Französischen Revolution, der sonst die Literaturen aller europäischen Völker aufrüttelte, ließ die skandinavischen Länder fast unberührt.

Umso willenloser ergaben sie sich dem reaktionären Rückstrom. Die skandinavische Literatur wurde ein fanatischer Schildknappe der Romantik und blieb es selbst dann noch, als die Romantik überall in Europa schon wieder abgewirtschaftet hatte. Noch im Jahre 1848 konnte die „Neue Rheinische Zeitung" mit Recht sagen, dass Dänemark alle seine literarischen wie alle seine materiellen Lebensmittel über Deutschland beziehe, aber dass Deutschland progressiv und revolutionär sei, verglichen mit Dänemark. Den Skandinavismus, die einzige originale Bewegung der skandinavischen Länder, kennzeichnete das revolutionäre Blatt als die Begeisterung für die brutale, schmutzige, seeräuberische, altnordische Nationalität, für jene tiefe Innerlichkeit, die ihre überschwänglichen Gedanken und Gefühle nicht in Worte bringen könne, wohl aber in Taten, nämlich in Rohheit gegen Frauenzimmer, permanente Betrunkenheit und mit tränenreicher Sentimentalität abwechselnde Berserkerwut.1 So scharf diese Ausdrücke waren, so wenig mochten sie übertrieben sein; als zwanzig Jahre später der junge Georg Brandes an der Kopenhagener Universität literarhistorische Vorlesungen hielt, worin er den Standpunkt der bürgerlichen Aufklärungsliteratur vertrat, verfiel er einem allgemeinen Ketzergericht, dessen blutdürstige, wenn auch glücklicherweise ohnmächtige Wildheit an die mittelalterliche Inquisition gemahnte.

Bis tief in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein herrschte in der skandinavischen Literatur die „romantische" Richtung, die feindselige Abwendung vom Leben der Gegenwart, die stete Rückkehr zu den Stoffen einer längst entschwundenen Vorzeit, die Lust an allegorischer Märchendichtung, nicht zuletzt auch ein phantastischer, bis zur weltfeindlichsten Askese ausartender Mystizismus. Mit geringen Ausnahmen trug diese Literatur einen dialektisch-polemischen Zug, der allen modernen Ideen tödliche Feindschaft ansagte, ihren Vormarsch nicht nur als einen Abfall vom christlichen Glauben, sondern auch als eine Auflösung aller gesellschaftlichen und sittlichen Bande denunzierte. Gleichwohl ließen sich die modernen Ideen nicht zurückhalten, als die kapitalistische Produktionsweise in den skandinavischen Ländern siegreich vordrang und die noch so altersgrau-ehrwürdigen Zustände unbarmherzig revolutionierte. Die Revolution der Zustände rief die Revolution in den Köpfen hervor, und nach dem langen Winter wehten die Winde des Frühlings umso frischer.

Die Führung aber in der nun endlich erwachenden Literatur der skandinavischen Länder übernahm Norwegen, dank dem urwüchsigen Kleinbauern- und Kleinbürgertum, das seit mehreren Jahrhunderten die herrschende Klasse der norwegischen Gesellschaft gebildet hatte. Der norwegische Bauer war niemals, wie der dänische und schwedische, leibeigen gewesen, und der norwegische Kleinbürger stammte von freien Bauern ab; Norwegen war das einzige Land, das sich nach dem Siege der europäischen Reaktion bei Waterloo eine demokratische Verfassung bewahrt hatte.2 Freilich hatte diese kleinbürgerliche Welt, die der Entwicklung der großen Industrie, die der Börse und allen sonstigen Hebeln der Kapitalkonzentration keinen Raum bot, auch einen geistig beschränkten Horizont, eben den Horizont eines Kleinbauern- und Kleinbürgertums; allein als nun die moderne Produktionsweise das entlegene Land in ihre Kreise zog, entfesselte sie ein kerngesundes und ungemein kräftiges Element, das im Sturmschritt aus den Tiefen des romantischen Sumpfes auf die Höhen der modernen Gesellschaft zu marschieren verstand und eine letzte Schranke nur darin fand, dass sich sein Pfad von diesen Höhen in die Wolken verlor. Ein modernes Proletariat auf großer Stufenleiter konnte und kann sich bei alledem nicht in Norwegen entwickeln; damit fehlt dem revolutionärsten Dichter der norwegischen Literatur der Schlüssel zu den tiefsten Problemen der Gegenwart, und so sagt Henrik Ibsen: Das Fragen ist meine Sache, Antworten habe ich nicht.

Aber so wie Ibsen seine Fragen zu stellen gewusst hat, ist er ein europäischer Dichter vom ersten Range geworden.

Henrik Ibsen wurde am 20. März 1828 in Skien geboren, einer jener kleinen norwegischen Küstenstädte, in denen sich der salzige Geruch des Meeres mit dem Waldgeruch des Gebirges mischt. Das Städtchen war eine berufene Stätte des Pietismus und zugleich ein Mikrokosmos des modernen Handelsverkehrs, der hier auf denkbar kleinstem Räume schon die grellsten sozialen Kontraste schuf. Wie nach Goethes Wort das Kind des Mannes Vater ist, so hat Ibsen in seiner Vaterstadt unauslöschliche Jugendeindrücke empfangen; die einschneidendsten seiner sozialen Dramen spielen sich in Orten ab, für die Skien als Typus gedient hat.

Ibsen entstammte einer kleinbürgerlichen Familie und besuchte bis zu seinem sechzehnten Lebensjahre die lateinische Schule, um dann als Apothekerlehrling nach dem Städtchen Grimstadt überzusiedeln. Hier lebte er vier oder fünf Jahre und bereitete sich für das Studentenexamen vor, das an der Universität Christiania abgelegt werden musste, um darnach Medizin zu studieren. Ehe es aber so weit war, brachen die Stürme der Februarrevolution aus und ergriffen den zwanzigjährigen Jüngling mächtig. Er richtete feurige Gedichte an die rebellischen Ungarn und forderte in einer langen Reihe von Sonetten den König von Schweden auf, die dänischen Brüder mit den Waffen in der Hand gegen die Deutschen zu unterstützen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, einmal, dass die eiderdänische Partei in Kopenhagen, die zur Einverleibung der Elbherzogtümer drängte, die revolutionäre Partei des kleinen Staates war, und dann, dass Ibsen sich dem reaktionären Prinzip des Skandinavismus durchaus fern hielt, wenn er auch die Unterstützung der stammverwandten Dänen gegen die Deutschen wünschte. Seine nächste Zukunft gehörte dem Emanzipationskampfe, durch den sich die norwegische Literatur aus ihrer gänzlichen Abhängigkeit von der dänischen Literatur zu befreien versuchte.

Neben seiner revolutionären Jugendlyrik hatte er eine revolutionäre Jugendtragödie „Catilina" geschrieben und unter einem Pseudonym drucken lassen. Die Kritik nahm sie überwiegend ungünstig auf, doch ließ sich Ibsen dadurch nicht entmutigen, sondern blieb seinen literarischen Neigungen treu, als er in Christiania das Studentenexamen bestanden und die Universität bezogen hatte. Immerhin war sein Name noch fast unbekannt, als er im Jahre 1852 zum Dramaturgen am „Norwegischen Theater" in Bergen berufen wurde. In dieser Stellung blieb er bis zum Jahre 1857 und dichtete zu jedem neuen Jahre ein neues Drama, wobei er jene sichere Bühnentechnik gewann, die seine späteren Meisterwerke in so hohem Maße auszeichnet. Sonst hat der Dichter selbst die Dramen dieser Zeit fast durchweg verworfen. Sie bewegen sich noch wesentlich in den Bahnen der dänischen Romantik, wie denn der Versuch, eine selbständige norwegische Literatur zu schaffen, aussichtslos sein musste, solange er sich darauf beschränkte, diese Literatur durch eine dialektische Färbung der gleichen Sprache und dergleichen Äußerlichkeiten mehr von der dänischen Literatur zu unterscheiden.

Das Richtige traf erst Björnson, der, ein Studiengenosse Ibsens, als Dramaturg am „Norwegischen Theater" in Christiania angestellt war. Seine Bauernnovellen spiegelten mit erfrischender Wahrheit das norwegische Volksleben wider. Im Jahre 1857 tauschten beide Dichter ihre Plätze, und nun nahm auch Ibsens Genius einen höheren Flug, in Dramen wie den „Kriegern auf Helgeland" und den „Kronprätendenten", die Gestalten voll rauer Größe und Kraft aus der norwegischen Vorzeit dem weichlicheren Geschlechte der Gegenwart vorführten. Dann aber hielt Ibsen diesem Geschlecht in der „Komödie der Liebe" einen Spiegel vor, der den Nachkommen nicht die Tugenden der Vorfahren, sondern die eigene Verkehrtheit zeigte. Er traf damit die herrschende Heuchelei ins Herz und erregte einen Sturm von Unwillen, der den Dichter selbst zu entwurzeln drohte, zumal da in demselben Jahre 1862, wo die „Komödie der Liebe" erschien, das „Norwegische Theater" in Christiania verkrachte. Schon bemühten sich Ibsens Freunde, ihn auf irgendeinem untergeordneten Posten der Bürokratie vor dem Hunger zu schützen, als es noch gelang, ihm ein kleines Reisestipendium von Staats wegen zu verschaffen. Ibsen ging nach Rom, wo er in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre seine mystischen Dichtungen „Brand" und „Peer Gynt" schrieb und das – erst später vollendete – „welthistorische" Schauspiel „Kaiser und Galiläer" begann.

In diesen umfangreichen Schöpfungen sehen viele von Ibsens Verehrern seine genialsten und großartigsten Gedichte, die sie wohl mit Goethes „Faust" vergleichen. Doch sind derartige Urteile nur die Reflexe des Weltruhms, den Ibsen später gewonnen hat; tritt man unbefangen an das heran, was Ibsen in seiner römischen Zeit geschaffen hat, so wird man dem Zweifel zustimmen, den Georg Brandes mit den Worten anregt: „Ist ,Brand' Reaktion oder Revolution? Ich wüsste es nicht zu sagen, so viel hat dies Gedicht von dem einen wie von dem anderen." Ibsen türmt darin Ideale auf, von deren schwindelnder Höhe die Wirklichkeit nur noch wie ein ferner schwarzer Punkt erscheint. Wohl ist revolutionäre Stimmung in diesen Gedichten, und in „Peer Gynt" geißelt der Dichter scharf genug jenes reaktionäre Skandinaventum von großen Worten und kleinen Taten, von überfließender Sentimentalität und hart beschränkter Eigensucht. Allein er selbst ist noch befangen in einer Gärung, aus der sich kein durchsichtig klares Kunstwerk loszuringen vermag. Den Pfad, worauf er unverwelkliche Lorbeeren ernten sollte, betrat Ibsen zuerst im Jahre 1869 mit dem „Bunde der Jugend", einem Lustspiel, das ins volle Menschenleben der norwegischen Gegenwart griff und das politische Strebertum mit harten Streichen traf, aber noch etwas oberflächlich nach der Schablone der französischen Komödie gearbeitet war.

In Norwegen erweckte es dem Dichter neue Feinde, und er kehrte nicht in sein Vaterland zurück. Nach seinem mehrjährigen Aufenthalt in Italien lebte er bald in Dresden, bald in München. Den Krieg von 1870 und den Aufstand der Pariser Kommune begrüßte er mit lebhaften, aber bald enttäuschten Hoffnungen; in dem aus Dresden datierten Ballonbrief, den et schrieb, zerniert von „schweren deutschen Phrasenhelden, die sich prahlend heiser schreien mit der ewigen Wacht am Rhein", sah er mit wundersamer Klarheit in die drohend hereinbrechende Zukunft: „Grad' im Siege liegt der Verlust und das Schwert wird bald zur Rute." Die gefeierten Tagesgötzen verglich er mit den ägyptischen Memnonssäulen, die der Sturm bald mit Schichten von Sand bedecke, während sich doch in diesem Reiche der Waffen die rauen Arbeitslarven nicht zu Schmetterlingen entpuppen könnten. Ibsen war jetzt reif, die moderne bürgerliche Gesellschaft vor sein dichterisches Tribunal zu fordern.

In das sechste Lebensjahrzehnt des Dichters, vom Ende der siebziger bis zum Ende der achtziger Jahre, fallen seine Meisterwerke.

Von ihnen gilt in erster Reihe, was Ibsen einem seiner Biographen gesagt hat: „Alles, was ich gedichtet habe, hängt aufs Genaueste mit dem zusammen, was ich durchgelebt, wenn auch nicht erlebt habe. Jede neue Dichtung hat für mich den Zweck gehabt, als ein geistiger Befreiungs- und Reinigungsprozess zu dienen, denn man steht niemals ganz ohne Mitverantwortlichkeit und Mitschuld in der Gesellschaft, zu der man gehört." Damit ist überaus treffend das Wesen dieser Dramen gekennzeichnet, nach der objektiven wie nach der subjektiven Seite. Der Dichter steht mitten in der Gesellschaft, deren Lebensfunktionen er bis zu ihren leisesten Pulsschlägen nachzuspüren weiß, was ihm unmöglich sein würde, wenn er über ihr stände, wenn er sich wirklich von ihr zu befreien und zu reinigen wüsste.

Es ist seine Größe wie sein Verhängnis. Nichts geht über die Lebenswahrheit der Gestalten, die Ibsen nunmehr auf die Bühne zu stellen weiß; man sieht sie gehen und stehen, man hört sie sprechen, als bewegten sie sich im Leben selbst. Der Dialog ist frei von jeder geistreichen Mache; man möchte fast sagen, er sei trivial. So klingt er wenigstens dem, der sich unbefangen dem Genusse dieser Dichtungen hingibt. Wer dem alten Zauberer genau auf die Hände sieht, wird freilich hierin eine gipfelnde Leistung seiner Kunst entdecken; jedes dieser scheinbar so nachlässig und zufällig hingeworfenen Worte ist wohl erwogen, ist fest vernietet im ganzen Bau des Dramas. Immer aber geht diese meisterhafte Technik ohne Rest in dem dichterischen Vermögen auf, ganz nach dem Lessingschen Worte: Kunst und Natur sei auf der Bühne eines nur; wenn Kunst sich in Natur verwandelt, so hat Natur mit Kunst gehandelt.

Jedoch indem der Dichter in und mit seinen Geschöpfen lebt, kommt er auch nicht über die Schranken ihres Lebens hinaus. Er kann mit ihnen grollen und hadern, aber befreien kann er sie nicht. Hierin liegt die Wurzel von Ibsens viel berufenem Pessimismus. An und für sich ist mit diesem Schlagworte so wenig gesagt wie mit irgendeinem anderen Schlagwort; wirklichen Inhalt und Sinn gewinnt es erst durch seinen sozialen Untergrund. In allen untergehenden Klassen greift der Pessimismus um sich, aber im einzelnen Falle kommt es immer darauf an, welche Klasse und wie sie untergeht. Der Pessimismus des deutschen Spießbürgers Schopenhauer ist ganz etwas anderes als der Pessimismus des norwegischen Kleinbürgers Ibsen; jener duckt sich und duldet, während dieser sich empört und kämpft; eben dieses Kampfelement gibt den Meisterdramen Ibsens eine so mächtige dramatische Spannung. Allein mit dem Siege wird der Kampf niemals gekrönt; Ibsen verkündet die „neue Zeit", aber ihre Pforten vermag er nicht zu sprengen; so verläuft seine dramatische Gesellschaftskritik im Sande.

Gleich in den „Stützen der Gesellschaft", die 1877 erschienen, setzt sich die Tugend zu Tische, nachdem sich das Laster erbrochen hat: der profitwütige Kapitalist bekehrt sich nach allen möglichen gelungenen oder versuchten Schandtaten zu den ehrenfesten Sitten des Kleinbürgertums – mit Worten nämlich. Er verkündet, dass mit dem „heutigen Tage", nämlich mit dem Tage, wo ihm seine Schwindeleien nicht mehr gelingen, eine „neue Zeit" anbrechen, die alte Zeit „mit ihrer Schminke, ihrer Heuchelei und Hohlheit, ihrer verlogenen Wohlanständigkeit und elenden Rücksichtnahme, nur noch als Museum, zu jedermanns Belehrung geöffnet", fortdauern solle. Freiheit und Wahrheit sind die wahren Stützen der Gesellschaft: mit so wohlfeiler Weisheit wird der Hörer entlassen, den eben ein lebensvolles Bild der kapitalistischen Korruption bis ins Innerste ergriffen hat. Dies Bild war lebensvoll genug, um den tiefen Ingrimm der „guten Gesellschaft" zu erregen und den Dichter vor dem Verdacht zu schützen, als habe er mit dem „versöhnenden Schlusse" etwa einen Nebenzweck verfolgt, der seiner durch und durch wahrhaftigen Natur ganz fern lag. Die psychologische Unwahrheit, worin das Gedicht endete, hatte ihre einzige Wurzel in der soziologischen Unklarheit, worin der Dichter lebte und webte.

Ehrlich und kräftig genug aber hat er sie zu überwinden gesucht, wovon gleich seine nächsten Dramen wundervolle Zeugnisse ablegten: „Nora" aus dem Jahre 1879 und die „Gespenster" aus dem Jahre 1881. Hier schleudert Ibsen seine Fackel in das „gemütliche Heim" des Philisters und stellt die innere Verlogenheit der bürgerlichen Kaufehe an den Pranger. Hier verschleiert Ibsen nicht mehr die herbe Wahrheit. Sieht er keinen rettenden Ausweg, so sieht er doch den Bann, worin die bürgerliche Gesellschaft lebt; versteht er noch nicht den Kampf für die unterdrückte Klasse, so versteht er doch schon den Kampf für das unterdrückte Geschlecht. Nora ist die gehätschelte Puppe, die mit dem Leben spielt und nicht viel mehr als eine Puppe vom Leben weiß, bis sie in hartem Zusammenstoß mit diesem Leben seine brutale Rohheit erkennt und entschlossen das ganze Lügengespinst zerreißt, das sie mit seiner entnervenden Weichheit umsponnen hat. Den gleichen Entschluss hat Frau Alving in der entscheidenden Stunde ihres Lebens nicht gefunden; sie hat ihre Ehe nicht zerrissen, als sie erkannte, dass diese Ehe nur eine Lüge war; „ich hatte nicht Mut zu etwas anderem – um meiner selbst willen nicht; ich war so feige". So büßt sie furchtbar, da die Gespenster ihrer Jugend wiederkehren ; sie muss dem einzigen Sohne, der sich in den fürchterlichen, ihm vom siechen Vater vererbten Körperqualen windet, das erlösende Gift reichen. Frau Alving ist die Heldin des erschütternden Dramas, nicht aber der Sohn, an dem sich die Sünden des Vaters rächen. Legt das Vererbungsmotiv immer die Gefahr nahe, durch das angebliche Wirken eines Naturgesetzes die sozialen Zusammenhänge der Dinge zu verdunkeln, so wird es von Ibsen doch ungleich freier behandelt als von seinen geistlosen Nachbetern, die es zur reaktionärsten Fratze entstellen und dabei noch wunder was für Revolutionäre sein wollen.

Nora" und die „Gespenster" werden Ibsens Namen wohl am längsten erhalten; mit dem 1882 veröffentlichten „Volksfeind" steigt er bereits eine Stufe von der Höhe herab. Er antwortet darin auf die heftigen Entrüstungsstürme, die jene beiden Frauentragödien entfesselt haben: sein „Volksfeind" ist der ehrliche Mann, der nicht heuchelt und nicht lügt und sich nicht schrecken lässt, wo es die Wahrheit zu vertreten gilt, aber der ebendeshalb von der „kompakten Majorität" brotlos gemacht und verfemt wird, bis er sich mit der Erkenntnis tröstet, dass der stärkste Mann der Welt derjenige sei, der allein stehe. Reich an treffender Satire, leidet dies Drama doch an seinem Helden, der schließlich bei aller Ehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit ein etwas wunderlicher Kauz ist, mehr ein eigensinniger Querkopf als ein geistiger Vorkämpfer, wie er denn mit der Devise, die er zuletzt verkündet, sich zum Tode durch Hunger verurteilt. Wahr ist auch diese Figur; die bornierte Ehrlichkeit, die sich gegen die Symptome des sozialen Übels erhitzt, ohne doch sein Wesen zu verstehen, fordert in der bürgerlichen Gesellschaft unausgesetzt ihre Opfer, aber tragische Gestalten sind solche Opfer nicht. Sie erregen Mitleid, doch dies Mitleid paart sich nicht mit Furcht, sondern mit ein wenig Heiterkeit und selbst mit ein wenig Verachtung.

Streifte die Lösung des dramatischen Problems im „Volksfeind" hart ans unfreiwillig Komische, so schuf Ibsen im Jahre 1884 in der „Wildente" eine Komödie im höchsten Sinne des Wortes, deren Held Hjalmar Ekdal wohl an Falstaff oder Don Quichotte erinnern darf. Der Kämpfer, der die aus den Fugen geratene Welt mit seiner „idealen Forderung" wieder einrenken will, wird hier zum Narren, der nichts als Unheil anrichtet; ihm gegenüber steht der trockene Zyniker mit seiner praktischen Weisheit: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit sein Glück"; zwischen beiden taumelt Hjalmar Ekdal, das arme Menschenkind, das, nicht besser und nicht schlechter als seinesgleichen zu sein pflegt, sich krampfhaft bemüht, der „idealen Forderung" gerecht zu werden und immer wieder in die alte, bequeme, zur anderen Natur gewordene Lebenslüge zurückfällt. Es war falsch, in dieser Wendung des Dichters eine mildere Stimmung zu sehen; eben jetzt wandte er sich zur Tragödie in ihrer strengsten Form; im Jahre 1886 veröffentlichte er „Rosmersholm", worin beide den gemeinsamen Tod suchen und finden, der schwache Mann, der nicht kämpfen kann und will, wie das dämonische Weib, das ihn vergebens auf ihre steilen Bahnen mit sich zu reißen versucht hat.

Düsterer vielmehr sah dieser Dichter seine Welt an, je mehr sie in den Schatten der Sünden verschwand, die mit der kapitalistischen Sintflut unaufhaltsam über sie hereinbrachen, und je mehr ihm selbst die Last der Jahre die Hoffnung raubte, ein neues Morgenrot dämmern zu sehen. Ungefähr um sein sechzigstes Lebensjahr wandelte sich Ibsens kampffreudiger Pessimismus in einen visionären Pessimismus um. Es kam die Zeit, wo die satten Geldsäcke und ihre literarischen Soldschreiber zu sagen pflegten, dass Ibsen immer verrückter werde; unfähig, wie sie waren, zu begreifen, wie entsetzlich der Verwesungshauch einer untergehenden Gesellschaft auf die tausend feinen Nerven eines großen Dichters fällt.

Ibsens Altersdichtung zählt noch ebenso viele Dramen auf, wie die Zeit seiner Meisterwerke, und mit haarscharfer Bestimmtheit lässt sich die Grenze nicht ziehen. In „Rosmersholm" spielen schon mystische Elemente mit, während in der „Frau vom Meere" und „Hedda Gabler" die dramatische Psychologie noch nicht gänzlich von dem dunklen Walten eines dunklen Schicksals verschlungen wird. Ganz rätselhaft wird Ibsen erst vom „Baumeister Solneß" an. Immerhin, soweit sich eine Grenze ziehen lässt, liegt sie zwischen „Rosmersholm" und der „Frau vom Meere". Von diesem Drama an werden Gedanken und Sprache des Dichters immer runenhafter; „Baumeister Solneß", „Klein Eyolf", „John Gabriel Borkmann" und „Wenn wir Toten erwachen" sind dramatische Rätsel, die jeder lösen kann, wie ihm gefällt, nur dass keiner je den Anspruch erheben darf, sie richtig gelöst zu haben.

In seinem „Dramatischen Epilog", wie Ibsen sein neuestes Drama: Wenn wir Toten erwachen, selbst nennt, lässt er den Helden, einen Künstler, unwirsch klagen, dass die „ganze Welt" an seinen Werken immer verzückt preise, was zu schaffen ihm nie im Sinne gelegen habe; es sei nicht der Mühe wert, sich immer so abzunutzen für den Mob und die Masse. Unschwer ist darin eine Klage des Dichters selbst zu erkennen, und wer möchte leugnen, dass in Kommentaren über seine Alterswerke unmäßig viel geleistet worden ist. Allein der tragische Dichter verfällt selbst einem tragischen Lose, wenn er nur zu erwachen glaubt, um zu erkennen, dass er nie gelebt habe. Ibsen hat gelebt und wird leben, aber freilich nur in den Dichtungen, die das Leben mit genialer Hand zu ergreifen und zu gestalten gewusst haben. Seitdem ihm die gesellschaftliche Entwicklung über den Kopf gewachsen ist, seitdem er das, was ein ökonomischer Prozess verschuldet, den er nicht versteht und nicht verstehen kann, unerforschlichen Gewalten zuschreibt, die den Menschen zum Spielball ihrer Launen machen, seitdem hat er die Fühlung mit dem wirklichen Leben verloren, und alle Spuren des Genius, die seine Alterswerke noch in reicher Fülle aufweisen, werden ihnen nicht die Unsterblichkeit sichern.

Ibsen ist kein Grübler, sondern ein Dichter; in Jammer und Not und Schmerzen mag er die Dramen schaffen, worin er mit unverständlichen Lauten vom Untergang einer Welt raunt, aus deren Bann er sich doch nicht zu lösen vermag, und so erklärt sich wohl seine bittere Ungeduld über die „Verzückungen", womit Unberufene weit mehr als Berufene sich an seinen neuesten Dramen versündigen. Aber sonst hat er keinen Grund, einen bitteren Epilog zu schreiben zu seinem schöpferischen Wirken, das ihn in die gleiche Reihe mit den ersten Dichtern seines Jahrhunderts gestellt und so viel dazu beigetragen hat, auch in der modernen Arbeiterklasse die Freude an der dramatischen Kunst zu erwecken.

Seinem Genius gereicht es bei alledem zum Ruhme, dass der greise Dichter sich nicht einlullen lässt durch das weiche Lager, auf das kleinere Poeten sich behaglich strecken würden. Was ihm die Jugend schuldig blieb, das hat ihm das Alter in Fülle gegeben. Seit zehn Jahren lebt Ibsen in Christiania, mit Orden geschmückt und mit Schätzen beladen, der gefeiertste Dichter seiner Nation und im Glanze eines europäischen Ruhmes. Umspielt von dem schmeichelnden Atem der Mitwelt, sich den prometheischen Trotz zu bewahren, ist die Sache des echten Genies.

2 Mehring verwendet hier Hinweise aus einem Brief Engels' an Paul Ernst vom 5. Juni 1890. Die auf Ibsen und Norwegen bezüglichen Stellen lauten: „Zudem ist mir das, was Sie die nordische Frauenbewegung nennen, total unbekannt; ich selbst kenne nur einige Ibsensche Dramen und weiß absolut nicht, ob und inwieweit Ibsen verantwortlich zu machen ist für die mehr oder weniger hysterischen Lukubrationen [Ergüsse] bürgerlicher und spießbürgerlicher Streberinnen Sie fassen ganz Norwegen und alles, was dort geschieht, zusammen unter die eine Kategorie: Spießbürgertum, und schieben dann diesem norwegischen Spießbürgertum unbedenklich Ihre Anschauung vom deutschen Spießbürgertum unter. Da stellen sich nun zwei Tatsachen quer in den Weg.

Erstens, als in ganz Europa der Sieg über Napoleon sich als Sieg der Reaktion über die Revolution darstellte und nur in ihrem französischen Vaterland die Revolution noch so viel Angst einflößte, um der rückkehrenden Legitimität eine bürgerlich-liberale Verfassung abzunötigen, da fand Norwegen die Gelegenheit, sich eine Verfassung zu erobern, weit demokratischer als irgendeine gleichzeitige in Europa.

Und zweitens hat Norwegen in den letzten 20 Jahren einen literarischen Aufschwung erlebt, wie ihn außer Russland kein andres Land gleichzeitig aufweisen kann. Spießbürger oder nicht, die Leute leisten weit mehr als die andren und prägen ihren Stempel auch andern Literaturen auf, nicht zum mindesten der deutschen. Diese Tatsachen machen es in meinen Augen nötig, das norwegische Spießbürgertum einigermaßen auf seine Besonderheiten zu untersuchen.

Und da werden Sie wahrscheinlich finden, dass ein sehr wesentlicher Unterschied zutage tritt. In Deutschland ist das Spießbürgertum Frucht einer gescheiterten Revolution, einer unterbrochnen, zurückgedrängten Entwicklung, und hat seinen eigentümlichen, abnorm ausgebildeten Charakter der Feigheit, Borniertheit, Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative erhalten durch den Dreißigjährigen Krieg und die ihm folgende Zeit – wo grad fast alle andren großen Völker sich rasch emporschwangen. Dieser Charakter ist ihm geblieben, auch als die historische Bewegung Deutschland wieder ergriff; er war stark genug, sich auch allen andren deutschen Gesellschaftsklassen mehr oder minder als allgemein deutscher Typus aufzudrücken, bis endlich unsre Arbeiterklasse diese engen Schranken durchbrach. Die deutschen Arbeiter sind grade darin am ärgsten ,vaterlandslos', dass sie die spießbürgerliche deutsche Borniertheit total abgeschüttelt haben. Das deutsche Spießbürgertum ist also keine normale historische Phase, sondern eine auf die Spitze getriebene Karikatur, ein Stück Degeneration, gerade wie der polnische Jude die Karikatur der Juden ist. Der englische, französische etc. Kleinbürger steht keineswegs mit dem deutschen auf gleichem Niveau. In Norwegen dagegen ist Kleinbauerntum und Kleinbürgertum mit einer geringen Beimischung von Mittelbürgertum – wie es etwa in England und Frankreich im 17. Jahrhundert bestand – seit mehreren Jahrhunderten der Normalzustand der Gesellschaft. Hier ist nicht die Rede von gewaltsamem Zurückwerfen in veraltete Zustände durch eine gescheiterte große Bewegung und einen Dreißigjährigen Krieg. Das Land ist durch Isolierung und Naturbedingungen zurückgeblieben, aber sein Zustand war vollständig seinen Produktionsbedingungen angemessen und daher normal. Erst ganz neuerdings kommt ein ganz klein wenig große Industrie sporadisch ins Land, aber für den stärksten Hebel der Kapitalkonzentration, die Börse, ist kein Raum, und dann wirkt konservierend gerade die gewaltige Ausdehnung des Seehandels. Denn während überall anders der Dampf die Segelschiffe verdrängt, dehnt Norwegen seine Segelschifffahrt enorm aus und hat, wo nicht die größte, sicher die zweitgrößte Segelflotte der Welt, meist im Besitz kleiner und mittlerer Reeder, wie in England sage um 1720. Aber doch ist damit Bewegung in die alte stockende Existenz gekommen, und diese Bewegung drückt sich wohl auch aus im literarischen Aufschwung.

Der norwegische Bauer war nie leibeigen, und das gibt der ganzen Entwicklung, ähnlich wie in Kastilien, einen ganz andren Hintergrund. Der norwegische Kleinbürger ist der Sohn des freien Bauern und ist unter diesen Umständen ein Mann gegenüber dem verkommnen deutschen Spießer. Und so auch steht die norwegische Kleinbürgerin himmelhoch über der deutschen Spießersgattin. Und was auch die Fehler z. B. der Ibsenschen Dramen sein mögen, sie spiegeln uns eine zwar kleine und mittelbürgerliche, aber von der deutschen himmelweit verschiedne Welt wider, eine Welt, worin die Leute noch Charakter haben und Initiative und selbständig, wenn auch nach auswärtigen Begriffen oft absonderlich, handeln. So etwas ziehe ich vor, gründlich kennenzulernen, ehe ich aburteile …" (Fotokopie des Originals im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, Archiv. – Siehe auch Marx/Engels: Ausgewählte Briefe, S. 498-500.)

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