Franz Mehring 18930122 Ibsens „Baumeister Solneß"

Franz Mehring: Ibsens „Baumeister Solneß"

22. Januar 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 603-607. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 82-88]

Am 19. Januar wurde Ibsens neuestes Schauspiel „Baumeister Solneß" zum ersten Male – nicht nur in Deutschland, sondern überhaupt zum ersten Male – im Lessing-Theater aufgeführt. Die Aufnahme war eine geteilte in dem Premierenpublikum, der absonderlichsten und alles in allem unerquicklichsten Mischung der hiesigen Bourgeoiselemente. Die einen zischten heftig aus Ärger über diesen querköpfigen Poeten, der ihnen da allerhand mystisch-unheimliche Dinge auftischte; die andern klatschten heftig, weil es nun einmal eine „geistreiche" Mode ist, etwas von Ibsen zu bewundern, um so mehr, wenn man es nicht versteht. Am treffendsten spiegelt sich dieser holde Zwiespalt in dem Leibblatte der hiesigen Bourgeoisie wider, der „Vossischen Zeitung", die sich gleich zwei Theaterkritiker hält, um allen geistigen Bedürfnissen ihrer Inserenten zu genügen: einen Verhimmler und einen Herunterreißer von Ibsen. Jener pries den „Baumeister Solneß" als eine geniale, psychologische Studie oder so etwas, dieser verhöhnte ihn als eine ebenso verrückte Schicksalstragödie wie Platens „Verhängnisvolle Gabel". Der geistreiche Mann – es ist derselbe, der jüngst die Schauspieler des Lessing-Theaters schmähte, weil sie vor den Arbeitern der Freien Volksbühne mit Feuer und Hingebung spielen – hält nämlich Platens blutige Satire auf die Schicksalstragödie selbst für eine Schicksalstragödie. Das geht beinahe noch über Julian Schmidt, der den „Schwabenspiegel", das mittelalterliche Rechtsbuch, für eine Sammlung lyrischer Gedichte der schwäbischen Dichterschule ansah, oder über Erich Schmidt, der „Minna von Barnhelm" als eine Verherrlichung des alten Fritz ausposaunt. Aber sie bleiben sich nun einmal immer gleich, die Leibliteraten der Bourgeoisie, ganz so wie Lassalle sie geschildert hat: „zu jeder bürgerlichen Hantierung zu schlecht, zu ignorant zum Elementarschullehrer, zu unfähig und arbeitsscheu zum Postsekretär und ebendeshalb sich berufen glaubend, Literatur und Volksbildung zu treiben".

An unserem Teile halten wir es mit Engels, der einmal über die Dramen von Ibsen sagte: „So etwas ziehe ich vor, gründlich kennenzulernen, ehe ich aburteile."*1 Ibsen ist der letzte große Dramatiker der bürgerlichen Welt, und es hat schon seine guten Gründe, dass er ein Norweger und kein Deutscher ist. Norwegen ist das Land, das sich nach dem Siege der europäischen Reaktion bei Waterloo allein in unserem Weltteile eine demokratische Verfassung zu wahren wusste, dank dem urwüchsigen Kleinbauern- und Kleinbürgertum, das seit mehreren Jahrhunderten die herrschende Klasse der norwegischen Gesellschaft gebildet hatte.

Der norwegische Bauer war nie leibeigen, und das gibt der ganzen Entwicklung, ähnlich wie in Kastilien, einen ganz andren Hintergrund. Der norwegische Kleinbürger ist der Sohn des freien Bauern und ist unter diesen Umständen ein Mann gegenüber dem verkommnen deutschen Spießer."2 So Engels, der damit in treffender Weise den Unterschied bloßlegt zwischen den bürgerlichen Klassen von Deutschland, die ihren eigentümlichen Charakter von Beschränktheit und Feigheit, von Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative durch den Dreißigjährigen Krieg und die ihm folgende Zeit erhalten haben, und den bürgerlichen Klassen von Norwegen, die niemals gewaltsam in überlebte Zustände zurückgeworfen sind und durch Jahrhunderte sich in normalem Zusammenhange mit ihren ökonomischen Produktionsbedingungen auch geistig entwickelt haben. Freilich hatte diese kleinbürgerliche Welt, die der Entwicklung der großen Industrie, die der Börse und allen sonstigen Hebeln der Kapitalkonzentration keinen Raum bot, auch einen geistig beschränkten Horizont, eben den Horizont eines Kleinbauern- und Kleinbürgertums; was darüber hinaus lag an geistigen Anregungen und Interessen, das konnte zunächst nur als künstlich eingeführte Treibhauspflanze gedeihen. Aber je mehr die moderne Produktionsweise auch Norwegen in ihre Kreise zog, umso tiefere Wurzeln schlugen die fremden Reiser in dem noch frischen und jungfräulichen Boden. Dies ist der Grund, weshalb sich in Norwegen und den skandinavischen Ländern überhaupt – daneben auch in Russland, wo unter wesentlich andern tatsächlichen Vorbedingungen sich doch ebenfalls die Bourgeoisie kräftig entwickelt – eine letzte, in ihrer Art klassische Periode der bürgerlichen Literatur entfaltet hat.

Gerade das dichterische Schaffen von Ibsen ist vorbildlich für die Embryologie der norwegischen Literatur. Er hat, unterstützt freilich dadurch, dass er frühzeitig den beschränkenden Verhältnissen seines Heimatlandes entrann und einen großen Teil seines Lebens im Auslande, namentlich in Deutschland, zubrachte, in abgekürztem Verfahren die wechselnden Phasen der bürgerlichen Literatur im neunzehnten Jahrhundert durchlaufen: erst die Romantik, dann den kleinbürgerlichen Radikalismus, endlich all den Hypnotismus, Mystizismus, Spiritismus, in dem die großbürgerliche Gesellschaft von Europa den St. Veitstanz ihrer Auflösung vollzieht. Nur einer dieser Phasen, ihrer widerwärtigsten und namentlich in Deutschland am wildesten aufgewucherten, ist der kräftige und knorrige Poet immer fern geblieben: der Liebedienerei vor dem Despotismus und dem Kapitalismus. Höchst bezeichnend dafür ist das wenig bekannte Gedicht „Ballonbrief", das er im Dezember 1870 aus Dresden in seine skandinavische Heimat sandte. Zerniert von „schweren deutschen Phrasenhelden, die sich prahlend heiser schreien mit der ewigen Wacht am Rhein", lebte Ibsen in trauriger Einsamkeit:


Wenn ich schau' die Hoffnungsminen

Unsrer Zukunft roh gesprengt;

Wenn Verzweiflung mich umfängt

Auf des schönsten Traums Ruinen.


Ein Dichter, ein Seher, sagte er seinem zweiten Vaterlande voraus:


Grad' im Sieg liegt der Verlust

Und das Schwert wird bald zur Rute.


Er spottete bitter der Tagesgötzen, die der Sturm bald mit Schichten von Sand bedecken werde:


Denkt, wie die ägyptischen Götter

Sitzen starr als Memnonssäulen,

Ohne Klang, ein Sitz der Eulen,

Mythenhaftes Ziel der Spötter.


Und abermals ein Dichter, ein Seher, erkannte er, dass sich in diesem Reiche der Waffen die rauen Arbeitslarven nicht zu Schmetterlingen entpuppen würden:


Seide können sie wohl spinnen,

Doch sie sterben auch darinnen.


Die Übersetzung von Passarge, nach der wir zitieren, ist mittelmäßig genug, aber selbst in dieser fadenscheinigen Hülle wiegt der „Ballonbrief" zehnmal die ganze deutsche Kriegspoesie des Jahres 1870 auf.

Wir können uns hier nicht ausführlicher bei der ersten, romantischen Periode Ibsens aufhalten, als sein mächtig gärendes Talent noch wesentlich unter fremdem, nicht zuletzt auch deutschem Einflusse stand, bei seinen mittelalterlichen Historien und den faustisch-mystischen Dichtungen „Brand" und „Peer Gynt". Sie sind auch schon, ebenso wie die Dramen von Ibsens zweiter, bürgerlich-radikaler Periode, im Jahrgang 1885 der „Neuen Zeit" ausführlich besprochen. Aber über diese zweite Periode müssen wir wegen ihres engen Zusammenhanges mit der dritten, die im „Baumeister Solneß" gipfelt, noch einige Worte sagen. „Nora", die „Stützen der Gesellschaft", der „Volksfeind", auch noch die „Gespenster" sind die dramatischen Meisterwerke, die Ibsens Namen am längsten erhalten werden. Hier steht er ganz auf seinem mütterlichen Boden; er ist der geniale Sprecher eines alten, kernigen, kräftigen Kleinbürgertums, das seine Herde mannhaft, aber hoffnungslos gegen das mit kapitalistischer Wucht hereinbrechende Mittel- und Großbürgertum verteidigt. Es ist wenig oder nichts damit gesagt, wenn man diese Dramen wegen ihres Pessimismus preist oder verurteilt. So ein ideologisches Schlagwort gewinnt erst wirklichen Inhalt und Sinn, wenn man den sozialen Untergrund prüft, den es im gegebenen Falle hat. In allen untergehenden Klassen greift der Pessimismus mehr oder weniger um sich, aber im einzelnen Falle kommt es immer darauf an, welche Klasse und wie sie untergeht. Der Pessimismus des deutschen Spießbürgers Schopenhauer ist ganz etwas anderes als der Pessimismus des norwegischen Kleinbürgers Ibsen. Bei all seiner Größe ist Ibsen ein bürgerlicher Dichter; er sieht und kann keine Rettung sehen vor dem Untergange seiner Klasse, insofern ist er Pessimist und muss Pessimist sein; der herbe Ausgang seiner „Nora" ist viel wahrer als der versöhnende Schluss der sonst so vortrefflichen „Stützen der Gesellschaft", wo der profitwütige Kapitalist nach allen möglichen gelungenen und versuchten Schandtaten zu den ehrenfesten Sitten des Kleinbürgertums zurückkehrt – mit Worten nämlich. Der norwegische Kleinbürger empört sich und kämpft, während der deutsche Spießbürger sich duckt und duldet. Dieses Kampfelement gibt den Werken von Ibsens zweiter Periode eine so mächtige dramatische Spannung. Mit wie sicher treffendem Hasse geißelt er die alles vergiftende Lüge, die im Gefolge der Bourgeoisie heranzieht, das feile Strebertum in der Politik, die Entwürdigung der bürgerlichen Ehe, wie wenig schont er seine eigene Klasse, wo sie sich von dem hereinbrechenden Goldstrome blenden lässt und in kurzsichtiger Verblendung in ihn untertaucht. Aber wie weiß er auch die im Untergange noch kämpfenden Elemente seiner Klasse mit sicherer Hand zu packen und zu gestalten! Welche Prachtweiber seine Lona und Nora, welch Prachtkerl sein „Volksfeind" Stockmann! Und wo Ibsen selbst in den Illusionen seiner Klasse befangen ist, wo er, wie in den „Gespenstern", sich den sozialen Zusammenhang der Dinge nach kleinbürgerlicher Art durch ein angebliches Naturgesetz verschleiert, da schöpft er das Vererbungsmotiv ungleich freier und gründlicher aus als seine deutschen Nachahmer, die es zur reaktionärsten Schrulle entseelen und sich dabei noch wunder was für Revolutionäre dünken.

Die „Gespenster" leiten in die dritte Periode Ibsens über, die durch „Rosmersholm", die „Frau vom Meere", „Hedda Gabler" und namentlich „Baumeister Solneß" gekennzeichnet wird. Der Boden des Kleinbürgertums verschwindet unaufhaltsam, und eine Flut von Sünden bricht immer unwiderstehlicher mit der kapitalistischen Sintflut herein. Ibsen ist ein bürgerlicher Dichter, und über den Bannkreis der bürgerlichen Gesellschaft kann er nicht hinaus; was ein ökonomischer Prozess verschuldet, den er nicht versteht und nicht verstehen kann, das schiebt er dunklen und unerforschlichen Gewalten zu, die den Menschen zum Spielball ihrer Launen machen. So wandelt sich Ibsens kampffreudiger Pessimismus in einen visionären um. Ibsen wird immer „verrückter", sagen die satten Geldsäcke und ihre literarischen Soldschreiber, die wenig ahnen, wie entsetzlich der Verwesungshauch einer untergehenden Gesellschaft auf die tausend feinen Nerven eines großen Dichters fällt. In dieser dritten Periode seines Schaffens ist Ibsen weit mehr ein europäischer als ein norwegischer Poet; er wird vermutlich mehr gelesen in England, Frankreich und namentlich in Deutschland als in seiner skandinavischen Heimat, wo das Kleinbürgertum noch am wenigsten untergraben ist. Wer schon in den drückenden Kerker des Kapitalismus eingesponnen ist, aber ihm entweder nicht entfliehen kann oder nicht entfliehen mag, der sucht in dem Ibsen der dritten Periode seinen Tröster.

In Deutschland hat man diesen Ibsen oft mit Nietzsche verglichen. Ja, einige verkannte und deshalb sehr verdrießliche Genies aus Gründeutschland haben aus Ibsen und Nietzsche einen Wunderbalsam zusammengebraut, den sie obendrein noch als unfehlbaren Sozialistentod feilbieten, als „reines Mittel" gegen die „Herdentiere" usw. Und insofern mag zwischen Ibsen und Nietzsche eine gewisse Ähnlichkeit bestehen, als beide an der Fäulnis der bürgerlichen Gesellschaft erkrankt sind und in vierdimensionalen Regionen verzweifelt nach allerlei neuem und wunderbarem Gemenschel suchen. Aber es besteht auch ein kleiner Unterschied zwischen Nietzsche und Ibsen. Nietzsche ist ein wildgewordener Stubenhocker, Ibsen ein genialer Poet, der fest in seinen Bauernschuhen steht und sich mancherlei Wind hat um die Nase wehen lassen. Nietzsche träumt von „freien, sehr freien Geistern", die, jenseits von Gut und Böse, die Masse ihrer Mitmenschen ausbeuten und unterdrücken, schinden und verstümmeln und dazu sprechen: das ist die Gerechtigkeit selbst; Ibsen dagegen zeigt uns, dass diese Kraftmeier des Kapitalismus tatsächlich brutale und feige Lümmel sind, boshafte Geschäfts- und Haustyrannen, die alle von ihnen ökonomisch abhängigen Menschen mit den plumpsten Mitteln niederhalten, schielende Neidhammel, die den Kampf mit jeder wirklichen Kraft wie die Pest scheuen, unfähige Großmäuler, die im günstigsten Falle einmal einen hysterischen Backfisch hypnotisieren, und wenn sie von diesem Opfer nun bis aufs Blut gequält werden, eine kindische Großtat zu vollbringen und ein von ihren Arbeitern erbautes Turmgerüst hinaufzuklettern, mit Hängen und Würgen das entsetzliche Wagnis versuchen, aber nun auch den Hals brechen bei einem Beginnen, das für jeden der von ihnen ausgebeuteten Proletarier zur täglichen Beschäftigung gehört. Mit Nietzsche im Leibe kann man bismärckischer Pack- und Pressknecht werden; Ibsen aber bleibt auch in seinen Visionen ein Mann und schildert das ekle Zerrbild kapitalistischer Übermenschheit im – „Baumeister Solneß".

Damit wären wir bei Ibsens neuestem Schauspiele endlich angelangt, aber nun wüssten wir auch nicht, was noch viel darüber zu sagen wäre. Mag die bürgerliche Kritik an dem rätselhaften Baumeister herumrätseln, sie versteht ihn nicht und darf ihn auch gar nicht verstehen; wehe dem Unglücklichen, der es zufällig verstände und dies Geheimnis nicht in seines Herzens innersten Schrein verschlösse! Für uns darf es genügen, die Stellung zu untersuchen, die Ibsens neuestes Schauspiel in dem sozialpsychologischen Entwicklungsgange des Dichters einnimmt. Dann gibt es kein Rätsel mehr oder vielmehr: es hat nie eins gegeben.

Die Darstellung des Schauspiels im Lessing-Theater war im Ganzen und Großen gelungen. Was ein Meister der realistischen Schauspielkunst aus einem visionären Übermenschen, der im Grunde ein ganz kleines Schufterle ist, nur immer machen kann, das machte Emanuel Reicher aus dem Baumeister Solneß. Vortrefflich war der erste Akt; in einer Reihe fesselnder Szenen enthüllte sich der angebliche Titan als boshafter Peiniger der in Geschäft und Haus von ihm abhängigen Menschen. Aber der zweite und dritte Akt, in denen ein verrücktes Frauenzimmer den Schwindler, der am Schwindel leidet, nach langem Sträuben auf das Baugerüst des von seinen Arbeitern erbauten Turmes hinauf schwatzt, ermüdeten auf die Dauer. So viel irres Gerede um das bisschen Kletterei! Dazwischen läuft dann noch manch schönes und tiefes Wort unter; auch fehlt es nicht an ansprechenden Strichen feiner Seelenmalerei, aber die fieberhaften Phantasien gehen weit über das Maß hinaus, das die Bühne verträgt. Wir überlassen abermals der bürgerlichen Kritik, zu untersuchen, ob ein symbolischer Sinn in diese Phantasien hineingeheimnisst worden sein soll. Ibsen ist kein Grübler, sondern ein Dichter; er hat sein neuestes Drama, in Jammer und Not und Schmerzen geboren; er raunt und stammelt mit dunkeln Lauten vom Untergange einer Welt, die er nur noch hassen, aber doch nicht lassen kann. Von diesem Trauerspiel im Schauspiele merkte das Premierenpublikum der Bourgeoisie freilich nichts. Das klatschte und zischte und verbiss sich mit der Cliquenwut der Blauen und Grünen im Zirkus von Byzanz, derweil sich das Hirn seines letzten großen Poeten in düsterem Brande verzehrte.

* Siehe den „Vorwärts" vom 5. Oktober 1890.

1 Brief Engels' an Paul Ernst vom 5. Juni 1890.

2 a.a.O.

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