Franz Mehring 18970130 Ibsens „John Gabriel“

Franz Mehring: Ibsens „John Gabriel“

30. Januar 1897

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 627-629. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 94-97]

Das neueste Drama Ibsens, das gestern im Deutschen Theater aufgeführt wurde, hat abermals die Schleusen geöffnet, aus denen sich die Ibsen-Kommentare ergießen. Es ist nicht meine Absicht, diese Kommentare um noch einen zu vermehren. Sie laufen immer darauf hinaus, die mehr oder auch minder geistreichen Ansichten der Kommentatoren in das Werk des Dichters hineinzulegen. Einer, der auch etwas von der Sache verstand, hat die goldene Regel aufgestellt: Wer den Dichter will verstehen, muss in Dichters Lande gehen, und es ist weit fruchtbarer, zu untersuchen, woher das mystische Dunkel in Ibsens Werken stammt, als zu probieren, ob sich dies Dunkel nicht durch den Scharfsinn des Kritikers aufhellen lässt.

Im letzten Grunde rührt es daher, dass Ibsen, der ehedem so fest in seinen kleinbürgerlich-demokratischen Schuhen stand, sich in der großkapitalistischen Welt nicht mehr zurechtzufinden weiß. Und es ist der entschiedene Vorzug seines neuesten Dramas, dass er hier der Lösung eines für ihn unlösbaren Problems doch näher kommt als im „Baumeister Solneß" und in „Klein Eyolf". In John Gabriel Borkmann idealisiert der Dichter den großen Kapitalisten und schafft eine Figur, die an seine alte Gestaltungskraft erinnert, die zwar nicht vom Blute des Lebens getrunken hat, aber in ihrer Art aus einem Gusse ist. John Gabriel verkörpert den Napoleon der großen Finanz und Industrie: jedoch nicht mit jener mitleidslosen Härte und Schroffheit, die ihn in seiner brutalen Wirklichkeit zeigt, sondern mit einem Zusatze faustischer Stimmung, die den Rothschild und Stumm etwa so nahe liegt wie einem Botokuden die Schönheit der Sixtinischen Madonna. John Gabriel, den das Land wie einen König nur mit seinem Vornamen nennt, liebt die Macht; die gefesselten Millionen in den Tiefen der Berge rufen nach ihm und schreien um ihre Befreiung; er allein hört sie und will sie lösen, um Menschenglück zu schaffen weit, weit um sich herum. Des Goldes schlummernde Geister wollte er wecken, wie die Geliebte seiner Jugend sagt, die er seinen grandiosen Träumen geopfert hat. Käme man dem Könige Stumm mit solchen Phantasien, er würde so ehrlich wie der an die Pflichten der Menschlichkeit gemahnte Wucherer Itzig in Freytags Roman antworten: Das verstehe ich nicht.

Ibsen denkt sich den modernen Finanz- und Industriekönig noch so, wie sich die bürgerliche Opposition in den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise den absoluten Herrscher dachte: als den großen Egoisten, der alle Schätze an sich rafft, aber nur, um sie mit vollen Händen wieder aus seiner überlegenen Einsicht gerecht zu verteilen, der titanisch in Gottes Handwerk greift und deshalb als Mensch sein Spiel verliert. Jene idealistische Auffassung, die den alternden König Philipp von Spanien die Vorsehung um einen Menschen anflehen ließ oder dem alternden König Friedrich von Preußen den Stoßseufzer andichtete, er sei es müde, über Sklaven zu herrschen, hat auch den John Gabriel geschaffen. Er sagt: „Niemand habe ich gehabt, der wachsam genug, der immer bereit gewesen wäre, mich zu rufen, mir zu läuten wie eine Morgenglocke, mich aufzumuntern zu neuer mutiger Arbeit", und als im Angesicht des nahenden Todes seine ehrgeizigen Träume noch einmal aufflammen, tötet ihn die Geliebte seiner Jugend mit dem Worte, das ihn wie eine eiskalte Erzhand packt, er werde niemals den Siegeseinzug halten in sein kaltes dunkles Reich.

Es entspricht ganz dieser bürgerlich-idealistischen Auffassung des Dichters, dass er seinen modernen Finanzkönig an der bürgerlich-idealistischen Moral umkommen lässt, einer Moral, die in der rauen Wirklichkeit nicht einmal die Träume der Finanzkönige beunruhigt, geschweige denn ihnen im Wachen ein Haar krümmt. Aus dem Verrate, den John Gabriel an seiner Geliebten begangen hat, erwächst der Verrat, der seine allzu kühnen Spekulationen den Gerichten denunziert. Er büßt im Zuchthause, und nach seiner Freilassung empfängt ihn all das Familienelend, das aus zertrümmerten Existenzen der bürgerlichen Welt aufzuwuchern pflegt, wie Unkraut aus Ruinen. Sein Weib hasst ihn und kann nicht einmal seinen Anblick ertragen; acht Jahre schleppt er sich wie „ein kranker Wolf" in einem Saale des gemeinsamen Wohnhauses, das sie der Großmut seiner Jugendgeliebten verdanken, die zugleich ihre Zwillingsschwester ist; John Gabriel hat in seiner furchtbaren Einsamkeit nichts, was ihn aufrechterhält, als die alten Illusionen seines Herrschertums und die Unterhaltungen eines närrischen Kumpans, der sich einbildet, ein großer Dichter zu sein, der John Gabriels Illusionen nährt wie John Gabriel die seinen. Der einzige Sohn des Ehepaars wächst unter der Obhut der Mutter auf, die ihn zu der Mission erziehen will, die Schmach des Hauses Borkmann zu sühnen, durch ein Leben voller Reinheit und Hoheit und lichten Glanzes den Namen John Gabriel aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen, während der junge Bengel sehr entschieden erklärt, er sei kein Missionär, er wolle nicht arbeiten, sondern leben, leben, leben. In dieses graue Elend tritt dann, halb Rächerin, halb Retterin, die Jugendgeliebte John Gabriels, und sie heischt den Jungen für sich, um ihre letzten Lebenstage zu erheitern. Der Kampf um dies Früchtchen findet sein Ende darin, dass der junge Borkmann mit einer dreißigjährigen Kokette durchgeht, der alte Borkmann aus seinen Illusionen erwacht, um zu sterben, und die Zwillingsschwestern, „zwei Schatten über einem Toten", sich versöhnend die Hände reichen.

Für jeden, der das großkapitalistische Zeitalter begriffen hat, ist es klar, dass moderne Finanzkönige weder so leben noch so sterben wie John Gabriel. Insofern ist Ibsens neuestes Drama durch und durch unwahr. Aber es ist nur objektiv unwahr, und was ihm einen großen Reiz verleiht, das ist die subjektive Wahrhaftigkeit, womit ein großer Dichter um das Verständnis eines großen Problems ringt. Ibsen rückt in diesem Drama trotz alledem der Wirklichkeit viel näher auf den Leib als im „Baumeister Solneß" und in „Klein Eyolf", und deshalb macht es einen umso tieferen Eindruck. Das Gebrechen des Stückes sind seine unmöglichen Voraussetzungen. Nimmt man aber einmal diese Voraussetzungen als gegeben an, so muss man der dramatischen Kunst des Dichters alles Lob spenden. Namentlich der zweite Akt, der den „kranken Wolf" in seiner einsamen Höhle zeigt, ist von einer starken Wirkung. Die folgerechte Entwicklung der Charaktere aus ihrer sei es auch falschen Anlage heraus, die straffe Führung der Handlung, der schlichte, aber gerade in seiner Schlichtheit so mächtig packende Dialog zeigen den alten Löwen auf seinem alten Pfade. Die „Modernen", die nicht übel geneigt sind, Ibsen zum alten Eisen zu werfen, sollten sich lieber überlegen, wie viel sie noch von ihm zu lernen haben. Sie sollten da anknüpfen, wo Ibsen aufhört, dann könnten sie zu etwas Rechtem kommen, wenigstens viel eher als in den Dünsten ihres eigenen Größenwahns, in denen sie hilflos umhertappen.

Fast unwillkürlich drängt sich ein Vergleich zwischen Ibsens „John Gabriel Borkmann" und Hauptmanns „Versunkener Glocke" auf, die einige Wochen vorher auf denselben Brettern zum ersten Male erschien und heute noch das Entzücken des Bourgeoispublikums bildet. Die Freunde Hauptmanns haben inzwischen die begriffsstutzige Welt belehrt, dass er in sein Märchendrama allerlei persönliches Leid hineingeheimnisst habe, namentlich den Schmerz über den Misserfolg seines „Florian Geyer". Was damit zur Ehrenrettung der „Versunkenen Glocke" geleistet sein soll, ist nun freilich nicht abzusehen. In der alten, guten Zeit, wo die Kunst zwar nicht „modern" war, aber dafür den auch nicht zu unterschätzenden Vorzug besaß, Knochen im Leibe zu haben, pflegten junge Dichter ihre Niederlage durch neue Erfolge auszuwetzen; hätte damals ein dreißigjähriger Poet seinen Seelenschmerz über einen verdienten oder unverdienten Misserfolg in fünf Akten schön gedrechselter Verse ausgestöhnt, so würde er nicht als tiefsinniger Genius angestaunt, sondern einfach ausgelacht worden sein.

Die Mystik Ibsens ist grundverschieden von der Mystik Hauptmanns. Sie entspricht nicht einer persönlichen Kränkung, sondern dem hoffnungslosen Ringen eines großen, aber greisen Dichters mit den Problemen einer großen, aber jungen Zeit. Was der Siebzigjährige nicht mehr vollbringen kann, das sollten eben die Dreißigjährigen vollbringen. Die Menschheit ist immer größer als der einzelne Mensch, und in aller Literaturgeschichte kehrt die Erfahrung wieder, dass geniale Dichter, die ihre Zeit gehabt haben, sich in ihrem Alter eine neue Zeit nur in symbolischer Mystik zurechtlegen können. Aber eine neue Kunst, die mit jenem „Hineingeheimnissen" begönne, womit jede echte Kunst bisher geendet hat, wäre „modern" nur in dem unerfreulichen Sinne, dass sie niemals zu einer klassischen Kunst werden kann.

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