Franz Mehring 18941100 Ibsens „Stützen der Gesellschaft"

Franz Mehring: Ibsens „Stützen der Gesellschaft"

November 1894

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 3, S. 3-12. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 75-81]

In den beiden ersten Spieljahren der Freien Volksbühne ist Ibsen etwas bevorzugt worden: dies war der Grund, weshalb der Ausschuss in den beiden letzten Spieljahren von dem in mancher Beziehung hervorragendsten Dramatiker der Gegenwart ganz absehen zu sollen geglaubt hat. Um so mehr, als die neueren Dramen Ibsens, „Hedda Gabler", „Baumeister Solneß" und andere, für ein Arbeiterpublikum geringes Interesse haben. Sie bieten verzwickte psychologische Probleme, in denen sich der Hypnotismus, Mystizismus, Somnambulismus der verfaulenden Bourgeoisie lebendig widerspiegelt. Ibsen ist ein genialer, aber bei alledem ein bürgerlicher Dichter. Er kann über den Bannkreis der bürgerlichen Welt nicht hinaus. Was ein ökonomischer Prozess verschuldet, den er nicht versteht, das schreibt er dunklen und unerforschlichen Gewalten zu, die den Menschen zum Spielball ihrer Launen machen. Ibsen wird immer „verrückter", sagen die satten Geldsäcke und ihre literarischen Soldschreiber, die wenig ahnen, wie entsetzlich der Verwesungshauch einer untergehenden Gesellschaft auf die tausend feinen Nerven eines großen Dichters fällt. Dagegen wer in den drückenden Kerker des Kapitalismus eingesponnen ist und in qualvoller Hilflosigkeit an den eisernen Gittern rüttelt, die er nicht brechen kann oder nicht brechen will, der findet in dem Ibsen der neuesten Periode seinen Tröster.

In dieser Lage ist die Arbeiterklasse nicht. Sie kann und will sich von der bürgerlichen Gesellschaft befreien. Sie wird die neueren Dramen Ibsens nicht für „verrückt" erklären, sondern recht gut verstehen als Angst- und Schmerzensschreie, die aus dem Schoße einer rettungslos verlorenen Welt erschallen. Aber mit diesem Ibsen kann sie nicht mitdenken und mitfühlen. Ihr wird der frühere Ibsen viel näher stehen, der kernige, kräftige, norwegische Kleinbürger, dessen kampffreudiger Trotz gegen die Korruption der kapitalistischen Gesellschaft noch nicht durch visionären Pessimismus gebrochen war. Und unter den Dramen aus dieser Zeit Ibsens stehen die „Stützen der Gesellschaft" in erster Reihe. Mit ihnen wurde vor vier Jahren die Freie Volksbühne eröffnet. Die Mitgliederzahl unseres Vereins hat sich seitdem mindestens verfünffacht; der großen Mehrzahl unserer Mitglieder ist das Stück fremd, und auch die verhältnismäßig Wenigen, die es damals gesehen haben, werden sich freuen, es in einer ungleich besseren Ausstattung und Darstellung wiederzusehen. Ibsen gehört zu den Dramatikern, zu denen man immer wieder gern zurückkehrt; seine Kunst schöpft sich so leicht nicht aus.

Die „Stützen der Gesellschaft" verraten schon in ihrem Titel ihre kämpfende Tendenz. Sie zeigen in einem anschaulichen Bilde die morsche Hohlheit der Stützen, auf denen die bürgerliche Gesellschaft beruht. In einer norwegischen Küstenstadt lebt der Konsul Richard Bernick. Er ist der reichste und mächtigste Mann der Stadt. Seine Werft ist die größte, sein Verhältnis zu seinen Arbeitern das Beste, sein Familienleben das glücklichste. Die Stadt ist stolz auf ihren ersten Bürger, der durch eine Reihe gemeinnütziger Schöpfungen sein warmes Interesse für sie betätigt hat. Seine Stimme gibt in allen kaufmännischen und städtischen Angelegenheiten den Ausschlag; was er nicht anfasst oder zum mindesten unterstützt, das hat keine Aussicht. Allgemein rühmt man seine Religiosität, seinen humanen Sinn, seine Moralität. Sein Haus ist der Mittelpunkt aller wohltätigen Bestrebungen. Und in das friedliche, glückliche Familienleben dieses Mannes treten plötzlich, in einem Augenblick, in dem er all des Ansehens bedarf, dessen er in der Stadt genießt, um eine sehr gewagte und zweideutige Spekulation zu glücklichem Ende zu führen, zwei Personen, die wohl geeignet sind, das anscheinend so solide und dabei doch auf so schwankem Grunde ruhende Gebäude seines Glücks niederzureißen. Denn die Voraussetzungen, auf denen das Ansehen und das Glück Bernicks beruht, sind feige, schmähliche Lügen.

Als er vor fünfzehn Jahren nach einem längeren Aufenthalte im Auslande in die Heimat zurückkehrte, weil die Zeiten kritisch geworden waren und seine verwitwete Mutter, die an der Spitze des Geschäftes stand, sich dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlte, fand er zu seinem Schrecken das alte angesehene Handelshaus dem Ruin nahe. Er war der einzige Sohn und fest entschlossen, alles daranzusetzen, um den Bankrott abzuwenden. Er hatte sich vor seiner Abreise nach dem Auslande heimlich mit einem Mädchen verlobt, das ihn liebte und deren kühner, energischer Geist ihn anzog. Nun ließ er sie ohne Bedenken fallen, um sich dafür mit ihrer Halbschwester Betty Tönnesen zu verloben, die, jung, schön, reich, seinen Liebesbeteuerungen um so eher Glauben schenkte, als sie ebenso wenig wie sonst jemand um sein bisheriges Verhältnis zu ihrer Halbschwester Lona Hessel wusste. Richard hatte aber unmittelbar nach seiner Rückkehr zugleich ein Liebesverhältnis mit einer jungen verführerischen Schauspielerin angeknüpft und war von dem Gatten der schönen Frau Dorff eines Abends überrascht worden, so dass nur ein Sprung aus dem Fenster ihn vor dem Erkanntwerden rettete. Die Sache erregte in der Stadt einen ungeheuren Skandal, und Bernick veranlasste seinen Freund Johann Tönnesen, den jüngeren Bruder seiner Braut, die Schuld auf sich zu nehmen. Er gab ihm die Mittel, nach Amerika zu gehen. Der junge Bursche, der in dem Geschäfte seines Freundes und Schwagers tätig und nicht wenig stolz war auf die Freundschaft des Älteren und Weltkundigen, gab sich in seiner jugendlichen Unerfahrenheit zu diesem Betruge her. Seine Schwester Betty war durch eine ihr zugefallene Erbschaft reich geworden, er selbst war ein armer Teufel und sehnte sich hinaus in die Welt. Was lag ihm daran, dass er ein so schlimmes Andenken in der Stadt zurückließ, die er nie wiederzusehen gedachte? Seine Halbschwester Lona, die verlassene Braut Richard Bernicks, begleitete ihn nach Amerika. Sie war ein kühner, selbständiger Charakter; man schalt sie überhaupt überspannt und verspottete sie, da sie zu denken wagte und kein Hehl daraus machte. Auch sie hinterließ kein gutes Andenken in ihrer Heimat. Als Bernick sich mit ihrer Schwester Betty verlobt hatte und mit dieser am Arm zu ihrer Tante kam, um ihr die Verlobung mitzuteilen, stand Lona auf und gab dem glücklichen Bräutigam eine Ohrfeige. Dann packte sie ihren Koffer und ging mit ihrem Bruder Johann in die neue Welt. Dort führten die beiden ein mühseliges Dasein, voller Arbeit und Kampf um das nackte Leben. Aber es gelang ihnen, sich durchzuschlagen, und nun, nach fünfzehn Jahren, kehren sie für kurze Zeit in die alte Heimat zurück; er, weil er glaubt, dass sie an Heimweh leide, sie, weil sie empfindet, dass die alte Halbschwester ihm nicht mehr genügen könne und weil sie hofft, dass ihr „lieber Junge" in Europa eine Frau finden werde.

Richard Bernick hat während dieser langen Zeit nichts zur Rechtfertigung seines Freundes getan. Weder seine Frau noch seine Schwester, die in seinem Hause lebt und den Verschollenen einst geliebt hat, kennen den wahren Sachverhalt. In ihren Augen ist Richard der Mann der strengen Grundsätze von unantastbarer Moralität, Johann der verlorene Sohn. Bernick hat im Gegenteil aus Johanns Flucht noch weitere Vorteile zu ziehen gesucht. Als nämlich gleichzeitig mit Johanns Verschwinden in der Stadt bekannt wurde, dass es dem Hause Bernick sehr schwer werde, seinen Verpflichtungen nachzukommen, brachte man allenthalben diese beiden Tatsachen in Verbindung. Johann sei nicht mit leeren Händen gegangen, hieß es; er habe die Geschäftskasse um bedeutende Summen bestohlen. Bernick widersprach diesem Gerüchte nicht. Ihm galt es vor allen Dingen, jeden Zweifel an der Solidität seines Hauses zu zerstreuen, und so griff er nach diesem Gerüchte, wie der Schiffbrüchige nach der Planke. Es tat auch vollkommen seine Schuldigkeit. Die Gläubiger geduldeten sich, da es hieß, ein unglücklicher Zufall trage die Schuld an der augenblicklichen Zahlungsunfähigkeit des Hauses und mit der Zeit werde jeder zu dem seinen kommen. So rettete dieses Gerücht das Haus vor dem Bankrott und machte Bernick zu dem Manne, der er nun ist. Um das Schicksal des unschuldig Verleumdeten machte sich Bernick keine unnötigen Gedanken. Er ist ja der erste Mann der Stadt, er ist inzwischen Konsul geworden und gilt seinen Mitbürgern als der Vertreter echten Bürgertums. Seine strenge Rechtschaffenheit ist so bekannt, dass er tun kann, was kein anderer wagen dürfte, ohne den Verdacht strafbaren Eigennutzes auf sich zu lenken.

Vor einem Jahre etwa war der Plan einer neuen Eisenbahn aufgetaucht. Da es eine Küstenlinie werden sollte und diese der Dampfschifffahrt, an der Bernick interessiert war, sehr geschadet hätte, so bot er im Verein mit anderen Interessenten alles auf, um den Plan scheitern zu lassen. Natürlich verrieten die Biedermänner nicht den wahren Grund ihrer Abneigung gegen die Eisenbahn. Sie sagten, die Bahn würde wesentliche Interessen der Stadt schädigen; sie würde nur einer kleinen Gesellschaft nützen; sie würde die paradiesische Reinheit und Unschuld der Sitten in der Stadt vernichten. So wurde die Küstenlinie verworfen und eine Binnenlinie für die Eisenbahn gewählt. Nun war sich Bernick aber klar darüber, dass eine Eisenbahn den Wohlstand der Stadt sehr heben würde. Und nachdem er sich vergewissert hatte, ob eine Zweigbahn nach der Stadt angelegt werden könne, kaufte er heimlich um billigen Preis das Terrain auf, durch das sie geführt werden musste, und will nun seine ganze Kraft einsetzen, um seine Mitbürger für die Anlage der Zweigbahn zu gewinnen. Er hat sein ganzes Vermögen daran gewagt. Wird die Zweigbahn gebaut, so ist er Millionär; wird sie nicht gebaut, so ist er ruiniert. Einige angesehene Kaufleute hat er in das Geheimnis gezogen, und diese Ehrenmänner haben ihm für den fünften Teil des Gewinns ihre Unterstützung versprochen. Aus diesen Gründen bedarf Bernick jetzt mehr als je seines ganzen Ansehens; er muss jeden Argwohn gegen seine persönliche Uneigennützigkeit zerstreuen. Und gerade in diesem Augenblicke treten jene beiden auf, die ihn mit einem Worte vernichten können.

Lona Hessel will dies Wort allerdings nicht selbst sprechen, aber sie will Bernick veranlassen, aus freien Stücken seine Schuld zu bekennen. Sie will, dass der Mann, den sie in ihrer Jugend geliebt hat, sich von der Lüge befreie, die sein Leben durchdringt. Johann aber liebt Dina Dorff, die Tochter jener Schauspielerin, um derentwillen er in die weite Welt gegangen war, und um sie zu seinem Weibe machen zu können, will er, dass endlich die Wahrheit bekannt werde. Er ist empört über Bernicks feigen Verrat und verschmäht jede Rücksicht auf den früheren Freund. Noch einmal will er auf der „Gazelle", einem amerikanischen Schiffe, das auf der Werft des Konsuls ausgebessert wird, nach Amerika reisen, um seine dortigen Angelegenheiten zu ordnen, und nach seiner Rückkehr will er dann mit seiner Frau an dem Orte leben, wo er so schmählich verleumdet worden war.

Eine entsetzliche Versuchung tritt an Bernick heran. Die „Gazelle" ist nur notdürftig ausgebessert worden. Der „humane" Konsul, der immer in Worten tiefer Entrüstung von der sittlichen Fäulnis der großen und zumal der neuen Welt zu sprechen liebt, hat den Schiffsbauer Auler gezwungen, die „Gazelle" zu einem Termin segelfertig zu machen, der jede durchgreifende Reparatur des Schiffes ausschließt. Er hat auch dies seines Rufes wegen getan, um die rohe Mannschaft der „Gazelle" so schnell als möglich aus der Stadt zu schaffen. Er weiß: das Schiff muss in dem ersten Sturm untergehen, und er lässt Johann auf dem Wrack die Reise in die neue Welt antreten. So verstrickt er sich immer tiefer in Lug und Trug und leidet alle Qualen eines Verdammten, während seine Mitbürger ihn als unvergleichlichen Ehrenmann feiern. Aber noch immer schrickt er in feiger Furcht vor dem Bekenntnis seiner Schuld zurück. Und erst ein letzter Schlag bricht seinen starren Sinn. Eine Reihe von Umständen hat bewirkt, dass Johann nicht auf der „Gazelle" in See sticht. Er fährt nicht allein, Dina Dorff begleitet ihn heimlich. Und da er dies kostbare Kleinod nicht der rohen Mannschaft der „Gazelle" anvertrauen will, hat er die Stadt auf einem anderen Schiff verlassen. Dagegen hat Olaf, der kleine Sohn des Konsuls, angestachelt von abenteuerlicher Reiselust, sich verstohlen auf die „Gazelle" geschlichen, um Johann nach Amerika zu begleiten. Er will sich zwischen der Schiffsladung verstecken, bis das Schiff auf hoher See ist. Diese Nachricht trifft den Konsul, dessen Gemüt durch die vorangegangenen Ereignisse schon in seinen Tiefen aufgerüttelt worden ist, wie ein Blitzstrahl. Olaf ist sein einziges Kind, er weiß, dass er den Knaben durch eigene Schuld nie wiedersehen wird. Und während seine Mitbürger dem Konsul einen Fackelzug bringen, um ihm den Dank der Stadt für sein energisches Auftreten in der Eisenbahnfrage abzustatten, während alle Freunde des Hauses sich um ihn scharen, um sich mit ihm in die Ehren des Abends zu teilen, während vor dem Hause festliche Musik ertönt und Transparente ihn als „Stütze der Gesellschaft" feiern, fühlt der Unglückliche nur das eine, dass sein Leben eine ganze große Lüge gewesen sei und dass er alles verspielt habe.

Aber noch ist es nicht zu spät. Frau Bernick hat den Sohn gefunden und bringt ihn zurück. Noch kann alles gut werden. Auler, durch das Vorgefallene aufs Tiefste erschüttert, hat auf eigene Gefahr noch im letzten Augenblick die „Gazelle" angehalten. Bernick hat kein Menschenleben auf dem Gewissen. Von einem unerträglichen Druck befreit, atmet er auf. Er hat sich selbst wiedergefunden, entschlossen wirft er die Lüge seines Lebens von sich. Er gehorcht keinem Zwange, keiner Einwirkung von außen, da er seine Schuld eingesteht. Die Briefe, die gegen ihn zeugen könnten, hat Johann vor seiner Abreise an Lona übergeben, und diese zerreißt sie vor Bernicks Augen. Frei soll er wählen – und er hat gewählt. Er weist den Dank seiner Mitbürger zurück. Mit rückhaltloser Offenheit legt er ihnen sein Leben dar und stellt ihnen anheim, ob sie ihm auch noch ferner vertrauen wollen. Er fühlt in sich die Kraft, ein neues Leben zu beginnen. Denn in den bangen Stunden, in denen er alles verloren wähnte, ist ihm die ganze Unnatur seines Lebens und der Welt, die ihn umgibt, klar vor Augen getreten. Er hat erkannt, dass es kein Glück gibt, das sich nicht auf Wahrheit und gegenseitigem Vertrauen aufbaut, dass Freiheit und Wahrheit die wirklichen Stützen der Gesellschaft sind.

Diese flüchtige Skizze lässt schon die Schwächen des Dramas hervortreten: die etwas romanhafte Fabel, die Effekte, die manchmal gar zu sehr auf theatralische Wirkung angelegt sind, die moralische Tendenz, die nicht immer nur aus den Charakteren und der Handlung hervorleuchtet, sondern sich auch noch mit sattem Behagen mit an den Tisch setzt. So namentlich in dem vierten Akt, wo der Konsul in einer sehr erbaulichen Rede seine Sünden bekennt und feierlich verspricht, ein ebenso guter Mensch werden zu wollen, wie er bisher ein schlechter Kerl war. Mit der Zumutung, an die Aufrichtigkeit und Dauerhaftigkeit dieses Gelübdes zu glauben, stellt der Dichter den psychologischen Scharfblick seiner Hörer auf eine etwas harte Probe. Es ist wahr: Ibsen hat die grundtiefe Handlung in dem Charakter des Helden durch die einander drängenden und mit immer stärkerer Gewalt auf ihn einstürmenden Ereignisse trefflich zu motivieren gesucht, er hat sich bemüht, von Bernick alles fern zu halten, was an einen Theater-Bösewicht erinnern könnte; er stellt ihn hin als einen selbstbewussten stolzen Charakter, der eine engbrüstige verkrüppelte Umgebung weit überragt. Aber was er dadurch auf der einen Seite gewinnt, das verliert er auf der anderen Seite. Je wahrscheinlicher es wird, dass der Konsul Bernick sich doch noch zur Freiheit und zur Wahrheit bekennen kann, umso unwahrscheinlicher wird es, dass er jemals so tief sinken konnte, wie er in den ersten drei Akten erscheint. Denn was er da treibt, sind nicht Sünden heiß auflodernder Leidenschaft, sondern gemeine und kaltblütig ersonnene Verbrechen. Die Konsul Bernicks bessern sich nicht: in neunhundertneunundneunzig Fällen bleiben sie die gefeierten und stolz einher prunkenden „Stützen der Gesellschaft"; im tausendsten Falle kommen sie ins Zuchthaus.

Diesen Schwächen stehen nun aber glänzende Vorzüge gegenüber. Das Drama ist mit feinen und geistreichen Zügen verschwenderisch ausgestattet; es wimmelt von lebendigen Gestalten. In einer Reihe kräftig skizzierter Charakterköpfe lernen wir die sogenannten „Stützen der Gesellschaft" kennen, die würdigen Handelsherren und ihre wohltätigen Frauen, die im gemütlichen Kaffeeklatsch mit Selbstverleugnung am Seelenheil „moralisch Verdorbener" arbeiten und sich dabei so recht ihrer eigenen Reinheit und Wohlerzogenheit freuen; wir lernen den Herrn Hilfsprediger kennen, der seine Mußestunden dem erlesenen Frauenkreise widmet und so erbaulich zu reden weiß von der sittlichen Bedeutung dieser aufopfernden Frauenarbeit. Eine außerordentlich glückliche Gestalt ist Dina Dorff, die Tochter jener unglücklichen Schauspielerin, die von Bernick verführt und dann gestorben, verdorben war. Das Kind wird in Bernicks Haus aufgenommen und von seiner Schwester erzogen. Trotz aller liebevoller Behandlung fühlt es sich in diesem moralischen Kreise tief unglücklich. Die Leute sind so rein, so sittlich, so über jede Anfechtung erhaben. Sie behandeln das Kind der „verlorenen" Frau mit so viel Nachsicht, mit so aufdringlichem Mitleid und christlicher Nächstenliebe, man lässt es Dina mit so sanfter, wehmütiger Resignation fühlen, dass man sie natürlich nicht mit dem gleichen Maße messen könne, wie die eigenen, von streng sittlichen Eltern abstammenden Töchter. Dagegen bäumt sich das Selbstgefühl des armen Mädchens auf; in scheuem Trotze verschließt sich Dina in sich selbst; mit leidenschaftlichem Ungestüm sehnt sie sich aus dieser engherzigen, moralischen Gesellschaft hinaus in die große Welt mit all ihren Gefahren und Stürmen.

Auch die beiden alten Mädchen, die in dem Stück auftreten, sind prächtige Gestalten. Martha Bernick, eine schüchterne, weiche Natur, entsagt dem eigenen Liebesglück, um andere zu beglücken, dagegen ist Lona Hessel eine energische, kraftvolle Natur von strotzender Lebensfülle und voll edlen urwüchsigen Humors. Frauencharaktere zu zeichnen in allen feinen und weichen Abtönungen, versteht Ibsen wie kein zweiter unter den lebenden Dramatikern. Er hat das Herz der Frau studiert und kennt es in all seinen Tiefen.

So mag denn dem ausgezeichneten Drama Ibsens, da es zum zweiten Male die Fahrt antritt über die Bretter der Freien Volksbühne, abermals ein günstiges Los beschieden sein!

Kommentare