Franz Mehring 19101209 Leo Tolstoi

Franz Mehring: Leo Tolstoi

9. Dezember 1910

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 337-341. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 141-146]

Noch einmal, bei dem Tode des großen russischen Dichters, hat der Schall seines Namens die weite Welt erfüllt, aber das Echo, das er fand, klang nicht harmonisch. Viel schrille Sensationstöne mischten sich hinein und ein hässlicher Familienzwist, über den doch keiner, der den Dingen und den Menschen nicht ganz nahe steht, ein gerechtes Urteil fällen kann; in diesem Wirrwarr klang der Grundton von Tolstois Leben selten rein aus.

Einen solchen Grundton aber gibt es, so schroff der Gegensatz zwischen dem gewaltigen Dichter, der uns so viel, und dem religiösen Sonderling, der uns so gar nichts zu sagen hatte, auch immer sein mag. Was ihn zu dem einen wie zu dem anderen machte, waren die tiefen Wurzeln, die Leo Tolstoi im Leben seines Volkes und seiner Zeit geschlagen hatte. Immer ist es das literarische Gebiet, auf dem sich das moderne Leben der großen Nationen zuerst ankündigt. Wie man die französische Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts in den Schriften Diderots, Voltaires, Rousseaus und die deutsche Geschichte derselben Zeit in den Schriften Lessings, Goethes und Schillers studiert, so kann man die russische Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts in den Schriften Belinskis, Dostojewskis und Tolstois studieren. Das reichste Leben ist der Literatur allemal beschieden, wenn die Ökonomie und die Politik noch nicht mündig geworden sind, einen historischen Umschwung herbeizuführen, der sich gleichwohl schon mit hundert Zeugen anmeldet. Es sind ihre „klassischen" Zeiten, ein Wort, das seinen historischen Sinn deshalb nicht verliert, weil es allzu oft in einem schulmäßigen Begriff verknöchert wird.

Gerade unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Form sind die Klassiker einer modernen Nation selten unanfechtbar. In eine Anklage-, eine Kampf-, eine Trotzliteratur spielt das Denken ebenso mächtig hinein wie das Dichten; die poetische Widerspiegelung einer trostlosen Wirklichkeit, die nur durch ihre stumme Beredsamkeit wirkt, findet in der philosophischen Spekulation die Sprache, die sich durch ihre nebelhafte Unfassbarkeit dem Rotstift des Zensors entzieht. Man stößt auf diese Mischung bei allen Klassikern des bürgerlichen Zeitalters, wenn auch nicht bei allen in gleichem Maße; selbst Goethe, der größte Künstler unter ihnen, ist nicht ganz frei davon, für Tolstoi aber war es bezeichnend, dass er sich unter den deutschen Dichtern weit mehr zu Schiller hingezogen fühlte als zu Goethe.

In ihm war die Gabe künstlerischen Schaffens so unlöslich mit der Gabe philosophischen Grübelns verknüpft wie in keinem russischen Dichter; „als ich ins Leben trat", hat er später einmal gesagt, „war die Hegelsche Philosophie das Lebenselement aller Dinge". Aber was konnte diese Philosophie, die selbst in ihrem Vaterland wie ein blendendes Feuerwerk zerstob, bis auf den einen Funken, der in der modernen Arbeiterbewegung zündete, dem russischen Dichter sein, dem Dichter einer Nation, der das moderne Proletariat gänzlich fehlte? Sie konnte ihm keine Waffe in dem Kampfe werden, den schon der ideal angelegte Knabe mit dem krassen Aberglauben, der oberflächlichen Bildung, der spießbürgerlichen Moral seiner Umgebung begann. Tolstoi selbst hat uns seine früheste Jugend in seinen – unvollendeten – „Lebensstufen" erzählt. Er schildert sich selbst in einem Charakter, den er auch wohl als den russischen Nationalcharakter dargestellt hat: bei guten Anlagen und regem Geiste leichte Bestimmbarkeit, Mangel an schnellem Entschluss und ausdauernder Energie, viel gute Vorsätze, aber geringe Kraft, sie auszuführen. Unter wechselnden Namen kehrt derselbe Charakter in Tolstois Schriften immer wieder: wie er Irtenjew in den „Lebensstufen" heißt, so Olenin in den „Kosaken", Besuchow in „Krieg und Frieden", Lewin in „Anna Karenina", Nechljudow in „Auferstehung"; es sind nur ganz wenige und auch nur kleine Dichtungen Tolstois, deren Helden nicht vom Blute ihres Schöpfers getrunken haben, um lebendig zu werden.

Die Darstellung der „Lebensstufen" bricht in der Mitte der Jünglingsjahre ab, aber wenn Tolstoi etwa in diesem Lebensalter die Universität verließ, um das von seiner Mutter ererbte Gut zu bewirtschaften – dasselbe Jasnaja Poljana, wo der Dichter nun bestattet liegt –, so kann man einige Erzählungen aus dem Leben des Fürsten Nechljudow als die Fortsetzung des Romans betrachten. Genährt mit westeuropäischer Bildung, geht Nechljudow aufs Land, voll guter Vorsätze, aber ohne die Fähigkeit, etwas Vernünftiges auszurichten; er kämpft mit Worten gegen die schlechten Zustände, aber er weiß diesen Worten keinen Nachdruck durch gute Taten zu geben. Er will seinen Bauern helfen, aber sie verstehen ihn nicht, sowenig wie er sie; Nechljudow opfert zwecklos sein Vermögen, ergibt sich dem Spiele, endet als Selbstmörder. Noch ist der Zusammenstoß zwischen westeuropäischer Bildung und nationalem Russentum für Tolstoi ein tragischer Fall, der keine andere Versöhnung zulässt als den freiwilligen Tod seines dichterischen Ebenbildes.

In einem wilden Leben suchte Tolstoi das erste Scheitern seines faustischen Dranges zu vergessen, aber das Heilmittel erschien ihm bald widerlicher als das Übel. Er ging nun in den Kaukasus, den die älteren Dichter der russischen Literatur, die Puschkin und die Lermontow, mit einem romantischen Schimmer umgeben, als ein Land edler Helden und schöner Frauen geschildert hatten. Von solchen Träumen war Tolstoi geheilt; er sah im Kaukasus nur noch eine erhabene Landschaft, die er als ein Meister zu schildern wusste, und ein anspruchsloses, einfaches, zufriedenes Völkchen, das ohne Bedürfnisse und Wünsche ruhig dahinlebte und in diesem stillen Leben so glücklich war, wie es durch alle Genüsse der Kultur nicht hätte werden können. Unter Tolstois kaukasischen Erzählungen stehen „Die Kosaken" obenan; Olenin, der Held dieser Novelle, endet nicht mehr tragisch wie Nechljudow, aber resigniert; er sieht ein, dass er nichts für sein Glück brauche, dass es kein anderes Glück gebe, als für andere zu leben, aber ihn lähmt die Erkenntnis, von der zivilisierten Gesellschaft so verkrüppelt zu sein, dass er kein neues Leben mehr beginnen könne.

In den anderen kaukasischen Erzählungen behandelt Tolstoi, der militärische Dienste genommen hatte, kriegerische Ereignisse, womit er eine neue Note anschlug, die von nun an kräftig durch sein Dichten und Leben klingen sollte. Sein klares Auge sah nichts mehr von der verlogenen Romantik des Krieges, die in allen Militärstaaten so grotesk aufgewuchert war und nirgends grotesker als in dem alten russischen Raubstaat; dieser Plunder fiel von selbst ab, als Tolstoi mit seiner unerbittlichen Ehrlichkeit und seiner unvergleichlichen Darstellungsgabe erzählte, was er selbst im Kriege erlebt und gesehen hatte. Noch berühmter als seine kaukasischen Kriegserzählungen wurden seine drei Skizzen aus der Belagerung von Sebastopol, die Tolstoi auf einem der gefährdetsten Posten mitmachte; mit seelenkundigem Auge unterschied Tolstoi die verschiedenen Arten der Tapferkeit: die prahlerische Tapferkeit, die tollkühn wird, weil sie sich fürchtet, feige zu erscheinen, die ruhige Tapferkeit aus Pflichtgefühl, die gänzliche Todesverachtung aus willenloser Ergebung in ein unabwendbares Schicksal; er schildert, wie der Offizier, wenn er auf sich selbst angewiesen ist, gänzlich verkommt, während der Gemeine durch sein naives Selbstbewusstsein stets aufrechterhalten wird.

Im Krimkrieg erlitt der zarische Despotismus eine furchtbare Niederlage; eine Zeit der Reformen schien heraufzudämmern, von niemandem freudiger begrüßt als von Tolstoi. Er schildert den Regierungsantritt Alexanders II. also: „Man schrieb, man verkündete neue Entwürfe! Alle wollten bessern, das Bestehende zerstören, verändern, und alle Russen befanden sich in einem Zustand unbeschreiblicher Begeisterung. Es war ein Zustand, der in Russland zweimal im neunzehnten Jahrhundert eingetreten ist: das erste Mal, als wir im Jahre 1812 den ersten Napoleon hinausschlugen, das zweite Mal, als wir vom dritten Napoleon geschlagen wurden: die große unvergessliche Wiedergeburt des russischen Volkes … Wie jener Franzose sagte, derjenige habe überhaupt nicht gelebt, der nicht die große französische Revolution miterlebte, so darf auch ich sagen, wer nicht im Jahre 1856 in Russland gelebt hat, weiß nicht, was Leben ist." In dieser gehobenen Stimmung schrieb Tolstoi seine beiden großen Romane „Krieg und Frieden" und „Anna Karenina".

Es sind umfassende Schilderungen russischen Lebens, von einer fast verwirrenden Fülle der Gestalten und Schicksale; namentlich „Krieg und Frieden" mag als ein russisches Nationalepos erscheinen. Der Roman umfasst die Zeit von 1805 bis 1813, die Zeit, wo die russische Nation sich selbst erschuf, nicht etwa durch den Zaren oder seine Generale oder seine Minister oder überhaupt durch die herrschenden Klassen geschaffen wurde; sie alle sind bedeutungslose, gleichgültige, nebensächliche Figuren, die nichts vor sich bringen oder nur Unheil anrichten, wenn sie auf eigene Faust handeln wollen, die Großes nur schaffen als Werkzeuge der geheimnisvoll, aber unwiderstehlich wirkenden Volkskraft. Die hoffnungslose Verkommenheit dieser Klassen erfährt eine brennende Schilderung in „Anna Karenina", die sich um das Problem der Ehe bewegt, wie der ältere; bedeutendere, obgleich in der Form weniger geschlossene Roman um das Problem des Krieges: was in den „Sebastopoler Skizzen" nur erst angedeutet wurde, das wird in „Krieg und Frieden" zu einem Kulturgemälde ersten Ranges.

Jedoch auch das Hauptproblem, das Tolstois Gedanken unablässig beschäftigt, zieht sich wie ein roter Faden durch diesen Roman. Wie Nechljudow, so suchen Besuchow in „Krieg und Frieden", Lewin in „Anna Karenina" als große Gutsbesitzer zu reformieren, und wie Nechljudow scheitern sie mit all ihrer aus dem Westen geholten Weisheit. Aber nun kennt Tolstoi die Lösung, die er für Nechljudow noch nicht kannte, und es ist die gleiche für Besuchow und Lewin, obgleich jener der Weltmensch ist, der sich aus verworrenen Anfängen, aus einem bequemen faulen Leben voll törichter Streiche entwickelt, dieser aber der nachdenkliche Grübler, der mit heißem Bemühen jede Philosophie durchschmarutzt, um schließlich an aller Philosophie zu verzweifeln. Beiden kommt die Erlösung von armen einfachen Leuten aus dem Volke. Sie werden bekehrt durch eine mystische Weisheit, die in dem Satze gipfelt: Man muss nicht für sich, sondern für Gott leben. Böses dulden und Gutes tun, den Nächsten lieben wie sich selbst, ein Dasein ohne Bedürfnisse und Leidenschaften ein stilles Pflanzendasein führen: so klingen diese Romane aus.

Indem Tolstoi den höchsten Gipfel seines dichterischen Schaffens erreichte, begann auch schon der Abstieg. Er kehrte der Philosophie für immer den Rücken, und es steht damit im Zusammenhang, dass derselbe Mann, der seine geistige Nahrung zuerst aus Fichte, Schelling und Hegel geschöpft hatte, nun die Deutschen nur als eine dumme, eitle und schlechte Nation zu schildern weiß. Die Deutschen, die im „Krieg und Frieden" auftreten, sind alle mehr oder weniger angefault, heimtückische Verführer der arglosen und edlen Russen. Als ein Deutscher beim Brande von Moskau einige Russen schon halb überredet hat, nicht die verwundeten Soldaten, sondern ihre kostbaren Kostüme mit ihren Rossen und Wagen zu retten, ruft ein edelmütiges Mädchen: „Das ist eine Schändlichkeit, das ist eine Niederträchtigkeit! Ich kann's nicht sagen! Wie abscheulich, wie ekelhaft! Sind wir denn Deutsche?" Und dieser kräftige Appell löst die halbe Verzauberung; die Russen opfern ihre Schätze und retten die verwundeten Soldaten, während der deutsche Verführer als geprellter Mephisto dasteht.

Was diese Umwandlung in Tolstois Geiste bewirkt hat, war seine Enttäuschung durch die sogenannten Reformen des angeblichen „Zar-Befreiers". Wie Tolstoi dessen Anfänge mit hellem Jubel begrüßt hatte, so nannte er die Regierung dieses Zaren später eine Fälscherin und Vergifterin idealer Bestrebungen. Der Zarismus reformierte sich nach dem Krimkrieg, aber nicht in Tolstois überschwänglichem Sinne, sondern wie sich der preußische Staat nach Jena reformierte, wie herrschende Klassen überhaupt zu reformieren pflegen. Sie gießen den alten Wein in neue Schläuche, die dauerhafter gearbeitet sind als die alten; sie lockern die Fesseln der Unterdrückten, soweit es nötig ist, um die Herrschaft der Unterdrücker zu befestigen, aber nicht, um die Unterdrückung aufzuheben oder zu mildern. Die russische Bauernreform war ein jahrzehntelanges Bauernsterben und Bauernverderben, wie die preußische; nur dass in Deutschland die schnelle Entwicklung der Bourgeoisie und mit ihr des Proletariats neue Klassen und neues historisches Leben schuf, während die ungleich langsamere Entwicklung in Russland den enttäuschten Schwärmern, wenn sie sich selbst treu bleiben wollten, nur die Wahl ließ zwischen einer Politik der Verzweiflung, die mit Gewaltschlägen das System der Unterdrücker traf, oder dem gänzlichen Verzicht auf jede Politik.

Für einen philosophischen Grübler wie Tolstoi konnte diese Wahl überhaupt keine Wahl sein; mit seiner Abkehr von der westeuropäischen Zivilisation hatte er das Verständnis des historischen Zusammenhanges verloren, und er wurde der Prophet, der aller modernen Kultur den Krieg ansagte, um auf den russischen Dorfkommunismus zurückzugehen. Es ist leicht, über die Schrullen und Wunderlichkeiten seiner letzten Jahrzehnte zu spotten, über die tragikomischen Widersprüche, in die er bei der Verwirklichung seines Ideals geriet, und gar über das bisschen Schauspielerei, das auch vom ehrlichsten Prophetentum unzertrennlich zu sein pflegt; würdiger ist es auf jeden Fall des großen Toten zu erwägen, dass er an dem felsigen Ufer eines Meeres gescheitert ist, aus dem er die reichsten Schätze ans sonnige Tageslicht zu heben gewusst hat.

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