Franz Mehring 19000522 Leo Tolstoi

Franz Mehring: Leo Tolstoi1

22. Mai 1900

[Der Wahre Jakob, 1900, Nr. 361, S. 3250-3252. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 131-140]

Die russische Literatur als eigentümlich-nationale Erscheinung zählt noch nicht hundert Jahre. Was sie etwa schon im achtzehnten Jahrhundert geleistet hat, war sklavische Nachahmung französischer Muster und gehört sowenig zur russischen Literatur, wie etwa die poetischen und prosaischen Schriften des alten Fritz zur deutschen Literatur gehören.2 Erst die gewaltigen Vorstöße der Französischen Revolution und ihres Erben Napoleon haben ein nationalrussisches Bewusstsein in dem ungeheuren Reiche erweckt, das bis dahin nur durch die eiserne Klammer des zarischen Despotismus zusammengehalten wurde; der Brand von Moskau macht in der russischen Geschichte Epoche wie die Niederlage bei Jena in der deutschen.

Nunmehr aber trieb die russische Literatur um so kräftiger in die Halme, als sie das einzige Gebiet war, worauf das nationale Leben sich entfalten konnte. Wie man die französische Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts in den Schriften Diderots, Voltaires, Rousseaus und die deutsche Geschichte derselben Zeit in den Schriften Lessings, Goethes und Schillers studiert, so studiert man die russische Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts in den Schriften Belinskis, Dostojewskis und Tolstois. Das reichste Leben ist der Literatur immer beschieden, wenn die Ökonomie und die Politik noch nicht mündig geworden sind, einen historischen Umschwung durchzuführen, der sich gleichwohl schon mit hundert Zungen anmeldet, und es ist klar genug, dass ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen herbeiführen. Oft ist Tolstoi mit Rousseau, oft auch mit Goethe verglichen worden, allein wenn diese Vergleiche manchen anregenden Gesichtspunkt enthalten, so liebt es die Geschichte doch nicht, sich einfach zu wiederholen, und man kann zu groben Fehlschlüssen kommen, wenn man ausschließlich auf dem Wege des historischen Vergleichs das Wesen historischer Erscheinungen erkennen will.

Eben die Frage, ob Russland den allgemeinen Gesetzen der europäischen Zivilisation unterliege oder eine selbständige Welt für sich sei, spaltet die russische Literatur in zwei Lager, in die Parteien der Okzidentalen und der Slawophilen. Die historische Einsicht steht dabei gewissermaßen in umgekehrtem Verhältnis zum künstlerischen Vermögen; je tiefer ein russischer Dichter in das Leben seines Volkes einzudringen und je erschöpfender er es in allen seinen Abtönungen widerzuspiegeln weiß, um so mehr wird er der slawophilen Richtung zuneigen. Im Allgemeinen fällt mit ihrem aufsteigenden Gange die immer kräftigere Entwicklung der russischen Literatur im neunzehnten Jahrhundert zusammen. Jedoch besteht zwischen den Okzidentalen und den Slawophilen kein ausschließender Gegensatz; nicht über das Ziel, sondern über die Wege zum Ziele sind sie uneinig; beide Teile verlangen eine freiheitliche Wiedergeburt ihres Vaterlandes. Die russische Literatur ist, wie sie es ihren Ursprungs- und Lebensbedingungen nach nicht anders sein kann, eine Anklage-, eine Kampf-, eine Trotzliteratur, erfüllt von den Tendenzen der ökonomischen und politischen Emanzipation, die sich nur in ihr ausleben können.

Dies ihr innerstes Wesen war bis zu einem gewissen Grade verschleiert, solange der Zarismus unter Alexander I. noch mit den liberalen Ideen kokettierte, aber es enthüllte sich mehr und mehr, als Nikolaus I. mit eisernem Fuße jede selbständige Regung der Nation zertrat, und, was in ihr an originaler Kraft vorhanden war, gewaltsam aufs literarische Gebiet drängte. Hier organisierte sich der Widerstand als herbe, nackte, unbarmherzige Schilderung der trostlosen Wirklichkeit, die sich in ihrer stummen Beredsamkeit, und zugleich als philosophische Spekulation, die sich in ihrer nebelhaften Unfassbarkeit dem Rotstift des Zensors entzog. Darüber ging die künstlerische Form stark in die Brüche, aber was lag daran, wenn die Verantwortlichkeit für die nationale Zukunft auf der Literatur lastete, wenn die Nichtswürdigkeit der tatsächlichen Zustände nur durch ihre mikroskopische Widerspiegelung bewiesen, die Notwendigkeit einer Reform an Haupt und Gliedern nur durch philosophische Gründe erhärtet werden konnte. Auf diesem Wege gewann dann auch die slawophile Richtung ein neues Übergewicht. Die wirklichen Dinge tragen es stets über die Gedankengebilde davon; da die Tatsachen sich der Philosophie nicht anbequemten, so bequemte sich die Philosophie den Tatsachen an. Stimmte die moderne Philosophie mit ihrem Prinzip der historischen Vorwärtsentwicklung nicht zu der starren Unbeweglichkeit der russischen Zustände, nun wohl, so erhalte man diese Zustände und säubere sie nur von der Verderbnis, die sich ihnen eingefilzt hat, so verfolge man den Faden rückwärts bis zu dem goldenen Zeitalter, worin die noch unverdorbene Menschheit gelebt hat, und stelle dies Zeitalter wieder her!

So hat sich die russische Literatur in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt, und ihr klassischer Vertreter in dieser Zeit war Graf Leo Tolstoi. Er ist aus einem Okzidentalen ein Slawophile geworden, und in keinem anderen Dichter seines Volkes verknüpft sich die Gabe künstlerischen Schaffens so unlöslich mit der Gabe philosophischen Grübelns wie in ihm. Er vernachlässigt in hohem Grade die künstlerische Form, und doch wie harmonisch ist sein Lebenswerk, das er eben mit einem großen Roman gekrönt und, wie es scheint, abgeschlossen hat! Der Held dieses Romans ist kein anderer als der Held seiner ersten Skizzen, kein anderer als Tolstoi selbst, und was er in einem halben Jahrhundert geschaffen hat, ist in der schöpferischen Wiedergeburt eines mächtigen und tiefen Dichtergeistes nichts anderes als die Geschichte seiner Nation, seitdem sie nationales Bewusstsein erlangt hat.

Leo Tolstoi wurde am 8. September 1828 auf Jasnaja Poljana bei Tula geboren, einem Gute, das seiner Mutter gehörte und heute noch sein Wohnsitz ist. Früh verwaist, aber sorgfältig erzogen, studierte er auf der Universität Kasan, die freilich keine milde Amme seines Geistes werden konnte. Nach Charakter und Talent vermochten ihm ihre Lehrer nur einen geringen Respekt vor der offiziellen Gelehrsamkeit einzuflößen, dagegen empfing sein Hang zu philosophieren eine mächtige Anregung durch die philosophische Luft, die in den vierziger Jahren aus Deutschland herüber strömte: „als ich ins Leben trat", sagt Tolstoi, „war die Hegelsche Philosophie das Lebenselement aller Dinge". Jedoch lebte er nicht allein in diesem Element, sondern genoss das wirkliche Leben wie ein junger russischer Edelmann der damaligen Zeit; zwei Seelen wohnen ach! in seiner Brust.

Er selbst hat seine früheste Jugend in seinem poetischen Erstling geschildert, in dem – unvollendeten – Roman „Lebensstufen"3. Der Held Irtenjew ist nicht in seinen äußeren Erlebnissen und Verhältnissen, aber seiner inneren Entwicklung nach der Dichter selbst. Diese Entwicklung trägt den Stempel der psychologischen Wahrheit und zeigt in dem Kinde den Vater des Mannes. Es ist ein Typus, den Tolstoi auch wohl als den russischen Nationaltypus selbst hinstellt: bei guten Anlagen und regem Geiste leichte Bestimmbarkeit, Mangel an schnellem Entschlusse und ausdauernder Energie, viel gute Vorsätze, aber geringe Kraft, sie auszuführen. Unter wechselndem Namen kehrt derselbe Typus bei Tolstoi immer wieder: wie er Irtenjew in den „Lebensstufen" heißt, so Olenin in den „Kosaken", Besuchow in „Krieg und Frieden", Lewin in „Anna Karenina", Nechljudow in „Auferstehung"; es sind nur ganz wenige und auch nur kleine Dichtungen Tolstois, deren Helden nicht vom Blute ihres Schöpfers getrunken haben, um lebendig zu werden.

Die „Lebensstufen" verraten bereits die Klaue des Löwen: in der rücksichtslosen Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, womit die Kämpfe des ideal angelegten Knaben mit dem krassen Aberglauben, der oberflächlichen Bildung, der spießbürgerlichen Moral seiner Umgebung geschildert werden, in der realistischen Technik, die den flüchtigsten Schwingungen der Seele so sicher nachzuspüren weiß wie sie die Erscheinungen der Außenwelt plastisch zu gestalten vermag, nicht zuletzt auch in dem wundervollen Zauber der Stimmung, die dieser große Stimmungskünstler namentlich über die Kindheitsgeschichte verbreitet. Die Darstellung bricht in der Mitte der Jünglingsjahre ab, aber wenn Tolstoi ungefähr in diesem Lebensalter die Universität verließ, um das mütterliche Gut zu bewirtschaften, so kann man einige Erzählungen aus dem Leben des Fürsten Nechljudow als die Fortsetzung des Romans betrachten. Als Okzidentaler geht Nechljudow mit allerhand guten Vorsätzen aufs Land, ohne etwas Vernünftiges auszurichten; er kämpft mit Worten gegen die schlechten Zustände, aber er weiß diesen Worten keinen Nachdruck durch gute Taten zu geben. Er will seinen Bauern helfen, aber sie verstehen ihn nicht, sowenig wie er sie. Nechljudow opfert zwecklos sein Vermögen, ergibt sich dem Spiele, endet als Selbstmörder. Noch ist der Zusammenstoß zwischen westeuropäischer Bildung und nationalem Russentum für Tolstoi ein tragischer Fall, der keine andere Versöhnung zulässt als den freiwilligen Tod seines dichterischen Ebenbildes, aber dieselbe Note klingt bei ihm weiter fort und gewiss mit vollstem Rechte, da im neunzehnten Jahrhundert das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis der Angelpunkt der national-russischen Entwicklung war.

In einem wilden Leben suchte Tolstoi das erste Scheitern seines faustischen Dranges zu vergessen, aber bald ekelte ihn vor dem Heilmittel mehr als vor dem Übel. Er ging nun in den Kaukasus, den die älteren Klassiker der russischen Literatur, die Puschkin und die Lermontow, mit einem romantischen Schimmer umgeben, als ein Land edler Helden und schöner Frauen geschildert hatten. Von solchen romantischen Träumen war die jüngere Generation der russischen Dichter gründlich geheilt; Tolstoi sah im Kaukasus nur noch eine erhabene Landschaft, die er als ein Meister zu schildern wusste, und ein anspruchsloses, einfaches, zufriedenes Völkchen, das ohne Bedürfnisse und Wünsche ruhig dahinlebte, das in diesem stillen Leben so glücklich war, wie es durch alle Genüsse der Kultur nicht hätte werden können. Unter Tolstois kaukasischen Erzählungen stehen „Die Kosaken" obenan; Olenin, der Held dieser Novelle, endet nicht mehr tragisch wie Nechljudow, aber resigniert; er sieht ein, dass er nichts für sein Glück brauche, dass es kein anderes Glück gebe als für andere zu leben, aber ihn lähmt die Erkenntnis, von der zivilisierten Gesellschaft so verkrüppelt zu sein, dass er kein neues Leben mehr beginnen kann.

Im Kaukasus nahm Tolstoi militärische Dienste, und in seinen anderen kaukasischen Erzählungen behandelt er kriegerische Erlebnisse, womit er eine zweite Note anschlug, die von nun an durch seine ganze Dichtung klingen sollte. Sein klares Auge sah nichts mehr von der verlogenen Romantik des Krieges, die in allen Militärstaaten so grotesk aufgewuchert war, und nirgends grotesker als in dem alten russischen Raubstaat; dieser Plunder fiel ganz von selbst ab, als Tolstoi mit seiner unerbittlichen Ehrlichkeit und seiner unvergleichlichen Auffassungsgabe erzählte, was er selbst im Kriege erlebt und gesehen hatte. Noch berühmter als seine kaukasischen Kriegserzählungen sind seine drei Skizzen aus der Belagerung von Sebastopol, die Tolstoi auf einem der gefährdetsten Posten mitgemacht hat, nachdem er sich beim Ausbruch des Krimkriegs aus dem Kaukasus auf den größeren Kriegsschauplatz hatte versetzen lassen. Diese Skizzen machten seinen Namen zuerst in ganz Russland berühmt, und es ist vielleicht der größte Triumph, den seine Kunst je errungen hat, dass die ganze Nation und selbst der despotische Kaiser Nikolaus als eine Huldigung an dem nationalen Genius empfand, was tatsächlich die schärfste und schonungsloseste Verurteilung des ganzen Kriegsgräuels war. „Der Held meiner Erzählung, den ich mit aller Kraft meiner Seele liebe, den ich in seiner ganzen Schönheit darzustellen bemüht war, und der stets schön war, ist und sein wird – ist die Wahrheit", schreibt Tolstoi in einer dieser Skizzen, und eben in dieser unbedingten und ungeschminkten Wahrheit liegt ihr bestrickender, ihr bezwingender Reiz.

Gewiss ist diese Wahrheit trotz oder vielmehr wegen ihrer strengen Schönheit dichterische Wahrheit. Der Dichter ist der Seher, der den Kern der Dinge sieht und ihn zu zeigen weiß, der den auf hohen Ruhmesstelzen einherschreitenden Helden schweigend in die Rumpelkammer verweist, und an seine Stelle den wirklichen Menschen setzt. Mit seelenkundigem Griffel unterscheidet Tolstoi die verschiedenen Arten der Tapferkeit: die prahlerische Tapferkeit, die tollkühn wird, weil sie sich fürchtet, feige zu erscheinen, die ruhige Tapferkeit aus Pflichtgefühl, die gänzliche Todesverachtung aus willenloser Ergebung in ein unabwendbares Schicksal; er schildert, wie der Offizier, wenn er auf sich selbst angewiesen ist, gänzlich verkommt, während der Gemeine durch sein naives Sittlichkeitsbewusstsein stets aufrechterhalten wird. Tolstoi entfaltet das Innenleben der Kämpfenden, indem er mit peinlicher Genauigkeit jede Empfindung, jeden Gedanken, jedes flüchtige Gefühl festzuhalten weiß: die äußere Situation zeichnet er mit wenigen Strichen, aber immer voll mächtiger Stimmung.

Im Krimkrieg erlitt der zarische Despotismus eine zerschmetternde Niederlage; eine Zeit der Reformen schien heraufzudämmern, von niemandem freudiger begrüßt als von Tolstoi. Er meinte, wer nicht im Jahre 1856 in Russland gelebt habe, der wisse nicht, was Leben sei. Er hoffte, an großen Werken ein tätiger Mitarbeiter sein zu können; auf Reisen ins Ausland suchte er seinen geistigen Gesichtskreis zu erweitern und zu vertiefen. In der kleinen meisterhaften Erzählung „Polikuschka" traf er das System der Leibeigenschaft ins Herz, nicht mit den scharf geschliffenen Pfeilen der Tendenz, sondern rein mit künstlerischen Mitteln, durch die erschütternde Darstellung eines armen Leibeigenenschicksals. In diesen Jahren erblühte dem Dichter auch sein häusliches Glück, in der Liebe zu Sophie Behrs, einem jungen Mädchen, das den Jahren nach seine Tochter hätte sein können. Was ihm damals das Herz bewegte, hat er im „Eheglück" niedergelegt, der anmutigsten, lieblichsten und, was die Form anbetrifft, künstlerisch vollendetsten seiner Novellen, einem wahren Kleinod der Weltliteratur; wie sich in der idealen Ehe des ganzen Mannes und des ganzen Weibes das Glücksgefühl der Liebesleidenschaft in herber und schmerzensreicher, aber doch auch befreiender und erlösender Wendung umwandelt in das nicht minder große Glück voller Lebensgemeinschaft, das hat Tolstoi unübertrefflich zu gestalten gewusst. Das Problem der Ehe wurde die dritte Hauptnote seines künstlerischen Schaffens.

In zehn Jahren etwa, von 1850 bis 1860, hatte sich der junge Meister entwickelt, und es folgen nun etwa fünfzehn Jahre der vollendeten Meisterschaft, gekennzeichnet durch die beiden großen Romane „Krieg und Frieden" und „Anna Karenina". Es sind umfassende Schilderungen russischen Lebens, von einer fast verwirrenden Fülle der Gestalten und Schicksale; namentlich „Krieg und Frieden" mag so etwas wie ein modernes russisches Nationalepos sein. Der Roman umfasst die Zeit von 1805 bis 1813, die Zeit, wo die russische Nation sich selbst erschuf, nicht etwa durch den Zaren oder seine Generale oder seine Minister oder überhaupt durch die herrschenden Klassen geschaffen wurde; sie alle sind bedeutungslose, gleichgültige, nebensächliche Figuren, die nichts vor sich bringen oder nur Unfug anrichten, wenn sie auf eigene Faust handeln wollen, die Großes nur schaffen als Werkzeuge der geheimnisvoll, aber unwiderstehlich wirkenden Volkskraft. Die hoffnungslose Verkommenheit dieser Klassen erfährt eine brennende Schilderung in „Anna Karenina", die sich um das Problem der Ehe bewegt, wie der ältere, bedeutendere, obgleich in der Form weniger geschlossene Roman um das Problem des Krieges: was in den „Sebastopoler Skizzen" nur erst angedeutet wurde, wird in „Krieg und Frieden" zu einem Kulturgemälde ersten Ranges.

Jedoch auch das dritte Hauptproblem, das Tolstois Gedanken unablässig beschäftigt, zieht sich gleich einem roten Faden durch diese Romane.

Wie Nechljudow, so suchen Besuchow in „Krieg und Frieden", Lewin in „Anna Karenina" als große Gutsbesitzer zu reformieren, und wie Nechljudow scheitern sie mit all ihrer aus dem Westen geholten Weisheit. Aber nun kennt Tolstoi die Lösung, die er für Nechljudow noch nicht kannte, und es ist die gleiche für Besuchow und Lewin, obgleich jener der Weltmensch ist, der sich aus verworrenen Anfängen, aus einem bequemen faulen Leben voller törichter Streiche entwickelt, dieser aber der nachdenkliche Grübler, der mit heißem Bemühen jede Philosophie durchschmarutzt, um schließlich an aller Philosophie zu verzweifeln. Beiden kommt die Erlösung von armen, einfachen Leuten aus dem Volke. Sie werden bekehrt durch eine mystische Weisheit, die in dem Satze gipfelt: Man muss nicht für sich, sondern für Gott leben. Böses dulden und Gutes tun, den Nächsten lieben wie sich selbst, ein Dasein ohne Bedürfnisse und Leidenschaften, ein stilles Pflanzendasein führen: in diese Harmonie klingen die großen Romane Tolstois aus.

Während er sie schrieb, vollzog sich in seinem Geiste eine entscheidende Umwandlung. Der russische Staat reformierte sich allerdings nach dem Krimkriege, aber nicht in Tolstois überschwänglichem Sinne, sondern nur so, wie sich der preußische Staat nach Jena reformierte, nur so, wie herrschende Klassen überhaupt zu reformieren pflegen. Sie gießen den alten Wein in neue Schläuche, die dauerhafter gearbeitet sind als die alten; ihre Reformen fangen da an, wo die Herrschaft der Unterdrücker befestigt werden muss und soll, sie hören da auf, wo die Fesseln der Unterdrückten gelockert werden können. Gewiss sind auch solche Reformen in ihrer Art historische Fortschritte, aber die Unterdrückten und die mit ihnen fühlen, lernen diese Fortschritte erst erkennen durch Gläser, die schmerzliche Enttäuschung geschliffen hat. War die preußische Reform des gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisses ein jahrzehntelanges Bauernsterben und Bauernverderben, so stand es nicht anders mit Aufhebung der russischen Leibeigenschaft. Sie brachte die russischen Bauern in gewissem Sinne aus dem Regen unter die Traufe, und wie solche Erfüllung hochgespannter Hoffnungen auf warmherzige Ideologen zu wirken vermag, das kann gerade auch in der deutschen Geschichte der zwanziger und dreißiger Jahre studiert werden. Nur dass hier die rapide Entwicklung der Bourgeoisie und mit ihr des Proletariats neue Klassen und neues historisches Leben schuf, während die ungleich langsamere Entwicklung in Russland den enttäuschten Schwärmern, wenn sie sich selber treu bleiben wollten, allein die Wahl ließ zwischen einer Politik der Verzweiflung, die mit Gewaltschlägen das System der Unterdrückung traf, oder dem gänzlichen Verzicht auf jede Politik.

Wie sich die einzelnen in dieser bitteren Wahl entschieden, das hing von ihrem Charakter, ihrer Herkunft, ihrem Lebenslauf, ihrer Umgebung ab. Über Tolstois äußeres Leben ist verhältnismäßig wenig bekannt, aber da des Dichters Lebenswerk immer seine erschöpfendste Biographie ist, so lässt sich unschwer erkennen, weshalb Tolstoi sich weit vom Lärm der großen Welt sein beschauliches, stilles, religiös-utopisches Hüttlein baute. Sein Held Besuchow kämpft auch diesen Kampf durch; er möchte den siegreich in Moskau thronenden Napoleon ermorden, aber was er in Moskau hört und sieht, erfüllt ihn mit tiefem Abscheu gegen jede Gewalttat; der Riss geht selbst äußerlich durch Tolstois größten Roman, indem sich die philosophische Haarspalterei unaufhaltsam breitmacht, nachdem der Held darauf verzichtet hat, den Spiegel zu zerschlagen, dessen Scherben er mit seinem letzten Gelde bezahlen müsste.

Mag sich aber der psychologische Prozess in Tolstoi so oder so vollzogen haben, das Resultat dieses Prozesses sprach er klipp und klar und ohne jedes Missverständnis aus, als er am Ende der siebziger Jahre den zweiten seiner großen Romane beendet hatte: „Ich habe in dieser Welt fünfundfünfzig Jahre gelebt, und mit Ausnahme der vierzehn oder fünfzehn Kinderjahre habe ich fünfunddreißig Jahre als Nihilist im wahren Sinne des Wortes gelebt; nicht als Sozialist und Revolutionär, nach dem uneigentlichen Gebrauch des Wortes, sondern als Nihilist, das heißt jedes Glaubens bar." Mit diesem Bekenntnis zerbrach Tolstoi den Griffel des Dichters und entfaltete das Fähnlein einer religiösen Sektenpropaganda.

Was Tolstoi als religiöser Sektenstifter geschrieben hat, mag für Seelen, die mit ihm übereinstimmen, erbaulichen Wert haben, ist aber ohne künstlerische oder philosophische Bedeutung. Nicht deshalb, weil er der russischen Kirche irgendwelche Zugeständnisse macht, er bekämpft sie vielmehr heftig wie alle Einrichtungen der herrschenden Klassen, sondern weil er, ebenso wie die Kirche, auch die Bildung, die Industrie, die Städte angreift, weil er das Ideal der menschheitlichen Entwicklung nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit sucht, weil sein Verlangen, die Städte zu verlassen, die Fabriken aufzulösen und zu jenem uranfänglichen Ackerbau zurückzukehren, wo jeder möglichst allein durch seiner eigenen Hände Arbeit für alle seine Bedürfnisse sorgt, durch und durch reaktionär, ja für diejenigen Klassen, die heute der menschlichen Gesittung vorankämpfen, nicht einmal mehr verständlich ist. Man kann darin wohl Spuren eines großen Geistes entdecken, oder auch Spuren eines großen Talents in dem wenigen, was Tolstoi noch als Dichter in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet hat, allein es sind Spuren, in denen man ungern einhergeht. Sie erinnern allzu traurig an das, was Tolstoi geschaffen hat, als er noch ein Künstler war, noch ein Künstler sein wollte, als er die Kunst noch nicht, wie in seiner religiösen Traktätchenzeit, zur dienenden Magd einer moralischen Trösteinsamkeit erniedrigte.

So melancholisch aber sollte dies einst so strahlende Licht doch nicht erlöschen. Der russische Despotismus, der in seines Sinnes Torheit die religiösen Sekten mit unerbittlicher Grausamkeit verfolgt, hat den alten Löwen noch einmal auf den alten Pfad gejagt. Um eine ihm sympathische, aber von der russischen Regierung vertriebene Sekte zu unterstützen durch das beträchtliche Honorar, das er für einen neuen Roman erhalten konnte, hat Tolstoi einen alten Plan hervorgezogen und zu der neuen Dichtung abgeschlossen, worin Nechljudow in mehr als einem Sinne seine „Auferstehung" feiert. Da der Roman eben in einer Anzahl von Arbeiterblättern veröffentlicht wird, so braucht seine Fabel hier nicht erzählt zu werden; genug, dass der Dichter Tolstoi hier noch einmal spricht, als siebzigjähriger Greis vielleicht nicht mehr ganz so frisch und klangvoll wie als vierzigjähriger Mann, aber doch mit all den geheimnisvollen Mitteln einer unvergleichlichen Kunst, über die dieser alte Zauberer seit seinen jungen Tagen gebietet.

Zwar endet auch Tolstois neuester Roman mit einer religiösen Utopie, aber der matte Schluss vermag die wuchtige Dichtung nicht von der steilen Höhe der Kunst in die flache Niederung der Moralpredigt herunterzureißen. In kühner revolutionärer Sprache erhebt der Dichter seine furchtbaren Anklagen gegen die russische Gesellschaft: „Als Nechljudow in Gedanken all die Personen verfolgte, an denen die Tätigkeit der Einrichtungen zutage tritt, welche die Gerechtigkeit wiederherstellen, die Religion unterstützen und das Volk erziehen: das Weib, das wegen Branntweinhandels ohne Patent bestraft worden, den Jungen, der wegen Diebstahls, den Vagabunden, der wegen Landstreicherei, den Brandstifter, der wegen Brandlegung, den Bankier, der wegen Unterschlagung bestraft worden, und dazu noch diese unglückliche Lidia, die man nur strafte, damit man von ihr die nötigen Erkundigungen einziehen konnte, und die Sektierer, die man für den Abfall von der Orthodoxie, und den Gurkewitsch, den man wegen seines Verlangens nach einer Konstitution strafte – als er all dieser Menschen gedachte, kam dem Nechljudow mit ungewöhnlicher Klarheit der Gedanke, dass man sie alle ergriffen, eingeschlossen und verschickt habe, durchaus nicht etwa, weil sie sich gegen die Gerechtigkeit vergangen oder die Gesetze verletzt hätten, sondern nur weil sie die Beamten und Reichen störten, den Reichtum zu genießen, den diese dem Volke abgenommen hatten." Wo wäre der deutsche Dichter, dem auch nur ein Hauch dieses gewaltigen Zornes gegeben wäre? Je verächtlicher aber dem Dichter die herrschende Gesellschaft wird, um so versöhnlicher wird er gegen die „Politischen"; Nechljudow bekennt, ehedem ein verächtliches Gefühl gegen sie gehegt zu haben; seitdem er sie kennt, findet er, dass sie sich in vorteilhafter Weise von den gewöhnlichen Menschen unterschieden, indem sie höhere Anforderungen an die Moral stellten.

Auferstehung" in der Tat! Glorreicher als die christliche Auferstehung, in die der Roman zuletzt verläuft, ist er selbst als Auferstehung des dichterischen Genius aus aller niederdrückenden Qual ein sinnbildliches Vorzeichen zugleich für die dereinstige Auferstehung der russischen Nation.

1 Mehrings Aufsätze über Tolstoi müssen vor allem an den Tolstoi-Aufsätzen W. I. Lenins gemessen werden. (Siehe W. I. Lenin: Über Kultur und Kunst, S. 98-103, 120-143.)

In den vorliegenden Aufsätzen über Tolstoi überbewertet Mehring die Auseinandersetzung zwischen Slawophilen und „Westlern" (Okzidentalen) für die Entwicklung der großen russischen realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts; er sieht hingegen die Verbindung mit den verschiedenen Etappen der russischen Befreiungsbewegung nicht scharf genug.

Mehring gibt insofern eine richtige soziale Bewertung Tolstois, als er schreibt: „Er wurde der Prophet, der aller modernen Kultur den Krieg ansagte, um auf den russischen Dorfkommunismus zurückzugehen." Mehring arbeitete jedoch nicht scharf genug den Gedanken heraus, der Lenins Arbeiten über Tolstoi beherrscht: „Seine Weltbedeutung als Künstler, seine Weltberühmtheit als Denker und Künder, beides spiegelt auf seine Art die Weltbedeutung der russischen Revolution wider. L. N. Tolstoi trat bereits zur Zeit der Leibeigenschaft als großer Künstler hervor. In einer Reihe von genialen Werken, die er im Laufe seiner mehr als fünfzigjährigen literarischen Tätigkeit schuf, schilderte er vornehmlich das alte, vorrevolutionäre Russland, das auch nach 1861 noch in halber Leibeigenschaft verblieb, das Russland des Dorfes, das Russland des Gutsherrn und des Bauern. Bei der Schilderung dieser Etappe in Russlands geschichtlichem Leben wusste L. Tolstoi in seinen Werken so viele große Fragen aufzurollen, sich zu solcher künstlerischer Kraft aufzuschwingen, dass seine Werke in der belletristischen Weltliteratur einen der ersten Plätze einnehmen. Die Epoche, in der sich ein von den Fronherren bedrücktes Land auf die Revolution vorbereitete, bedeutete dank Tolstoi, der sie genial beleuchtete, einen Schritt vorwärts in der künstlerischen Entwicklung der gesamten Menschheit… Einer der wichtigsten Charakterzüge unserer Revolution besteht darin, dass sie eine bürgerliche Bauernrevolution in einer Epoche sehr hoher Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt und einer verhältnismäßig hohen in Russland selbst war …

In Tolstois Werken kommt die Stärke wie die Schwäche, die Kraft aber auch die Beschränktheit eben dieser bäuerlichen Massenbewegung zum Ausdruck. Sein glühender, leidenschaftlicher, nicht selten schonungslos-scharfer Protest gegen den Staat und die polizeilich-fiskalische Kirche übermittelt die Stimmung der primitiven Bauerndemokratie, in der die Jahrhunderte der Leibeigenschaft, bürokratischer Willkür und Räuberei, des kirchlichen Jesuitismus, Betrugs und Gaunertums Berge von Erbitterung und Hass aufgetürmt hatten. Seine unbeirrbare Ablehnung des privaten Grundeigentums übermittelt die Denkart der Bauernmassen in einem geschichtlichen Augenblick, wo der überlieferte mittelalterliche Bodenbesitz, der der Gutsherren ebenso wie der fiskalisch verankerte Besitz von ,Anteilland', endgültig zu einem unerträglichen Hemmschuh für die Weiterentwicklung des Landes geworden sind und wo dieser Grundbesitz unausweichlich aufs jäheste und rücksichtsloseste zerstört werden musste. Seine unentwegte, von tiefstem Gefühl und lodernster Empörung erfüllte Bloßstellung des Kapitalismus übermittelt das ganze Entsetzen des patriarchalischen Bauern, auf den ein neuer, unsichtbarer, unbegreiflicher Feind einzudringen begonnen hat, der irgendwoher aus der Stadt oder irgendwoher aus dem Auslande kommt, der alle ,Grundfesten' des Dorflebens zerstört, der beispiellosen Ruin, Armut, Hungertod, Verwilderung, Prostitution und Syphilis mitbringt – alle Heimsuchungen der ,Epoche der ursprünglichen Akkumulation', hundertfach verschärft durch die Verpflanzung der allerneuesten, von Herrn Coupon ausgearbeiteten Raubmethoden auf russischen Boden. Zugleich damit aber offenbarte der feurige Protestant, der leidenschaftliche Ankläger, der große Kritiker in seinen Werken eine solche Verständnislosigkeit für die Ursachen der Krise und die Mittel der Abhilfe gegen die Krise, die über Russland hereinbrach, wie sie nur ein naiver, patriarchalischer Bauer haben kann, nicht aber ein europäisch gebildeter Schriftsteller" (S. 120 u. 121/122).

Über den historischen Gehalt des „Tolstoianertums" schrieb Lenin: „Der reale historische Gehalt des Tolstoianertums ist eben der, eine Ideologie der orientalischen Ordnung, der asiatischen Ordnung zu sein. Daher sowohl die Asketik als auch der Verzicht auf gewaltsamen Widerstand gegen das Böse, sowohl die tiefen Untertöne des Pessimismus als auch die Überzeugung, das ,alles nichts ist, alles ein materielles Nichts ist', … ferner der Glaube an einen ,Geist', den ,Ursprung von allem', welchem Urprinzip gegenüber der Mensch nur ein ,Arbeiter' wäre, ,der hingeschickt worden ist, sich um sein Seelenheil zu bemühen' usw… . Pessimismus, Verzicht auf Widerstand, Appellation an den ,Geist' ist eine Ideologie, die unvermeidlich in einer Epoche auftaucht, wo die ganze alte Ordnung ,umgekrempelt worden ist' und wo die in dieser alten Ordnung erzogene Masse, die mit der Muttermilch die Grundsätze, Gewohnheiten, Traditionen, Glaubenssätze dieser Ordnung eingesogen hat, nicht sieht und nicht sehen kann, wie die ,Gestalt gewinnende' Neuordnung beschaffen ist, welche sozialen Kräfte sie gestalten' und wie das vor sich geht, welche sozialen Kräfte befähigt sind, Erlösung zu bringen, von den unzähligen, besonders schlimmen Heimsuchungen, wie sie für Epochen des ,Umbruchs' eigentümlich sind.

Die Periode von 1862 bis 1904 war eben eine solche Epoche des Umbruchs in Russland, in der das Alte vor aller Augen unwiderruflich zusammenstürzte, während das Neue erst Gestalt zu gewinnen begann, wobei die sozialen Kräfte, die dieses Gestalten besorgten, erst 1905 in breitem, gesamtnationalem Maßstab, in einer von Massen getragenen offenen Aktion auf den verschiedensten Tummelplätzen zum ersten mal praktisch in Erscheinung traten" (S. 141 u. 141/142).

2 Obwohl die große Blüte der nationalen russischen Literatur erst im 19. Jahrhundert einsetzte, ist dieses schroffe Urteil Mehrings über die russische Literatur des 18. Jahrhunderts nicht richtig. Es berücksichtigt weder die gewaltige Leistung Lomonossows noch die Verdienste Dershawins, Fonwisins („Die Landjunker") und des bedeutenden revolutionären Schriftstellers Radistschews, dessen großartige „Reise von Petersburg nach Moskau" bereits 1790 erschien.

3 Neu erschienen unter dem Titel „Kindheit, Knabenjahre, Jugendzeit", Berlin 1952.

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