Franz Mehring 18930320 Madáchs „Tragödie des Menschen"

Franz Mehring: Madáchs „Tragödie des Menschen"

20. März 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93. Erster Band, S. 865/866. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 113-115]

Maurus Jökai hat die „dramatische Dichtung" seines magyarischen Landsmanns Madách in sehr überschwänglichen Posaunenstößen als eine volkstümliche Veredlung von Goethes „Faust" verherrlicht, und nach den angeblichen oder wirklichen Erfolgen, welche die Aufführung dieser sonderbaren „Tragödie" in Wien und in Hamburg gehabt hat, lohnte sich schon ein Versuch mit ihr auf der hiesigen Bühne. Das Lessing-Theater hat diesen Versuch vor ein paar Tagen gemacht, aber leider nicht mit dem erhofften Erfolge. Wir sagen: leider, weil an die Inszenierung sehr viel Arbeit, Fleiß und Mühe gesetzt war. Sonst macht sich freilich ein Rest gesunden Geschmacks in der bürgerlichen Kritik geltend, die das Werk Madáchs fast ausnahmslos als ein blendendes, aber durch eine Reihe sozusagen philosophischer Monologe nicht verschönertes Ausstattungsstück ablehnt.

Madách ist bereits im Jahre 1864 gestorben, wenig über vierzig Jahre alt, in melancholischer Einsamkeit nach schweren häuslichen Missgeschicken. Ein trostloser und trüber Pessimismus erfüllt die „Tragödie des Menschen"; alles ist eitel, Macht, Wissen, Glauben, Freiheit, kurzum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit. Das wird in einem Dutzend lebender Bilder, die von Adam und Eva im Paradiese bis zur Maschinenhalle des „Zukunftsstaats" reichen, durch prächtige Dekorationen und gereimt-ungereimte Gemeinplätze demonstriert. Wenn Maurus Jökai das „enzyklopädische Wissen" Madáchs bewundert, so bewundern wir gewissermaßen auch diese halsbrecherische Leistung landsmannschaftlicher Treue, aber sonst sind wir allerdings der unmaßgeblichen Meinung, dass ein Primaner, der als Thema seines Abiturientenaufsatzes etwa „Gedanken König Pharaos beim Bau der Pyramiden" oder „Gedanken Dantons auf der Guillotine" erhält, ungefähr dieselbe geschichts-philosophische Leistung fertigbrächte wie Madách in den entsprechenden Bildern seines dramatischen Werkes.

Mit Goethes „Faust" hat die Geschichte aber wirklich nichts oder doch nicht mehr zu tun, als dass Madách einige sehr vergröberte Motive aus der Tragödie erstem Teile entnommen und aufmerksam den Rat des Direktors befolgt hat:


Drum schonet mir an diesem Tag

Prospekte nicht und nicht Maschinen.

Gebraucht das groß' und kleine Himmelslicht

Die Sterne dürfet ihr verschwenden;

An Wasser, Feuer, Felsenwänden,

An Tier und Vögeln fehlt es nicht.


Und es ist abermals ein sympathischer Beweis landsmannschaftlicher Treue, dass ein ungarischer Magnat, irren wir nicht, ein Esterhazy, für eine glänzende Ausstattung des magyarischen „Faust" gesorgt hat. Es ist dieselbe, von Wien herüber transportierte Ausstattung, die wir im Lessing-Theater zu sehen bekamen. Sie bot eine schier unerschöpfliche Fülle aller glänzenden und überraschenden Effekte, über welche die heutige Theatertechnik irgend gebietet.. Aber der Dichtung wurde sie deshalb doch nicht zum Heile. Denn von dem prächtigen Kleide stach der dürftige Inhalt umso schärfer ab. Und diesem Inhalt konnte auch keine schauspielerische Kunst aufhelfen. Das Lessing-Theater hatte seine besten Truppen aufgeboten, die – man kann diesmal wörtlich sagen: im Schweiße ihres Angesichts – ihr Bestes taten, aber das Unmögliche konnten auch sie nicht leisten. Namentlich der Darsteller der Hauptrolle, auf den die Monologe des Dramas ziemlich zu drei Vierteln entfallen, war ebenso zu loben, wie zu bedauern. Herr Molenar ist ein ausgezeichneter Schauspieler, aber gerade deshalb unterlag er der höchst unkünstlerischen Aufgabe, ein dutzendmal in verschiedener Tracht, bald als König Pharao, bald als Kepler, bald als Danton usw. die Trostlosigkeit aller irdischen Dinge in leeren Reimen zu bejammern.

Bei alledem möchten wir nicht tadeln, dass so viel Mühe und Schweiß an ein so undankbares Problem gesetzt war. Das Lessing-Theater ist die rührigste und waghalsigste der hiesigen Bühnen. Obgleich es sich, so wenig wie irgendein anderes Theater, den Konsequenzen des Kapitalismus in der Kunst entziehen kann, so sucht es doch mit löblichem Eifer nach allem, was die bürgerliche Dichtung noch Bedeutendes zu leisten scheint. Und seine Schuld ist es nicht, wenn dieser Schein gemeiniglich trügt. Mit der bürgerlichen Dichtung ist es eben vorbei, nicht zuletzt auch mit der bürgerlichen Faustdichtung. Sie war und ist das dichterische Problem der bürgerlichen Klassen überall da, wo diese Klassen nicht so können, wie sie wohl möchten. Sie fand ihre genialste Ausgestaltung zu der Zeit, wo das deutsche Bürgertum in den Wolken dieselben Schlachten schlug wie das französische Bürgertum auf ebener Erde. Man hätte deshalb auch gar nicht spotten sollen, als Herr DuBois-Reymond vor einigen Jahren so bitter tadelte, dass Goethe seinen Faust nicht zum ehepusseligen Gatten von Gretchen gemacht hatte. Der Berliner Professor kennzeichnete mit dieser Kritik ganz treffend die Abwandlung des deutschen Bürgertums von einer gärenden Klasse zu jenem „geistigen Leibregimente der Hohenzollern", das Herr DuBois-Reymond im Jahre 1870 kommandierte. An Madáchs sogenannter Fausttragödie wird er schon seine herzliche Freude haben; sucht sie doch ebenso die Französische Revolution wie den sozialistischen „Zukunftsstaat" zu verhöhnen!

Es ist ein merkwürdiges Zeugnis für den geistigen Verfall der Bourgeoisie, dass sie auf das andrängende Proletariat nicht einmal jene Partherpfeile eines bitteren, geistreich zerreißenden Spottes abzusenden vermag, mit denen ihr eigener Leib von dem untergehenden Feudalismus so reichlich gespickt worden ist. Wenn sie es doch nur einmal zu einem guten Witz über den „Zukunftsstaat" brächte! Man lechzte förmlich danach, wenn man Madáchs salzlose Späßchen darüber hörte, die sich gut und gern mit Herrn Eugen Richters Spar-Agnes und Strampel-Annie messen können. Sogar das hiesige Premierenpublikum, das in dieser Beziehung nicht anspruchsvoll ist, brachte es zu keinem herzlichen Lachen. Und darin bewies es denn freilich ungleich mehr Geschmack, Verstand und Wissen, als die bürgerliche Reichstagsmehrheit zu besitzen sich rühmen kann.

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