Franz Mehring 18950300 Molières „Geiziger"

Franz Mehring: Molières „Geiziger"

März 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 7, S. 3-7. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 14-17]

Molière, dessen eigentlicher Name Jean-Baptiste Poquelin war, lebte von 1622 bis 1673. Er gilt als der größte Lustspieldichter der französischen Literatur, einer Literatur, die reicher als irgendeine andere an ausgezeichneten Lustspielen ist. In jedem Falle ist Molière der Vater der modernen Komödie. Bis zu seinem Auftreten bestand das Lustspiel aus derbe zusammengewürfelten Szenen, in denen stehende Masken allerlei lächerliche Streiche verübten. Molière hat diesem Geschmacke gelegentlich auch noch gehuldigt, aber in seinen größeren Stücken stellte er einen Charakter wie ein psychologisches Problem in die Mitte des Ganzen, einen Charakter, der sich im gesamten Verlaufe des Stückes so entwickelte, dass alle vorkommenden Ereignisse sich auf ihn bezogen, dem die Situation viel mehr dazu diente, sein eigenes Wesen zu enthüllen, als dass er von ihr in Bewegung gesetzt worden wäre. Nicht nur für Frankreich, sondern auch für alle anderen Kulturvölker ist Molière das Vorbild der Charakterkomödie geworden.

Molière lebte in der Zeit, in welcher Frankreich durch den Ausgang des Dreißigjährigen Krieges zur europäischen Vorherrschaft aufstieg. Es waren die goldenen Tage des französischen Absolutismus, der durch die kluge Politik des Kardinals Richelieu begründet worden war. Dieser Absolutismus baute sich ebenso auf der Entzweiung wie auf der Verschmelzung der Klassen auf, in die das französische Volk zerfiel. Er spielte die sozialen Gegensätze gegeneinander aus, und er vereinigte sie wieder in einer ausbeutenden und unterdrückenden Politik gegen das übrige Europa. In den Kriegen der Fronde war die Macht des alten Feudaladels, in den Hugenottenkriegen die Macht der jungen revolutionär aufstrebenden Bourgeoisie gebrochen, aber nicht vernichtet worden. Das französische Königtum hielt den Feudalismus mit der Bourgeoisie, die Bourgeoisie mit dem Feudalismus im Schach. Dem ganzen Leben der Nation aber gab die Tatsache, dass sie sich zum Schiedsrichter der europäischen Geschicke aufgeschwungen hatte, die lebhaftesten und stärksten Antriebe.

In dieser Atmosphäre wuchs Molière zum großen Dichter auf. Er war ein Hofdichter insofern, als er an der Spitze einer Schauspielertruppe stand, die von Ludwig XIV. angeworben worden war. Ein Hofdichter damals und ein Hofdichter heute sind aber zwei ganz verschiedene Dinge. Zu Molières Zeit war das Königtum eine moderne Macht der französischen Gesellschaft; erst lange nach Molières Tode fiel Ludwig XIV. in die feudal-reaktionäre Politik zurück, die seinen Nachkommen so verhängnisvoll werden sollte. Molière hielt es mit dem Hofe, soweit es der Hof mit der revolutionärsten der damaligen Klassen, mit der Bourgeoisie, hielt. Molière richtete seine spitzesten Pfeile gegen die heuchlerischen Pfaffen, die den König zu umgarnen trachteten und später wirklich umgarnt haben, gegen die Ärzte, die noch ganz in dem blödsinnigen Hokuspokus der mittelalterlichen Quacksalberei staken und keine Ahnung von den Naturwissenschaften hatten, die sich mit der jungen Industrie kräftig zu entwickeln begannen; er verhöhnte den Adel, der die reiche Bourgeoisie aus seinen feudalen Vorurteilen heraus tief verachtete und doch schon gezwungen wurde, an ihrem Tische zu schmarotzen. Aber Molière wäre kein großer Komödiendichter gewesen, wenn er nicht bis zu einem gewissen Grade über die Klassenkämpfe seiner Zeit erhaben gewesen wäre, wenn er nicht das bunte Gewirr der sozialen Kämpfe, das sich vor seinen Augen abspielte, in allen Teilen beobachtet und studiert hätte. Er sah auch die Kehrseite der Bourgeoisie und schilderte sie, eben im „Geizigen".

Die bürgerliche Kritik hat an diesem Lustspiel getadelt, dass es ein Gemälde des Geizes entrolle, aber keinen Geizigen als plastische Gestalt darstelle. Nichts kann verkehrter sein als dies Urteil. Gewiss, unter den heutigen Verhältnissen wäre Molières „Geiziger" eine ganz unmögliche Gestalt, ebenso wie er etwa im elften Jahrhundert eine unmögliche Gestalt gewesen wäre. Aber im siebzehnten Jahrhundert war er eine sehr greifbare, eine sehr historische Gestalt. Die heutigen Arbeiter haben nur zu sehr recht, wenn sie das Sparkassen-Evangelium des Herrn Eugen Richter1 und ähnlicher kapitalistischer Tintenkulis verlachen; deshalb hat das Sparen bis zum Geiz in seinen widerlichsten Ausschreitungen dennoch eine gewisse Rolle in der Geschichte zwar nicht des Proletariats, aber wohl des Kapitalismus gespielt. Nicht die maßgebende Rolle, wie besagte Tintenkulis schwindeln, indessen doch eine Rolle, und auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung sogar eine ziemlich bedeutende Rolle. Die Sparsamkeit, ja der Geiz waren neben dem Handel und dem Wucher wesentliche Faktoren der Kapitalbildung, solange die Produktivität der Arbeit wenig entwickelt war. Erst mit der wachsenden Produktivität der Arbeit treten sie mehr und mehr in den Hintergrund, wird die Sparsamkeit in der Haushaltung eine ganz beiläufige und gleichgültige Sache für den Kapitalismus, namentlich für den Kapitalismus auf großer Stufenleiter. So phantastisch aber Molières Harpagon als typische Gestalt des heutigen Kapitalisten erscheinen müsste, so wirklich war er zu Molières Zeit als typischer Kapitalist, als Geizhals und Wucherer in einem.

Über die Fabel des Lustspiels ist nicht viel zu sagen, sie steckt noch wesentlich in dem konventionellen Herkommen, die Lösung des Knotens im fünften Akte ist sehr äußerlich und plump. Indessen nicht darauf kam es dem Dichter an, er behandelte diese Dinge als die Nebensachen, die sie für ihn waren; seine Hauptsache war, den Charakter des Geizigen im Verkehr mit allen möglichen Menschen und im Spiegel aller möglichen Situationen sich entfalten zu lassen. Und das ist ihm meisterhaft gelungen, so meisterhaft, dass der „Geizige" seit zweihundert Jahren einen Ehrenplatz in der Geschichte der modernen Komödie behauptet hat. Was hier und da allzu grob erscheint, muss nicht nach dem Geschmack unserer, sondern nach dem Geschmack der damaligen Zeit beurteilt werden. Mag sein, dass unser Geschmack entwickelter und feiner geworden ist; dafür können wir den Kapitalisten unserer Zeit nicht in einer so greifbar lebendigen Gestalt, in einer so packenden Verkörperung, die, wo sie etwa übertreibt, doch noch immer von dem guten Rechte der satirischen Geißelung Gebrauch macht, auf die Bühne stellen wie Molière den Kapitalisten seiner Zeit. Harpagon auf der Bühne Ludwigs XIV, das wäre heute König Stumm auf den Brettern des Schauspielhauses2, und wen graute nicht bei diesem halsbrecherischen Gedanken!

Freilich hat auch Molière nicht die Gebrechen seiner Zeit lachend gestraft, ohne tiefe Wunden und schweres Siechtum davonzutragen. Aber er war ein großer Dichter und wusste wohl, dass man Großes daran setzen müsse, um Großes zu erringen, sehr im Unterschied von den Helden der sogenannten Moderne, welche die Kunst revolutionieren wollen und dabei doch keinem Nachtwächter auf die Hühneraugen treten möchten. Im Kampfe mit den mächtigen Cliquen, die er durch seinen Spott herausgefordert hatte, rieb sich Molière vorzeitig auf und verfiel einer unheilbaren Schwindsucht. Das Leben dieses großen Komödiendichters war eine große Tragödie. Als sein letztes Lustspiel „Der eingebildete Kranke", in welchem er beißender als je die Unwissenheit der damaligen Ärzte geißelte, zum vierten Male aufgeführt werden sollte, war er schon so leidend, dass seine Freunde ihm rieten, nicht aufzutreten und die Vorstellung abzusagen. „Ihr habt klug reden", antwortete er ihnen, „und vergesst nur, dass es sich dabei auch um fünfzig arme Arbeiter handelt, die von ihrem Tagelohn leben; was sollen sie machen, wenn ich nicht spiele? Das würde ein beständiger Vorwurf für mich sein!" Mit großer Mühe, unter vielen Schmerzen, brachte er seine Rolle zu Ende: dann ließ er sich in einer Sänfte in seine Wohnung tragen und starb noch an demselben Abend, ohne Beistand eines Arztes, ohne Zuspruch eines Geistlichen. Nach seinem Tode versagte ihm der Erzbischof von Paris das kirchliche Begräbnis, dagegen stellte die französische Akademie, die dem Lebenden den Eintritt versagt hatte, seine Büste in ihrem Sitzungssaal auf. Wer sich dabei lächerlich gemacht hat, der geschorene Pfaff oder die gelehrten Perücken, das ist schwer zu sagen.

Die Französische Revolution hat dann dem Andenken Molières die gebührenden Ehren erwiesen, und mit Recht. Er zählt zu ihren Vorkämpfern, obwohl er im Solde eines Königs stand. Ein deutscher Molière zu werden, war das Ziel von Lessings jugendlichem Ehrgeiz, und in der Geschichte menschlicher Befreiungskämpfe wird Molières Name stets mit Ehren genannt werden.

1 In seinen Schmähschriften gegen die Sozialdemokratie hatte Eugen Richter – besonders in der Gestalt der „Spar-Agnes" – den Gedanken entwickelt, die soziale Frage durch „Sparen" zu lösen.

2 Gemeint ist Karl Ferdinand, Freiherr von Stumm-Halberg, Großmagnat der Stahlindustrie des Saargebiets, dessen Reichtum und Einfluss sprichwörtlich für die Macht des Großkapitals war.

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