Franz Mehring 18950500 Shakespeares Publikum

Franz Mehring: Shakespeares Publikum

Mai 1895

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 9, S. 13/14. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 43 f.]

Der Ausschuss hat beschlossen, das fünfte Spieljahr mit Shakespeares „König Lear" zu beschließen und damit endlich einen der größten Dramatiker aller Zeiten in die Freie Volksbühne einzuführen. Indem wir uns eine Besprechung des Trauerspiels für unser zehntes Heft vorbehalten1, möchten wir heute ein kleines Bild von Shakespeares Bühne und Publikum entwerfen. Wir entnehmen es Rümelins Shakespeare-Studien.

Um zu wissen, vor welchem Publikum Shakespeares Meisterwerke in Szene traten, bedarf es nichts Weiteres, als sich die inneren Räumlichkeiten und Einrichtungen der Bühne jener Zeit kurz zu vergegenwärtigen. Wir lassen dabei jene niedrigen Vorstadttheater außer acht, in denen die Aufführungen von Mord- und Gräueltaten mit Prügelszenen, Hanswurstiaden, Bärenhetzen und Hahnenkämpfen wechselten, und betrachten, der bekannten Schilderung von Thomas Nash folgend, eins der vornehmsten, den Globus, in welchem die Truppe, der Shakespeare angehörte, in den Sommermonaten spielte.

Man unterschied vier Zuschauerplätze. Der erste und vornehmste war auf der Bühne selbst und in den Kulissen. Hier saßen und lagen die Gönner der Bühne, jene jungen Männer des Adels, jene Stutzer der Hauptstadt, für welche der Theaterbesuch damals zu den noblen Passionen gehörte. Hier waren die jungen aristokratischen Freunde unseres Dichters, die Grafen Southampton, Pembroke, Rutland zu treffen. In dem großen unbedeckten Hofraum, dem Parterre, waren in den vordersten Reihen die Inhaber von Freibillets, die Fachgenossen, unbeschäftigte Schauspieler, Theaterdichter, Kritiker und so weiter; hinter ihnen die aus Handwerkern, Gesellen und Lehrlingen, Bootsleuten, Fabrik- und Werftarbeitern bestehende Hauptmasse der Zuhörerschaft. Auf der ersten Galerie nahmen die vordersten Plätze die Mätressen der Vornehmsten und andere käufliche Schönheiten ein, für welche das Theater als günstige Gelegenheit der Werbung galt, wie denn in der Nähe der Bühne zur großen Beschwerde der Anwohner häufig Frauenhäuser entstanden. Hinter diesen saßen solche, die der Versuchung des Theaterbesuchs nicht widerstehen konnten und doch nicht im Theater gesehen werden wollten. Bürgerfrauen konnten nur diese Plätze besuchen, zeigten sich aber auch hier gewöhnlich nur mit Masken vor dem Gesicht. Auf der zweiten Galerie, dem letzten und wohlfeilsten Platz, war das niedrigste Publikum, Bediente, Soldaten, Dirnen zu suchen…

Es durfte niemals am Sonntage gespielt werden, auch an Werktagen auf den öffentlichen Bühnen nur bei Tage, so dass für denjenigen, der einem Beruf oder Erwerb nachzugehen hatte, ein regelmäßiger oder häufiger Besuch von selbst wegfiel. Man aß und trank während der Aufführungen; man rauchte und spielte Karten. Im offenen Parterre war der übelriechende, zu allgemeinem Gebrauch dienende Bottich, den zu entfernen die Theaterdirektionen vergebliche Versuche machten. Das Parterrepublikum war der Tyrann und Schrecken der Bühne und trieb großen Unfug, der nicht selten zu wilden Exzessen und Gewalttätigkeiten ausartete und zu polizeilichen Schließungen Anlass gab …

1 Infolge der Selbstauflösung der Freien Volksbühne erschien dieses Heft nicht mehr. Wahrscheinlich wurde der Artikel nicht geschrieben.

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