Franz Mehring 19121018 Bücherschau (Wilhelm Herzog, Heinrich v. Kleist)

Franz Mehring: Bücherschau

Wilhelm Herzog, Heinrich v. Kleist

18. Oktober 1912

[Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 116/117. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 322-324]

Wilhelm Herzog, Heinrich v. Kleist. Sein Leben und sein Werk. München 1911, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck. 694 Seiten. Preis gebunden 7,50 Mark.

Zu Kleists hundertstem Geburtstag wurde an dieser Stelle hervorgehoben1, dass ihm die Nachwelt in überreichem Maße gewähre, was ihm die Mitwelt so ganz und gar versagt habe: eine aufrichtige und dauernde Teilnahme an seinem Leben und seinen Werken. Zu den zahlreichen biographischen Arbeiten, die über ihn vorliegen, kommt nun noch eine neue, das umfangreiche Buch Wilhelm Herzogs, das nicht mit Unrecht die beste Biographie Kleists genannt worden ist.

Wilhelm Herzog hat das weitschichtige und im einzelnen doch so lückenhafte Material über Kleists Leben und Werke mit großem Fleiße gesammelt und mit nicht minder großer Umsicht gesichtet; besonders angenehm berührt, dass er sich ganz von der peinlich untertänigen Gesinnung frei hält, die das Werk Brahms über Kleist entstellt. Er geht darin eher zu weit als nicht weit genug; was er in dem Kapitel: Berlin 1809 bis 1810 über die hilflose Politik des Königs sagt, ist vollkommen zutreffend, aber „das öffentliche Leben" in Berlin stand in diesem Jahre doch nicht auf einem „so unglaublich niedrigen Niveau", dass es sich über alle Not der Zeit durch die Rückkehr Sr. Majestät in seine allergetreueste Hauptstadt hätte trösten lassen.

Allein so anerkennenswert die freimütige Gesinnung Herzogs ist, so hebt er doch nicht den entscheidenden Gesichtspunkt hervor, der, wenn nicht alles, so vieles in Kleists dunklem Schicksal erklärt: Wir meinen seine Stellung zu den bewegenden Kräften der Zeit. Herzog meint, dass Kleist zu den Fragen der inneren Politik kein Verhältnis hatte. Wäre dem so gewesen, so wäre das für einen politischen Dichter, wie Kleist doch nun einmal war, kein so nebensächlicher Umstand. Aber leider hatte Kleist eine nur allzu bestimmte Stellung zu den Fragen der inneren Politik, die zumal in seiner Zeit von den Fragen der äußeren Politik gar nicht zu trennen waren. Wenn er dämonische Töne in seinem blinden Hasse gegen die französische Fremdherrschaft gefunden hat, so hat er sehr gehässige Töne gegen die Männer gefunden, die diese Fremdherrschaft nicht als cheruskische Barbaren, sondern als zivilisierte Menschen bekämpften.

Zu dem, was wir darüber in unserem Gedenkartikel zu Kleists hundertstem Geburtstag ausgeführt haben, seien noch ein paar Nachträge gestattet. Die mächtigen Reden an die deutsche Nation, in denen Fichte die Erziehungsideale Pestalozzis verficht, verhöhnte Kleist in dem Distichon:


Setzet, ihr träft's mit eurer Kunst und erzögt uns die Jugend

Nur zu Männern wie ihr: liebe Freunde, was wär's?


Und den Tugendbund2 verspottete er in der „Hermannsschlacht" mit den Versen:


Die schreiben, Deutschland zu befreien,

Mit Chiffren, schicken, mit Gefahr des Lebens,

Einander Boten, die die Römer hängen,

Versammeln sich im Zwielicht – essen, trinken

Und schlafen, kommt die Nacht, mit ihren Frauen.


Das ist dieselbe famose Gesinnung, aus der heraus Bismarcks Tintenkulis in den Tagen des Sozialistengesetzes die sozialdemokratischen Führer denunzierten. Zu den – nicht zahlreichen – Mitgliedern des Tugendbundes gehörten Männer wie Boyen und Grolman, die die französische Fremdherrschaft siegreich bekämpften, indem sie den altfritzig-bornierten Offiziersdünkel, von dem Kleist leider noch besessen war, aus dem Heere vertrieben.

Selbst das Unrecht, das die Prinzessin Marianne gegen Kleist begangen hat, indem sie nichts für den „Prinzen von Homburg" tat, den der Dichter ihr gewidmet hatte, liegt doch nicht so ganz einfach, wie Herzog annimmt. Diese Prinzessin stammte aus Hessen-Homburg und war mit einem Bruder des Königs verheiratet. Es ist richtig, dass sie ebenso wenig wie Gneisenau, an den sich Kleist in der Not seiner letzten Tage wandte, etwas für den Dichter übrig gehabt hat. Der junge Heinrich Heine hat die Prinzessin sogar beschuldigt, dass sie das Drama Kleists noch nach dessen Tode von der Berliner Hofbühne ferngehalten habe, weil ihr Ahnherr darin eine unedle Rolle spiele. Damit ist die Sache aber nicht erledigt, wie Herzog meint. Zunächst ist das Drama, ein paar Jahre nach Heines Vermutung, auf der Berliner Hofbühne erschienen, so dass der Einspruch der Prinzessin Marianne nicht der Grund der anfänglichen Hindernisse gewesen sein kann. Dann aber war die Prinzessin eine Freundin Steins, dem sie auch nach dem Sturze des Reformministers treu blieb, zur Zeit, wo Kleist die Königin Luise, die mit wenig wählerischen Mitteln den Sturz Steins herbeigeführt hatte, inbrünstig als edle Engelsgestalt besang. Und auch der ästhetischen Bildung kann die Frau, die noch in ihren alten Tagen den jungen Freiligrath nach ihren Kräften zu fördern bemüht war, nicht so gänzlich entbehrt haben, wie Heine annahm.

Im Kleinen wie im Großen stößt man in Kleists Leben auf den feindlichen Gegensatz zu der preußischen Reformpartei, den Herzog nur ganz beiläufig behandelt. Bei allen lobenswerten Eigenschaften seines Buches hat auch er sich noch nicht völlig frei gemacht von dem Grundfehler der bürgerlichen Literaturgeschichte, die Dichter in einem Wolkenlande wandeln zu lassen, wo sie die Pfeil' und Schleudern eines wütenden Geschicks zu tragen haben, statt sie als ringende Schwimmer im Strome ihrer Zeit zu schildern.

1 „Heinrich v. Kleist“ (17. 11. 1911).

2 Tugendbund – eine in den Jahren 1808/1809 in Preußen bestehende „Gesellschaft zur Übung öffentlicher Tugenden oder sittlich-wissenschaftlicher Verein", der sich aus Vertretern des Adels und des Bürgertums zusammensetzte und sich mit der Propaganda extrem nationalistischer Ideen gegen Napoleon I. begnügte.

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