Franz Mehring 19130321 Friedrich Hebbel

Franz Mehring: Friedrich Hebbel

21. März 1913

[Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Erster Band, S. 913-917. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 543-548]

Eine innerlich verwandte Natur, wie Otto Ludwig, hat sein Altersgenosse Friedrich Hebbel, dessen hundertster Geburtstag am 18. März dieses Jahres wiederkehrte, doch ein glücklicheres Los gezogen. Seine dichterischen Gaben waren reicher, und der ganze Wurf seines Lebens war in größerem Stile angelegt.

Er entstammte nicht, wie Otto Ludwig, einer gescheiterten Kleinbürgerfamilie, deren Lebensluft die dumpfe und tatlose Verzweiflung war, sondern dem blutarmen Proletariat, das von frühesten Kindestagen an auf den Kampf ums Dasein angewiesen ist. Und ein Kämpfer ist Hebbel im letzten Grunde immer geblieben. Aber ein Kämpfer, der sich von eigenen Gnaden sein Schicksal schafft, ist er doch nicht geworden, dank der Ungunst der Zeiten, worin er schuf. Sein ganzes Leben ist eine beißende Satire auf den lahmen Philistertrost, wonach sich das Genie in der bürgerlichen Gesellschaft immer durchkämpfen soll. Bei ihm lässt sich Schritt für Schritt verfolgen, dass ihn selbst seine eiserne Energie nicht vor dem Untergang gerettet haben würde, wenn er nicht – um die Sache mit immerhin paradoxer Schärfe auszudrücken – durch einige Weiberlaunen gerettet worden wäre, von denen es zu heißen pflegt, dass sie beweglicher seien als die Welle.

Es sei mir gestattet, hier einige Zeilen zu zitieren aus einer Reihe von Aufsätzen, die ich gerade vor vierzehn Jahren im Feuilleton der „Neuen Zeit" über Hebbels dichterisches Lebenswerk veröffentlicht habe.1 Ich sage da: „In den Tiefen des Proletariats geboren, hungernd von Kindesbeinen an, unter der harten Tyrannenpeitsche eines subalternen Beamten herangewachsen, jeden Schritt aufwärts mit neuen Demütigungen erkaufend, wird Hebbel durch eine alte, gutmütige Romanschriftstellerin in die Literatur eingeführt. Aber die Gutmütigkeit dieser Dame wird weit übertroffen durch ihre Bemutterungssucht, von deren unerträglichen Foltern sich Hebbel nur befreien kann um den Preis qualvoller Hungerjahre. Dann gelingen ihm die ersten kühnen Würfe, unter dem Schutze eines Mädchens, das ihn liebt, aber von ihm nicht wiedergeliebt wird, das ihn mit ihrer Hände Arbeit behaust, bekleidet, ernährt, das ihm zwei Kinder schenkt. So wird die Retterin selbst zur furchtbaren Last für den Geretteten. Er stößt sie von dem Brett, worauf beide schiffbrüchig treiben, und gewinnt allein das Ufer, aber wieder nur, weil er im Augenblick der höchsten Not gerade noch eine hilfreiche Frauenhand ergreifen kann. Eine schöne und talentvolle Künstlerin begegnet dem Dichter der ,Maria Magdalena' in der büßenden Stimmung einer Magdalena; als er um sie wirbt, reicht sie ihm ihre Hand, aus Großmut und Mitleid, nicht aus Liebe. In der bürgerlichen Stellung eines Mannes seiner Frau schafft Hebbel nun seine Meisterwerke, bis ihn auf der Höhe seines Lebens eine tückische Krankheit dahinrafft, eine Folge der entsetzlichen Hungerqualen, die ihn in seinen jungen Jahren gefoltert hatten." Aus diesem Lebensgang Hebbels erklärt sich vieles und im Grunde alles in seinem dichterischen Schaffen.

Alle oder wenigstens alle bedeutenden Dramen seines Lebenswerkes bewegen sich um „den zwischen den Geschlechtern anhängigen großen Prozess": Judith und Holofernes, Genoveva und Golo, Klara und ihr Jugendgeliebter, Herodes und Mariamne, Agnes Bernauer und ihr Gatte, Gyges und Rhodope, Siegfried und Brunhild. Aber dieser Prozess vollzieht sich immer in ganz abnormen Konflikten: man denke an Judith, die eine Jungfrau und doch keine Jungfrau, oder an Klara, die keine Jungfrau und doch eine Jungfrau sein soll. Von der historischen Entwicklung jenes „Prozesses" hat Hebbel kein klares Bewusstsein: die Art, wie er seine dramatischen Konflikte schürzt, verrät eine Absonderlichkeit, Unsicherheit, Willkür des Empfindens, die sich nur aus seinen Lebensschicksalen, aber aus ihnen auch vollständig erklärt.

Es hängt damit zusammen, dass er seine verzwickten Konflikte in eine mit beliebiger Willkür gewählte Tracht kleidet, unbekümmert, ob und wie sie ihnen passt, im Einklang mit seiner Auffassung, dass die Geschichte nur ein buntscheckiger Haufe zweifelhafter Tatsachen sei. So ratlos wie dem Prozess zwischen Mann und Weib steht er allen historischen Prozessen gegenüber. Er hat den Sozialismus – noch in seinen letzten Lebensjahren – in so täppischer Weise verspottet, wie es heute kaum ein Soldschreiber des Reichsverbandes2 wagen würde, und doch hat er die kapitalistische Gesellschaft so unbarmherzig gegeißelt wie kaum ein revolutionärer Dichter:


Wenn du verkörpert wärst zu einem Leibe,

Mit allen deinen Satzungen und Rechten,

Die das Lebendig-Freie schamlos knechten,

Damit dem Toten diese Welt verbleibe;


Die gottverflucht, in höllischem Getreibe

Die Sünden selbst erzeugen, die sie ächten,

Und auf das Rad den Reformator flechten,

Dass er die alten Ketten nicht zerreibe:


Da dürfte dir das schlimmste deiner Glieder

Keck, wie es wollte, in die Augen schauen,

Du müsstest ganz gewiss vor ihm erröten!


Der Räuber braucht die Faust nur hin und wieder,

Der Mörder treibt sein Werk nicht ohne Grauen,

Du hast das Amt, zu rauben und zu töten.


Aber der Dichter überschrieb dies Sonett nicht: die kapitalistische, sondern die menschliche Gesellschaft; in diesem einen Missgriff fasste er gewissermaßen die ganze Tragik seines Dichterlebens zusammen.

Allein ein so eingesponnener Philister wie Otto Ludwig ist Friedrich Hebbel doch nie gewesen. Gleich diesem begann er unter den Einflüssen der Romantik zu schaffen. Dann aber kam er durch seine Bemühungen um literarischen Broterwerb doch in ziemlich nahe Berührungen mit den Jungdeutschen, namentlich mit Gutzkow, den und die er später ebenso gehasst hat, wie Otto Ludwig sie von Anbeginn hasste. In seiner „Judith" wie in seiner „Genoveva" sind jungdeutsche Einflüsse sehr zu spüren, so hoch beide Dichtungen über der jungdeutschen Dramatik stehen. Ganz frei von romantischen und jungdeutschen Eindrücken ist „Maria Magdalena", das reifste Werk seiner Jugendzeit; in der Vorrede dieses Trauerspiels, das 1843 erschien, nähert sich der Dichter jener mächtigsten Geistesströmung der vierziger Jahre, die in Philosophie und Poesie den Heerbann des Idealismus gegen die vormärzliche Reaktion aufbot. Bei allem Mangel an Schulung besaß Hebbel als dramatischer Dialektiker ein instinktives Verständnis für die dialektische Philosophie Hegels, wie denn auch der hegelianische Kritiker Rötscher zu seinen ersten und treuesten Vorkämpfern gehört hat. Selbst für die politische Lyrik der Zeit, die Hebbel später so bitter bekämpfen sollte, bekundet er in dieser Vorrede eine gewisse Sympathie. Wenn der Ästhetiker Vischer damals den gemütvollen Lyriker Mörike gegen den rhetorischen Lyriker Herwegh ausspielte, so meinte Hebbel ziemlich umgekehrt, man solle die Flöte nicht nach dem Brennholz abschätzen, das sich allenfalls für den Weltbrand aus ihr gewinnen ließe, aber das gemeine Brennholz solle sich noch weniger auf seine eingebildete Verwandtschaft mit der Flöte dicke tun.

Jedoch Hebbel vermochte sich nur insoweit der revolutionären Geistesströmung zu nähern, als er in seinem bürgerlichen Trauerspiel gesellschaftliche Konflikte zu ergreifen wusste. Und diese Konflikte umfassten nur ein kleines Stück der historischen Wirklichkeit. Die Tragödie, die sich in den vier Pfählen des Tischlermeisters Anton abspielt, war in äußerst beschränktem Maße ein „Spiegel der Zeit", wie sie nach der Absicht ihres Dichters sein sollte. Bei allem Philistertum war das Deutschland der vierziger Jahre über die atemraubende, herzbedrückende Enge hinweggeschritten, in der sich das tragische Schicksal der Tischlerstochter vollzieht. In dieser Beziehung steht Schillers um mehr als ein halbes Jahrhundert älteres Trauerspiel aus der kleinbürgerlichen Welt ungleich höher als Hebbels „Maria Magdalena"; in „Kabale und Liebe" weht ein revolutionärer Atem, der heute noch ein empfängliches Publikum aufrüttelt, während wir die Welt des Meisters Anton so wenig mehr verstehen, wie er die Welt, die über ihn fortschritt.

Hebbel hat das Meisterwerk seiner Jugend in Paris gedichtet. Wie Otto Ludwig vom Herzog von Meiningen, hatte er – als geborener Schleswig-Holsteiner – vom König von Dänemark ein Stipendium erhalten, aber während Ludwig nicht über Leipzig und Dresden hinauskam, reiste Hebbel von Kopenhagen nach Paris, von da nach Rom und endlich nach Wien. In diesen Jahren hat er sich der großen Zeitfragen zu bemächtigen gesucht: mit gänzlichem Misserfolg. Das „Trauerspiel in Sizilien", eine ganz gewöhnliche Kriminalgeschichte – zwei italienische Gendarmen ermorden ein Mädchen, um ihre Kostbarkeiten zu teilen, und zeihen dann ihren Liebhaber der Tat, bis ein Zufall sie entlarvt –, soll die tiefe Kluft zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Klassen vergegenwärtigen, und nun gar die „Julia" mit ihrer Räuberromantik, die den leichtsinnigen Schmausern der Zeit den „Totenkopf" auf den Tisch setzen sollte, ruft die peinlichsten Erinnerungen an Kotzebue wach.

Gewiss waren die Anfänge Hebbels reicher als die Anfänge Ludwigs: „Judith" wie „Maria Magdalena" sind Kunstwerke von bleibendem Werte. Aber was man die „klassische Zeit" der beiden Dichter nennen mag, stand bei dem einen wie bei dem anderen unter dem Stern der Gegenrevolution. Wie der „Erbförster" die blutige Niederwerfung des Dresdener Maiaufstandes voraussetzt, so schrieb Hebbel sein Trauerspiel „Herodes und Mariamne", womit er die Reihe seiner großen historischen Dramen eröffnete, in der „Wiener Schreckenszeit", das will sagen im Herbst 1848, als sich das Wiener Proletariat in heldenmütigem Widerstand den mordenden und plündernden Kroaten der Gegenrevolution entgegenwarf.

Nichts lächerlicher, als wenn eine verstiegene Ästhetik in Hebbel den überlegenen Genius erblicken will, der über alle politischen Erbärmlichkeiten des Tages hinweg seinen ruhigen siegessicheren Gang geschritten sei. Man kann dann nur bedauern, dass dieser überlegene Genius sich nicht anders zu helfen gewusst hat als in den kläglichsten Angstmeiereien des ersten besten Philisters. Vergebens sucht man in Hebbels Briefen und Tagebüchern nach dem kleinsten Zeichen des Verständnisses für den historischen Zusammenhang der Revolution. Freilich räsoniert er auch über den vormärzlichen Absolutismus, wie der Spießbürger schließlich über alles räsoniert, aber die Revolution ist ihm doch immer das schlechthin Widerwärtige, und mit der Gegenrevolution richtet er sich in der behaglichsten Weise ein. Er lebt und webt in ihrem Dunstkreise, verleugnet das Vorwort zur „Maria Magdalena", schilt auf Herwegh als einen „poetischen Rhetor", nennt Freiligraths Glaubensbekenntnis „unreif", während er selbst die hölzernsten Reimereien auf den Kaiser von Österreich und den König von Preußen fabriziert, und wie Schopenhauer für seinen Pudel Atma, so schwärmt Hebbel für sein „Herzi, Lampi, Schatzi", ein Eichkätzchen oder sonst ein Viech, dessen Eingehen derselbe Poet in unendlichen Winseltönen bejammert, der auch nicht ein Wort der Teilnahme für Robert Blums oder der ungarischen Generale Märtyrertod gehabt hatte.

Hebbel selbst ist auch viel vernünftiger gewesen als seine atemlosen Bewunderer. Er hat nicht das geringste Hehl daraus gemacht, dass seine „Agnes Bernauer" dazu bestimmt war, die Gegenrevolution zu verherrlichen, dass er durch seine „aus der Tiefe heraufgeholte" Auffassung des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum den „Ultrademokraten" einen argen Possen spielen wollte. Aus der Tiefe heraufgeholt war seine Auffassung allerdings, nämlich aus der Tiefe einer unergründlichen Konfusion. Während selbst konservative Historiker darüber klagten, dass eine siegreiche Partei ihre augenblickliche Überlegenheit niemals so gewissenlos missbraucht habe wie die siegreichen Junker der fünfziger Jahre, stellt Hebbel die Dinge einfach auf den Kopf und bildet sich ein, dass alle Schandtaten dieser junkerlichen Reaktion Siege des Staates über das Individuum seien, wie einst die Mordtat des bayerischen Herzogs an der Agnes Bernauer.

Die Fülle der dichterischen Schönheiten, die die späteren Dramen Hebbels enthalten – „Agnes Bernauer" freilich am wenigsten, aber in steigendem Maße „Herodes und Mariamne", „Gyges und sein Ring", die „Nibelungen" und dann wieder in etwas sinkendem Maße der leider nicht vollendete „Demetrius" –, soll damit in keiner Weise herabgesetzt werden. Im Gegenteil! Alles, was groß und mächtig an diesem Dichter war, der alles in allem doch wohl der größte Dramatiker der deutschen Literatur gewesen ist, tritt um so größer und mächtiger hervor, je klarer die tausend Hindernisse werden, die er überwinden musste und doch nicht völlig überwinden konnte, bis er auf die stolze Höhe seiner Kunst gelangte. Und was er etwa gefehlt hatte, hat er allzu schwer gebüßt dadurch, dass die künstlerischen Schätze, die er hinterlassen hat, den Massen doch mehr oder weniger fremd geblieben sind bis auf den heutigen Tag.

Mit Recht hat man ihm den seltenen, dem Dilettanten allezeit unverständlichen Sinn für die Totalität des Kunstwertes nachgerühmt. Er baute im großen Stile und schuf aus dem Vollen; in seinen künstlerischen Forderungen war er von einer strengen Wahrhaftigkeit, wie gegen andere, so gegen sich selbst. Und wie er aus dem innersten Zwange seiner Künstlernatur mit Lessing und Schiller stritt, ohne doch je zu verkennen, was groß an ihnen war, so darf uns alles, was wir an Hebbel ablehnen müssen, doch nicht daran irre machen, dass er ein Großer war im Reiche der Kunst.

1 Siehe den Aufsatz „Literarhistorische Streifzüge" (1899).

2 Gemeint ist der 1903 gegründete Reichsverband gegen die Sozialdemokratie.

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