Franz Mehring 19000207 Literarhistorische Streifzüge

Franz Mehring: Literarhistorische Streifzüge

Februar 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 634-640, 667-672, 699-704, 794-800. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 21-54]

Adolf Bartels. Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Zweite Auflage, 272 Seiten. Leipzig 1899, Eduard Avenarius.

Richard M. Meyer, Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. 966 Seiten. Berlin 1900, Georg Bondi.

Von diesen beiden neuesten Literaturgeschichten enthält die erste mehr, die zweite weniger, als ihre Titel verheißen. Bartels1 behandelt die deutsche Literatur nicht bloß in der Gegenwart, sondern in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, während Meyer über die erste Hälfte dieses Jahrhunderts ziemlich flüchtig hinweg eilt, um desto ausführlicher bei seiner zweiten Hälfte zu verweilen. Tatsächlich bewegen sich also beide Schriften auf demselben Gebiet, ihr Wert aber steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Umfang: von beiden ist Meyers Schrift die ungleich umfangreichere, die Schrift von Bartels die ungleich wertvollere.

Meyer gehört zur Schule Scherers2 und hat demgemäß keine blasse Ahnung von dem Zusammenhange der literarhistorischen mit der allgemein historischen Entwicklung überhaupt. Seine ökonomischen und politischen Kenntnisse beschränken sich auf den allgemeinsten Phrasenschatz des reichstreuen Spießbürgers, von dem sie sich etwa nur durch einen unangenehmen Stich ins Byzantinisch-Untertänige abheben. Wenn Herr Meyer einmal über die Grenzen der ästhetisch-philologischen Schulmeisterei hinaus dringt, so geschieht es in den lustigsten Kopfsprüngen, wobei jedoch anerkannt werden muss, dass er innerhalb jener Grenzen den Bakel nicht ohne Einsicht und Würde zu schwingen weiß, ganz nach dem Muster der Schule, die ihn gebildet hat. Unter dem Gesichtspunkt der ästhetisch-philologischen Kleinarbeit enthält sein Buch manche lesenswerten Partien, aber ein historisches Werk ist es nicht.

Dagegen orientiert Bartels in seinem schmalen Bändchen wirklich. Er ist der Literarhistoriker des „Kunstwarts", einer Halbmonatsschrift, die sich je länger je mehr auf dem Gebiet der periodischen Kunstliteratur den führenden Platz erobert, in ausgesprochenem Gegensatze zur Schererei.

Der „Kunstwart" bemüht sich, die Kunst als unlösbares Glied der allgemeinen Kulturentwicklung aufzufassen, ohne doch je zu verkennen, dass sie ihre eigenen Gesetze hat; seine aufrechte und männliche Haltung beweist in tröstlicher Weise, dass er auch am Künstler das Rückgrat zu schätzen weiß, wie es an jedem Kulturmenschen geschätzt zu werden verdient. Vielleicht ist die gesunde Reaktion, die der „Kunstwart" auf künstlerischem Gebiete vertritt, mit einer gewissen Hausbackenheit und Nüchternheit verbunden, indessen ist daran nicht viel gelegen; nach all der ästhetischen Schaumschlägerei, womit die Schererschen den Gaumen verdorben haben, gehört am Ende sogar ein Stück groben Brotes dazu, um wieder einen gesunden Geschmack herzustellen.

Was vom „Kunstwart" gilt, das gilt auch von seinem Literarhistoriker Bartels. Auf jeder Seite seiner Literaturgeschichte hat man den angenehmen Eindruck, dass ihm die Kunst eine sehr ernsthafte Sache ist, kein Spiel des Luxus, kein Zeitvertreib für die oberen Zehntausend, kein Präparat für die Studierlampe, sondern eins jener großen Vermögen, ohne die kein Kulturvolk sich voll ausleben kann. Bartels besitzt den historischen Blick, den man an Meyer vergebens sucht; mit instinktmäßiger Sicherheit weiß er das Bedeutende vom Unbedeutenden zu unterscheiden. Aber freilich, von der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung, die allein erst eine wirkliche Literaturgeschichte begründen kann, bleibt Bartels noch eine gute Strecke entfernt. Er ist jung, und sein überaus eingehendes Studium der Literatur hat ihm wohl nicht die nötige Muße für die ökonomischen und politischen Arbeiten gelassen, deren er bedarf, um seine beträchtlichen Gaben für den Beruf des Literarhistorikers auszubilden. Manche seiner Urteile, die den Nagel auf den Kopf treffen, lassen sich viel schlüssiger und tiefer begründen als durch jenen Blick und Instinkt, der ihn übrigens auch nicht immer glücklich berät, sondern manches Mal gar sehr in die Irre führt, eben weil es mit ihm allein für die historische Wissenschaft doch nicht getan ist.

Anregend bleibt das Buch von Bartels aber auch in seinen schwächeren Teilen, und so möchte ich versuchen, den Faden da, wo er ihn abreißt, wenigstens an einigen Stellen weiterzuspinnen. Ich beabsichtige keineswegs, die deutsche Literatur seit 1850 auch nur in ihren allgemeinsten Umrissen darzustellen, was sich schon aus räumlichen Rücksichten verbieten würde, sondern ich will nur ihren inneren Zusammenhang mit der ökonomischen und politischen Entwicklung der gleichen Zeit aufzeigen, wo er selbst von Bartels, geschweige denn von Meyer und den sonstigen Schülern Scherers verkannt wird.

I

Bartels führt gleich in seinem ersten Kapitel mitten in die Fragen, um die es sich handelt. In der Zeit von 1850 bis 1865 sieht er „das silberne Zeitalter der deutschen Dichtung" und begründet diese Auffassung etwa so. Die alte Annahme, dass politischer Aufschwung oder Verfall mit literarischem Aufschwung oder Verfall zusammenfiele, sei nicht zu halten. Noch viel weniger könne man eine Bedeutung einzelner großer politischer Ereignisse für die Literatur nachweisen; 1848 und 1870 hätten im Grunde gar keine literarische Wirkung gehabt. „Nach der landläufigen Auffassung haben wir von 1830 bis 1848 eine revolutionäre und von 1848 an eine reaktionäre Poesie, die erst in den achtziger Jahren wieder von einer neuen revolutionären abgelöst wird. Aber diese Auffassung ist ganz einseitig, politisch doktrinär. Namentlich tut man der Zeit nach 1850 bitter unrecht, wenn man sie einfach als Reaktionsperiode erfasst, in der eine gesunde, starke Poesie gar nicht habe aufkommen können. Gerade diese vielgeschmähte Reaktionszeit birgt einen neuen Aufschwung der deutschen Dichtung, der freilich nicht von Bestand war, aber doch eine Reihe bedeutender Dichter und vorzüglicher Werke hervortreten ließ, deren Wirkungen noch heute trotz alles neuen Sturms und Dranges fast unvermindert fortdauern. Die Wurzeln dieses Aufschwungs liegen zum Teil in der Zeit vor 1848, ja einzelne der bedeutendsten Dichter waren vor diesem Jahre sogar schon berühmt geworden… Will man mit einem Schlagwort die ganze Literatur der Zeit kennzeichnen, so muss man nicht das politische Schlagwort ,Reaktion' wählen, sondern das ästhetische ,Rückkehr zur Kunst', das Adolf Stern zuerst angewandt hat." Soweit Bartels seine Auffassung durch die Aufzählung der namhaften Dichter beweisen will, die in den fünfziger Jahren gelebt haben, gehe ich nicht näher darauf ein; diese Seite der Sache nimmt er allzu sehr auf die leichte Schulter. Gewiss lebten die von ihm aufgezählten Arndt, Tieck, Schefer, Pückler-Muskau, Kerner, Uhland, Eichendorff, Rückert, Zedlitz, Grillparzer usw. noch in den fünfziger Jahren, aber nur weil sie nicht gestorben waren und nicht weil sie literarisch noch etwas bedeuteten.

Bemerkenswert ist dann aber noch der Blick, den Bartels auf die sozialen Zustände wirft. Er schreibt: „Bedeuten die politischen Ereignisse für die Literatur im allgemeinen sehr wenig, so haben die sozialen Verhältnisse um so größere Bedeutung. Die fünfziger und die ersten sechziger Jahre sind nun, mögen sie auch politisch zunächst eine Reaktionszeit sein, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus eine Zeit gewaltigen Aufschwungs, in ihnen erhält das heutige Deutschland durch die Ausbildung der modernen Verkehrsmittel und die allgemeine Verbreitung der Industrie seine Physiognomie, das liberale Bürgertum wird die herrschende Klasse in Deutschland, und der Nationalwohlstand schwillt unter kapitalistischen Formen gewaltig an." Bartels sieht darin eine günstige Konstellation für die Entwicklung der Literatur; die Auswüchse des Kapitalismus zeigten sich noch nicht und mit ihnen auch noch nicht die schroffen Klassenkämpfe, der wachsende Wohlstand gestattete, an den Schmuck des Daseins zu denken; genug, es war eine der Dichtung günstige Zeit; neben einer Anzahl hervorragender Talente hatte die deutsche Literatur auch zwei Genies, wenn auch nur „partielle" Genies aufzuweisen, in Friedrich Hebbel und Otto Ludwig.

Diese ganze Auseinandersetzung, womit Bartels beginnt, ist nun eine wunderliche Mischung von Wahrem und Falschem. Er wehrt sich mit Recht gegen die schablonenhafte Auffassung, wonach Aufschwung und Verfall der Politik Hand in Hand mit Aufschwung und Verfall der Literatur gehe; ebenso verwirft er mit Recht die einfache Abschlachtung der fünfziger Jahre als einer „Reaktionszeit"; was er über ihren ökonomischen Aufschwung sagt, stimmt durchaus, und es lässt sich auch sehr wohl begründen, dass die Literatur der fünfziger Jahre in ihren Wirkungen bis auf den heutigen Tag fortdauern soll. Aber mitten auf dem richtigen Wege, den Bartels einschlägt, bleibt er stehen, und um nicht politisch-doktrinär zu werden, wird er ästhetisch-doktrinär. Statt zu untersuchen, wie der politische Niedergang der fünfziger Jahre mit ihrem ökonomischen Aufschwunge zusammenhängt und wie beide auf die literarische Entwicklung gewirkt haben, dekretiert er einfach, die politischen Ereignisse hätten für die Literatur nichts zu bedeuten, wohl aber die sozialen Zustände, und so wird ihm die „Reaktion" einfach eine „Rückkehr zur Kunst", was ein Schlagwort mit dem anderen totschlagen oder selbst den Teufel durch Beelzebub vertreiben heißt.

Greifen wir einmal aufs Geratewohl in die Dichtung der beiden Genies, die Bartels an die Spitze seines „silbernen Zeitalters" stellt. Das erste Drama, das Hebbel in den fünfziger Jahren dichtete, war „Agnes Bernauer". Er will darin, wie er in seinem Tagebuche schreibt, das Verhältnis des Individuums zum Staate schildern, ohne „gegen die gesellschaftlichen Konventionen" zu verstoßen, und fügt hinzu: „Die Ultrademokraten werden mich freilich steinigen, doch mit Leuten, die Eigentum und Familie nicht respektieren, die also gar keine Gesellschaft wollen, ja, die konsequenterweise auch nicht den Menschen, das Tier, den Baum usw. wollen können, weil das doch auch Kerker freier Kräfte, nämlich der Elemente, sind, habe ich nichts zu schaffen." So skurril wie dies Urteil Hebbels über die „Ultrademokraten", so skurril ist die reaktionäre Tendenz der „Agnes Bernauer", worüber noch zu sprechen sein wird.

Das erste Drama aber, das Otto Ludwig in den fünfziger Jahren schrieb, war der „Erbförster", nach dem eigenen Zugeständnis des Dichters ein „Warnungsbild" gegen die Revolution. Der biedere Erbförster, der nicht zu kapieren vermag, dass ihm als „Arbeitnehmer" allemal von seinem „Arbeitgeber" gekündigt werden könne, und der dadurch in alle Gräuel der Schicksalstragödie gerät, soll das instinktive Rechtsgefühl der Massen bloßstellen, und schmutzigen Strolchen legt der Dichter folgende Philosophie der Revolution in den Mund: „Das wissen die Menschen jetzt, dass die in den Zuchthäusern verehrungswürdige Dulder sind, und die Vornehmen sind Spitzbuben, und wenn sie noch so ehrlich wären. Und die Fleißigen sind Spitzbuben, denn die sind schuld, dass die armen Leute, die nicht arbeiten mögen, arm sind." Es war noch nicht ein Jahr seit dem Maiaufstände von 1849 verflossen, als der „Erbförster" zuerst unter großem Beifall auf der Dresdener Hofbühne erschien, unter den Augen des Ministers Beust, der die Gefangenen des Maiaufstands im Zuchthause von Waldheim zum Entsetzen der gesitteten Welt folterte: darunter den Kapellmeister Rockel, der wie andere Künstler, wie Richard Wagner und Gottfried Semper, am Maiaufstande teilgenommen hatte, nicht weil sie in den Zuchthäuslern verehrungswürdige Dulder erblickten, sondern weil eine deutsche Dynastie ihr feierlich verpfändetes Wort brach und die nationalen Interessen verriet. Eine ästhetische Geschmack- und sittliche Taktlosigkeit gleich groben Kalibers, wie sie Otto Ludwig in solchen Ausfällen des „Erbförsters" beging, wird man in der revolutionären Lyrik der vierziger Jahre vergebens suchen.

Hebbel dichtete in den fünfziger Jahren dann weiter sein Epos „Mutter und Kind", das sich ziemlich anspruchsvoll neben Goethes „Hermann und Dorothea" stellte und so etwas wie ein Weltbild geben wollte. Darin kommt er auch auf den Sozialismus zu sprechen. Der Held des Gedichts, der Fuhrmann Christian, gerät in ganz harmlose Verwicklungen mit der Polizei, während deren er einen alten Kameraden trifft und von diesem also angesprochen wird:


Es wird bei uns auch, ehe wir's denken,

Anders werden und besser. Du blickst erstaunt und verwundert?

Bruder, das ist nicht geprahlt…

Du weißt doch, dass man Dich einmal

Schändlich bestahl? Wo hast Du Güter? Wo stehen die Häuser,

Die Du vermietest? Wo wiehert Dein Gaul? Wo melkst Du die Kühe?

Schurken haben Dir alles entrissen, noch eh' Du geboren

Wurdest, und halten es fest. Das hat der klügste Franzose

Ausgespürt: wer besitzt, ist ein Dieb, und so viele Dukaten,

Ebenso viele Verbrechen! Doch wird's nicht lange mehr dauern,

Denn das jüngste Gericht ist nah. Du musst nicht erwarten,

Dass in den Wolken die Engel mit ihren Posaunen erscheinen,

Diesen hat man die Flügel gestutzt, wir blasen uns selber,

Statt des Zeichens zu harren, und schleifen inzwischen die Äxte!

Deinen Jungen beneid' ich! Er wächst ins goldene Alter,

Wie in den Frühling hinein und wird nur im Tanze noch schwitzen.

Aber wie kommst Du mir vor? Du machst ein Gesicht wie ein Reicher?

Bist Du's etwa geworden? Ich hörte so manches in Hamburg.

Hast Du im Trüben gefischt und eilst Dich sicher zu stellen?

Freund, entdecke Dich mir. Vor einem Jahre noch hätt' ich

Dich beim Kragen gepackt und laut nach dem Büttel geschrien.

Heute sage ich Dir: noch ehe die dummen Gesetze

Dich erreichen, wonach der Dieb den wahren Besitzer

Straft, sind alle getilgt. Das habe ich selber von Weitling,

Dem es Christus vertraute, denn der ist lange schon unten,

Und sie sehen sich oft und sind die besten Bekannten.


Das ist schon eine ungemein geistreiche Schilderung des Sozialismus, aber es kommt noch besser. Auf die Rede des anderen schlägt Christian mit der Faust auf den Tisch und donnert ihn also nieder:


Was Dich selber betrifft und Deine verworfenen Lehren,

So verlass Dich darauf, ich würde, wenn ihr euch regtet,

Selbst den Wuch'rer beschützen, und wären wenige Stunden

Früher mein Weib und mein Kind vor seiner Türe verhungert,

Und ich hätt' nur noch Kraft zu einem einzigen Schlage.

Denn Ihr seid ja ärger, als Feuer und Wasser und alles,

Und wer fragt, wenn es brennt, nach Freunden und Feinden beim Löschen?

Dieses wäre gesagt – und nun für immer geschieden!


König Stumm3 könnte den kapitalistischen Musterknaben von Proletarier nicht herrlicher schildern, als ihn Hebbel hier in seinem Helden darstellt.

Mit der „Rückkehr zur Kunst" ist es darnach eine sehr eigene Sache, und stände die Wahl nur zwischen ihr und der „Reaktion", so möchten sich für diese die ungleich gewichtigeren und zahlreicheren Zeugnisse beibringen lassen. Allein dieser Gegensatz, so wie Bartels ihn stellt, erschöpft den historischen Zusammenhang nicht. Will man die deutsche Literatur in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit einem Worte kennzeichnen, so mag man sie eine nachrevolutionäre Literatur nennen. Damit ist keineswegs gesagt, dass sie eine reaktionäre Literatur gewesen sei, sondern nur, dass die Revolution von 1848 einen tiefen Einschnitt nicht nur in die ökonomische und politische, sondern auch in die literarische Entwicklung des deutschen Volkes gemacht, dass sie der Literatur andere Wege gewiesen hat, als diese in der ersten Hälfte des Jahrhunderts gegangen war. Schon aus der einfachen Tatsache, dass die Revolution von 1848 in der Form zwar eine politische, aber im Wesen eine soziale Revolution war, hätte Bartels nach seiner eigenen Theorie schließen müssen, dass diese Revolution die stärkste Wirkung auf die Literatur gehabt haben müsse. Jedoch wäre er damit auch nur in einer schematischen Auffassung steckengeblieben, die auf literarhistorischem Gebiete so wenig angebracht ist wie auf irgendeinem anderen historischen Gebiet. Es kommt darauf an, die Dinge im Einzelnen zu untersuchen.

Zum Erweise seines Satzes, dass 1848 „im Grunde" gar keine literarische Bedeutung gehabt habe, beruft sich Bartels darauf, dass die Wurzeln des Aufschwungs, den die deutsche Literatur nach seiner Meinung in den fünfziger Jahren genommen hat, zum Teil in die Zeit vor 1848 zurückgereicht hätten und einzelne der bedeutendsten Dichter schon vor diesem Jahre berühmt gewesen seien. Darin liegt nun wieder etwas unzweifelhaft Wahres. Wie in aller Geschichte, so ist auch in der Literaturgeschichte die Tradition eine starke Macht, und am wenigsten lassen sich Anfang und Ende literarischer Entwicklungen an bestimmte Kalendertage knüpfen. Wie Bartels selbst einmal hervorhebt, war die Romantik schon in vollem Aufmarsche begriffen, als die klassische Dichtung noch auf ihrem Höhepunkt stand, und es gibt überhaupt keine Periode der deutschen Literatur, in der nicht mancherlei Fäden aus ihren früheren Perioden weitergesponnen wären. Gewiss haben manche Dichter vor dem 18. März nicht anders oder nicht viel anders gesungen als nach ihm, aber es waren entweder Dichter, deren Entwicklung längst abgeschlossen, oder Dichter zweiten und dritten Ranges, deren Flöte nur auf einen oder einige wenige Töne gestimmt war. Allein auch unter dieser selbstverständlichen Einschränkung ist das Jahr 1848 ein so bedeutsamer Wendepunkt in der deutschen Literatur gewesen wie kein Jahr vor oder nach ihm. So hat es auf Gutzkow und Freytag, die niemand zu den Talenten ersten Ranges zählen wird, aufs tiefste eingewirkt; es gehört doch nur ein sehr mäßiges Stilgefühl dazu, um zu erkennen, dass die „Ritter vom Geiste" und „Soll und Haben" in den vierziger Jahren so unmöglich gewesen wären wie „Uriel Acosta" und „Die Valentine" in den fünfziger Jahren. Freilich meint Bartels, Gutzkow und Freytag seien nach der Revolution eben auch zur Kunst zurückgekehrt, aber was damit gesagt sein soll, ist in diesem Falle besonders schwer verständlich. Freytags und Gutzkows Werke waren in den fünfziger Jahren ja viel enger mit ökonomischen und politischen Tagesfragen verflochten als in den vierziger Jahren: es war kein ästhetisches Werturteil, sondern eine sehr nackte ökonomisch-politische Tendenz, die den Literarhistoriker Julian Schmidt veranlasste, „Soll und Haben" ebenso zu feiern wie die „Ritter vom Geiste" herunterzureißen.

Jedoch um der Ansicht von Bartels möglichst entgegenzukommen, so hat er in erster Reihe Friedrich Hebbel im Auge, wenn er einen Einfluss der Revolution auf die Literatur leugnet. Er stellt ihn an die Spitze seiner Darstellung, und nicht nur chronologisch; sieht man etwa davon ab, dass Heine mit seinem Schwanengesange noch in die fünfziger Jahre hineinreicht, so wird sich nichts dagegen einwenden lassen, dass die zweite Hälfte des Jahrhunderts kein dichterisches Ingenium gesehen hat, das sich mit Hebbel vergleichen ließe. An Größe und Kühnheit des dichterischen Schaffens übertrifft er sie alle, und nicht zuletzt auch Otto Ludwig, den Bartels ihm an die Seite stellt. Es ist nun freilich wunderbar, dass dieser größte Dichter des „silbernen Zeitalters" niemals zu der Anerkennung gelangt ist, die er verdiente, ja, dass er nur in verhältnismäßig engen Kreisen bekannt geworden ist, in denen er obendrein neben einer kleinen Schar enthusiastisch übertreibender und insofern etwas kompromittierlicher Verehrer überwiegend heftige Gegner gefunden hat. Bartels sucht das Rätsel durch die Annahme zu lösen, dass die liberale Bourgeoisie der fünfziger und sechziger Jahre keine Tragödie habe brauchen können, was sich denn freilich schwer damit reimt, dass sie günstige Vorbedingungen für die Entwicklung einer gesunden und starken Poesie geschaffen haben soll.

Vielleicht gibt es kein deutsches Dichterleben, an dem sich die völlige Unzulänglichkeit der beschränkt ästhetisierenden Auffassung so schlagend erweisen ließe, als das Leben Hebbels. Dabei liegt das biographische Material über ihn in seltener Vollständigkeit vor, seine Briefe und seine umfangreichen Tagebücher sind längst veröffentlicht; auch hat Emil Kuh schon vor ein paar Jahrzehnten seine Biographie in zwei dicken Bänden herausgegeben, die, von Bartels als „monumentales" Werk geschätzt, wenigstens als Materialiensammlung wertvoll, wenn auch sonst von durchaus subalternem Standpunkt aus geschrieben ist. Kein bürgerlicher Literarhistoriker, der seit fünfzig Jahren aufgetreten ist und sich nicht in ästhetischem Tiefsinn über Hebbel verbreitet hätte; die neuste Probe gibt Meyer auf vierzig oder mehr Seiten, voll spintisierender Haarspaltereien, ohne dass er doch, sowenig wie seine Vorgänger, dem historischen Wesen Hebbels beizukommen weiß. Bartels macht gewiss einen beträchtlichen Fortschritt; in allgemeinen Zügen weiß er Hebbels Lebensbild wohl zu treffen, aber doch nur erst in verschwimmenden Zügen. Er geht nicht bis auf den Grund, wo er festen Fuß fassen könnte, und so schwankt er hin und her, wie in jenem Widerspruch, dass die fünfziger Jahre einen starken Aufschwung der Poesie gebracht, aber gleichwohl den stärksten Vertreter dieses Aufschwungs gleichmütig abgetan haben sollen.

Es sei deshalb gestattet, ein Bild Hebbels auf dem Hintergrunde seiner Zeit zu entwerfen; seine Entwicklung in vor- wie in nachrevolutionären Tagen ist überaus lehrreich und beleuchtet eine Reihe von Fragen, die sich durch theoretische Auseinandersetzungen nur viel schwieriger und jedenfalls nur viel weitläufiger beleuchten ließen.

II

Hebbels Leben ist eine beißende Satire auf den alten, gelegentlich auch von Bartels vorgebrachten Philistertrost, dass sich das Genie in der bürgerlichen Gesellschaft immer durchkämpfe. Weil es eine Reihe von Fällen gibt, in denen große Begabungen sich durch die schwersten und manchmal schier unglaublichen Hindernisse hindurch gerungen haben, so behauptet der Spießbürger, es müsse immer so sein, und die alte Fabel erhält sich desto hartnäckiger, je schwieriger der Gegenbeweis ist, je weniger die unzähligen Talente, die durch den Organismus der bürgerlichen Gesellschaft im Keime erstickt werden, ihre anklagende Stimme erheben können, je mehr also den Interessenten dieser Gesellschaft einleuchtet, dass wo kein Kläger ist, auch kein Richter sei. Bei Hebbel ist nun aber urkundlich nachzuweisen, dass selbst seine eiserne Energie den Untergang seines Genius nicht gehindert hätte, dass wir diesen Genius nur – um es sehr krass und deshalb subjektiv ungerecht, wenn auch objektiv zutreffend auszudrücken – einigen Weiberlaunen verdanken, von denen es zu heißen pflegt, dass sie beweglicher seien als die Welle.

Werfen wir einige rasche Blicke auf Hebbels Leben, so wie es sein Biograph mit Genehmigung seiner Witwe dargestellt hat! In den Tiefen des Proletariats geboren, hungernd von Kindesbeinen an, unter der harten Tyrannenpeitsche eines subalternen Beamten herangewachsen, jeden Schritt aufwärts mit neuen Demütigungen erkaufend, wird Hebbel durch eine alte, gutmütige Romanschriftstellerin in die Literatur eingeführt. Aber die Gutmütigkeit dieser Dame wird weit übertroffen von ihrer Bemutterungssucht, von deren unerträglichen Foltern sich Hebbel nur befreien kann um den Preis qualvoller Hungerjahre. Dann gelingen ihm die ersten kühnen Würfe, unter dem Schutze eines Mädchens, das ihn liebt, aber von ihm nicht wiedergeliebt wird, das ihn mit ihrer Hände Arbeit behaust, bekleidet, ernährt, das ihm zwei Kinder schenkt. So wird die Retterin selbst zur furchtbaren Last für den Geretteten. Er stößt sie von dem Brett, worauf beide schiffbrüchig treiben, und gewinnt allein das Ufer, aber wieder nur, weil er im Augenblick der höchsten Not gerade noch eine hilfreiche Frauenhand ergreifen kann. Eine schöne und talentvolle Künstlerin begegnet dem Dichter der „Maria Magdalena" in der büßenden Stimmung einer Magdalena; als er um sie wirbt, reicht sie ihm ihre Hand, aus Großmut und Mitleid, nicht aus Liebe. In der bürgerlichen Stellung eines Mannes seiner Frau schafft Hebbel nun seine Meisterwerke, bis ihn auf der Höhe des Lebens eine tückische Krankheit dahinrafft, eine Folge der entsetzlichen Hungerqualen, die ihn in seinen jungen Jahren gefoltert hatten.

Über diesen Lebenslauf lassen sich viele moralische und auch viele sentimentale Betrachtungen anstellen, und sie sind von den Philistern überreichlich in Glimpf und Schimpf angestellt worden. Jedoch die eine Frage, auf die es ästhetisch und literarhistorisch allein ankommt, ist dabei immer unberührt geblieben, die Frage: wie hat diese Pferdekur auf die Entwicklung des dichterischen Genius gewirkt? Die bürgerliche Literarhistorie benutzt die Lebensumstände eines Dichters im günstigsten Falle, um die Farbe seiner Stimmung, die Wahl seiner Stoffe, die Gestaltung seiner Charaktere zu beleuchten, aber Art und Maß der künstlerischen Begabung nimmt sie als eine gegebene, als eine natürliche Tatsache hin, die zu beschreiben und nicht weiter zu erklären ist. Nun ist die künstlerische Begabung selbstverständlich eine Mitgift der Natur, aber nicht minder selbstverständlich machen die gesellschaftlichen Verhältnisse erst aus ihr das, was der historischen Forschung unterliegt. Niemand kann einem Säugling ansehen, ob in ihm ein Künstler schlummert; sobald sich aber die ersten Spuren der künstlerischen Begabung zeigen, steht sie längst unter dem Banne der Gesellschaft. Es gibt keinen Künstler, dessen künstlerisches Wesen zu begreifen wäre ohne steten Hinblick auf die gesellschaftlichen Zustände, in denen er gelebt hat. Da die bürgerliche Literaturgeschichte hiervon nichts wissen, aber dennoch die unendliche Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens bemeistern will, so hat sie schematische Systeme ausgebildet, in deren bald so, bald so betitelten Rubriken die einzelnen Dichter je nach dieser oder jener ideologischen Ähnlichkeit zusammengeschachtelt werden. Der eine Literarhistoriker verpackt sie so, der andere verpackt sie anders, was die Herren ihre „wissenschaftlichen Methoden" nennen und worüber sie sich mit heiligem Eifer in die Haare zu geraten pflegen. Selbst der nüchterne Bartels spricht von Gesetzen des geistigen Lebens, die immer wiederkehren, von einer Generationenlehre der Literaturgeschichte, ja, er spielt selbst mit dem Gedanken, die Geburtsjahre als bestimmend für die Artung der Dichter anzusehen, was dann freilich in seiner Art konsequent genug ist. Wenn Art und Maß der künstlerischen Begabung eine ausschließliche Begabung der Natur ist, so erhält sie gewiss in der Stunde der Empfängnis ihre bleibende Gestalt. Wohin diese Konsequenz aber wirklich führt, das zeigt Meyers Literaturgeschichte, die mit den Geburtsjahren der Dichter wirkliche Zahlenmystik treibt und ein so tolles Durcheinander anrichtet, dass Bartels neuestens heftig dagegen zu polemisieren – inkonsequent genug ist.

Hebbel wird nun gewöhnlich zu den „partiellen Genies" gerechnet, einer zuerst von dem Ästhetiker Vischer eingerichteten Rubrik. Unter den Schicksalsgenossen, die mit ihm in derselben Koje beigesetzt zu werden pflegen, befindet sich am häufigsten Heinrich v. Kleist, und es soll nicht geleugnet werden, dass gelegentliche Äußerungen, die beide Dichter in verzweifelter Stimmung über ihre Begabung gemacht haben, diese Rubrizierung zu rechtfertigen scheinen. Kleist schreibt einmal an seine Schwester: „Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt den Menschen ein ganzes oder gar keines", Hebbel aber notiert in sein Tagebuch: „Große Talente stammen von Gott, kleine vom Teufel": die Übereinstimmung ist um so auffallender, als beide Äußerungen unabhängig voneinander gemacht worden sind. Allein, wenn sich Hebbel selbst für ein „partielles Genie" gehalten hätte, so soll uns der Literarhistoriker nicht sagen, was der Dichter geglaubt hat zu sein, denn das erfahren wir von ihm selbst viel besser, sondern was er gewesen ist. Es ist unvermeidlich, dass der Dichter für seine Person in den ideologischen Vorstellungen befangen bleibt, die ihm aus den gesellschaftlichen Konsequenzen seines Lebens erwachsen, oder sich dieser Konsequenzen höchstens in unklarer und unsicherer Weise bewusst wird, aber es ist die eigentlichste Aufgabe der Literaturgeschichte, dies Spiel der Ursachen und Wirkungen durchsichtig darzustellen.

Bartels hat auch eine ziemlich lebhafte Vorstellung davon, dass mit dem „partiellen Genie" eigentlich gar nichts gesagt ist. Er wirft sich selbst ein, solche Genies könne es im Grunde nicht geben, da die nötige Geschlossenheit des Wesens ein wesentliches Merkmal des Genies im Gegensatze zum Talent sei. Nun werde niemand bestreiten, dass Kleist und Hebbel geniale Naturen gewesen seien, aber doch werde sie niemand mit Goethe und Shakespeare auf dieselbe Stufe stellen, also müsse man Genies zweiten Ranges annehmen. Man sieht hier recht deutlich die Verlegenheit, die sich mit einem Schlagwort hilft, wo es ein schwieriges Problem zu lösen gilt. Dabei liegt der richtige Weg so nahe, dass Bartels selbst ihn mit der Frage betritt, ob sich das, was dem „partiellen Genie" fehle, nicht auf eine „durch Zeitumstände und persönliche Schicksale gestörte Entwicklung zurückführen" lasse. Aber mit der Kurzsichtigkeit des Ideologen kehrt er sofort um, indem er gleichmütig bemerkt, viel weiter käme man damit auch nicht.

Und doch genügt schon der allgemeinste Umriss von Hebbels Leben, um sofort zu erkennen, weshalb er „den zwischen den Geschlechtern anhängigen großen Prozess" immer wieder zum Gegenstand seines Dichtens macht und ihn doch nie anders als in abnormen oder anormalen Konflikten darzustellen weiß. Man missverstehe nicht! Hebbel, der sich wie einer aufs künstlerische Schaffen verstand, redet nicht, sondern bildet in seinen Dramen; seine Frauen und Männer sind keine blassen Gedankenschemen, sondern echte Menschen, denen heißes Blut durch die Adern rollt, Menschen von hohem und starkem Wuchse. Man kann den Prozess der Geschlechter nicht leicht in höherem Sinne fassen, als Hebbel ihn fasst; niemals hat er seine Spuren, wie so viele „Moderne", im Bordell und in der Kneipe gesucht. Aber er versteht die historischen Phasen dieses Prozesses nicht, und die Art, wie er die Voraussetzungen für seine dramatischen Konflikte im Prozess der Geschlechter schafft, verrät eine Absonderlichkeit, Unsicherheit, Willkür des Empfindens, die sich nur aus seinen Lebensschicksalen, aber aus ihnen auch vollständig erklärt.

Jedoch ist dies nur ein Spezialfall einer allgemeinen Erscheinung, Treitschke hat in jungen Jahren einen Aufsatz über Hebbel geschrieben4, der dem Dichter im allgemeinen nicht gerecht wird, aber doch seinen größten Vorzug und seine größte Schwäche gut hervorhebt. Er nennt als Hebbels größten Vorzug „den seltenen, dem Dilettanten allezeit unverständlichen Sinn für die Totalität des Kunstwerks": man sieht in der Tat bei Hebbel immer den großen Künstler aus dem Vollen schaffen, was den Genuss seiner Dichtungen so überaus anziehend macht, dass man immer wieder gern zu ihnen zurückkehrt. Als Hebbels größte Schwäche nennt Treitschke aber den Mangel jedes historischen Verständnisses; er meint: „Selbst die Dichtungen unserer kosmopolitischen klassischen Zeit tragen die Spuren der politisch-nationalen Kämpfe der Periode weit deutlicher auf der Stirn als Hebbels Werke die Eindrücke der Gegenwart." Das stimmt abermals, nur muss man hinzufügen, dass Hebbels Leben zeigt, wie dieser Vorzug und diese Schwäche innerlich zusammenhängen. Der furchtbare Kampf, den er führen musste, rieb den ganzen Menschen auf; dadurch steigerte sich seine Kunst auf eine selten erreichte Höhe, während er sonst wie ein Blinder durch das Leben der Zeit ging. Die bürgerlichen Literarhistoriker sprechen von Hebbels politisch „konservativen" oder doch „gemäßigten" Gesinnungen, manche in dem kindisch entschuldigenden Sinne, dass der ästhetische Revolutionär bei alledem ein guter Staatsbürger gewesen sei. Das versteht nun aber der politische Historiker Treitschke wirklich besser, und ich ziehe gerade ihn an, weil er hinlänglich vor dem Verdacht geschützt ist, als nähme er an Hebbels „konservativen" Gesinnungen politischen Anstoß. Er nimmt vielmehr ästhetischen Anstoß an den verdrießlichen Philisteransichten Hebbels in politischen Dingen, ob sie sich nun in griesgrämigen Epigrammen über Staatsmänner oder in wegwerfenden Urteilen über Volksbewegungen entladen.

Wie hiermit schon angedeutet ist, kann man nicht einmal schlechthin von Hebbels „konservativen" Gesinnungen sprechen, weder in dem Sinne, dass er über die Elemente des sachlichen Urteils geboten hätte, worüber der konservative wie jeder Politiker gebieten muss, noch auch in dem Sinne, dass er sich nur konservativ über Gesellschaft und Staat ausgelassen hätte. Er hat über sie auch so radikal gesprochen, dass die Sozialdemokratie ihre Freude daran haben kann, ohne dass man ihn deshalb freilich einen radikalen Politiker nennen dürfte. Im Jahre 1841 dichtete Hebbel folgendes Sonett:


Wenn du verkörpert wärst zu einem Leibe,

Mit allen deinen Satzungen und Rechten,

Die das Lebendig-Freie schamlos knechten,

Damit dem Toten diese Welt verbleibe;

Die gottverflucht, in höllischem Getreibe,

Die Sünden selbst erzeugen, die sie ächten,

Und auf das Rad den Reformator flechten,

Dass er die alten Ketten nicht zerreibe:

Da dürfte dir das schlimmste deiner Glieder,

Keck, wie es wollte, in die Augen schauen,

Du müsstest ganz gewiss vor ihm erröten!

Der Räuber braucht die Faust nur hin und wieder,

Der Mörder treibt sein Werk nicht ohne Grauen,

Du hast das Amt, zu rauben und zu töten.


Kann man die kapitalistische Gesellschaft packender schildern? Aber Hebbel überschreibt das Sonett: die menschliche Gesellschaft, von deren historischen Phasen er wieder nichts weiß; hier fasst er gleichsam in einem Worte die ganze Tragik seines Dichterschicksals zusammen. Wenn er aber in nüchterner Prosa als Politiker von Fach sprechen will, wie in den Briefen, die er 1848 aus Wien schrieb, so kann man nicht genug über die unsäglichen Trivialitäten dieses reichen Geistes erstaunen; kein ästhetischer Kannegießer, den Hebbel je gezüchtigt hat, war in dem Maße Kannegießer, wie er selbst politischer Kannegießer war.

Wenn Treitschke sagt, selbst die Dichtungen unserer kosmopolitischen klassischen Zeit trügen die Spuren der politisch-nationalen Kämpfe der Periode weit deutlicher an der Stirn als Hebbels Werke die Eindrücke der Gegenwart, so betont er in missverständlicher Weise den kosmopolitischen Charakter unserer klassischen Literatur, der eben nur eine Folge der Tatsache war, dass damals ein politisch-nationales Kampfgebiet für die aufgeweckten Köpfe der bürgerlichen Klasse fehlte. Aber gerade weil diese Köpfe die schöne Literatur als einzigen Tummelplatz besaßen, so enthält diese Literatur auch, was es damals an politisch-nationalen Kämpfen gab. Die gesellschaftlichen Zustände drängten die aufstrebende Kraft der Nation in die Rennbahn der Kunst, und manch einer rang um den Lorbeer des Dichters, der sonst wohl nach anderen Lorbeeren getrachtet haben würde. Wer kann Lessings Bekenntnisse über sein dramatisches Schaffen lesen ohne die Empfindung, dass diese Kampfnatur, hätte sie nur einen wirklichen Kampfplatz gehabt, das Theater in guter Ruhe gelassen hätte! Schiller war nun zwar gewiss ein Dichter, aber was ihn zum mächtigsten Dramatiker der deutschen Literatur gemacht hat, war doch der wunderbare Instinkt, womit er das innerste Leben seiner Zeit zu ergreifen, der nicht minder wunderbare Blick, womit er diesem noch gestaltlos ringenden Leben im historischen Stoffe einen weithin tönenden Resonanzboden zu schaffen wusste.

Unter diesem Gesichtspunkt wird Hebbels Verhältnis zur klassischen Literatur überaus lehrreich. Es ist im allgemeinen richtig, wenn Bartels meint, er habe auf ihrem Boden gestanden, und es ist auch im besonderen richtig gegenüber dem modernen Naturalismus, den Hebbel ganz im Geiste aller echten Kunst ebenso kurz wie schlagend in dem Epigramm abgefertigt hat:


Freunde, ihr wollt die Natur nachahmend erreichen? O Torheit!

Kommt ihr nicht über sie weg, bleibt ihr auch unter ihr stehn.


Dennoch aber stand Hebbel in einem tief empfundenen Gegensatze namentlich zu Lessing und Schiller. Man muss dabei nur wieder nicht annehmen, dass dieser Gegensatz irgendetwas zu tun gehabt habe mit dem seichten Gerede der „Modernen" über Lessing und Schiller; dergleichen törichtes Zeug stand unendlich tief unter Hebbel. Obgleich oder vielmehr weil er als ein Ebenbürtiger aus dem innersten Zwange seiner Künstlernatur mit Lessing und Schiller stritt, hat er den Respekt vor ihrer menschlichen Größe nie verleugnet, und wie scharf er mitunter über ihre Kunst urteilt, so haben diese Urteile doch immer Hand und Fuß; ja auch wo sie sehr einseitig werden, erleuchten sie gerade in dieser Einseitigkeit oft die tiefsten Probleme der Kunst. Wo er reicher war als diese Klassiker, hat er ihre Armut scharf zu erkennen gewusst, nur dass seine Armut ihn hinderte, zu sehen, wo sie reicher waren als er.

Es klingt etwas schroff und will auch nur mit wohlerwogener Einschränkung nach beiden Seiten hin verstanden sein, wenn Treitschke sagt, Hebbel habe sich immer im Stoffe vergriffen, Schiller aber niemals. Jedoch ist der schneidendste Gegensatz zwischen diesen beiden Dramatikern damit allerdings angedeutet. Wie Hebbel die Kämpfe seiner Zeit nur in verzwickten Konflikten zu fassen weiß, so kleidet er diese Konflikte in eine mit beliebiger Willkür gewählte historische Tracht, unbekümmert darum, wie sie ihnen passt, aber im Einklang mit seiner Auffassung, dass die Geschichte ein buntscheckiger Haufe zweifelhafter Tatsachen sei. Sein an sich richtiger Satz, dass der dramatische Dichter nicht der Auferstehungsengel der Geschichte sein dürfe, sondern den historischen Stoff als Vehikel für die Probleme seiner Zeit benutzen müsse, findet seine Schranke an Lessings nicht minder richtigem Satze, dass die historischen Charaktere dem dramatischen Dichter heilig sein müssten. Zwischen diesen beiden Grenzmarken dramatischer Poesie hat Schiller seine stolze Fahrt mit einer Meisterschaft und Sicherheit vollendet, wie vielleicht sonst niemals ein Dramatiker, und eben dies gibt ihm seinen bleibenden Platz unter den großen Dramatikern der Weltliteratur, mag er ihnen an anderen Gaben des Dramatikers noch so weit nachstehen. Hieraus erklärt sich auch seine ungeheure Popularität, der ungeheure Einfluss, den er auf das deutsche Leben gehabt hat, solange die politisch-nationalen Fragen, denen sein Dichten und Trachten galt, ihrer Lösung harrten, genug, seine überragende Höhe im deutschen Geistesleben, die in so schroffem Gegensatze zu Hebbels vereinsamter Stellung steht. Wenn Bartels diese vereinsamte Stellung Hebbels daraus erklärt, dass die Bourgeoisie der fünfziger Jahre keine Tragödie habe brauchen können, nun wohl, wie kam dieselbe Bourgeoisie dazu, den Tragödiendichter Schiller in denselben Jahren durch ein nationales Fest zu feiern, wie es gleich echt und ursprünglich sonst kaum je in Deutschland gefeiert worden ist?

Der „moderne" Literarhistoriker ist leicht bei der Hand mit der Antwort: weil Hebbel ein großer Künstler war, den nur ein kleiner Kreis von erlesenen Geistern verstand, während hinter Schiller, dem politischen Rhetor, dem „Moraltrompeter von Säckingen" etc. der lärmende Banausenhaufen herzog. Die Spaßhaftigkeit dieser Antwort geht einem nicht sowohl auf, wenn man alle großen Namen Deutschlands von Goethe bis Lassalle in Schillers Gefolge erblickt, als wenn man die wenigen Erlesenen mustert, die sich um Hebbel scharten. Sie sind wahrhaft klassische Typen des Philisterhaufens, die Kuh und Genossen, die schmerzendsten Dornen vermutlich in dem Märtyrerkranze Hebbels, der sie fast über Gebühr zu misshandeln pflegte, wie Kuh in seiner Biographie des Meisters so tragikomisch zu schildern weiß. Bartels ist nun zwar zu gescheit, um mit jenem Phrasenschwall zu arbeiten, aber er sagt doch: „Haben wir Deutschen eine Tragödie, so ist es nicht die Schillers, sondern die Kleists, Hebbels und Ludwigs – darüber sollte nun kein Zweifel mehr sein, so sicher es andererseits ist, dass nicht einmal alle drei zusammen die nationale Bedeutung Schillers erreichen." Sehen wir von Kleist und Ludwig ab, die jeder ein besonderes Kapitel erfordern würden, so ist damit im Grunde doch auch nur gesagt, dass jenes tiefe Verständnis seiner Zeit, das Schiller in so reichem Maße vor Hebbel voraus besaß, eine unwesentliche oder gar hinderliche Eigenschaft des Tragödiendichters sei. Wäre dem so, dann würde Hebbels Tragödie allerdings über Schillers Tragödie stehen, denn jede andere Gabe, die den Dramatiker macht, kann Hebbel sehr wohl in höherem Maße besessen haben als Schiller.

Tatsächlich ist aber, da alle echte Kunst in ihrer Zeit wurzelt, nicht mal ein echter Lyriker, geschweige denn ein echter Tragiker möglich, der nicht in und mit seiner Zeit lebt. Was darüber theoretisch zu sagen ist, habe ich an dieser Stelle in meinen „Ästhetischen Streifzügen"5 auszuführen gesucht; ich brauche mich um so weniger zu wiederholen, als in Hebbels Falle die Frage längst durch ihn selbst entschieden ist. Alle seine Dramen waren, wie er gleich im Beginne seiner dichterischen Laufbahn sagte, „künstlerische Opfer der Zeit"; als echter Dramatiker hat er immer „dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt" zeigen wollen. Hätte er seiner Zeit fremd den Rücken gekehrt, so wäre er längst in den Katakomben der Literaturgeschichte beigesetzt, aber auf einen aller echten Kunst so fremden Gedanken können wohl reimeschmiedende Philister, aber nie echte Künstler verfallen. Nicht darum kann es sich handeln, ob der dramatische Dichter mit den gesellschaftlichen Problemen seiner Zeit ringen will, sondern wie er mit ihnen ringen kann, und es ist die zugleich erhebende und erschütternde Größe Hebbels, dass er mit der dämonischen Glut des genialen Künstlers der Übermacht des gesellschaftlichen Verhältnisses, das ihn band, die Losung seiner Zeit abzuringen gesucht hat.

So hat er, siegend noch im Untergange, bis zum letzten Atemzuge geschaffen, und die inneren Wechselwirkungen, in denen seine unermüdliche Arbeit mit seiner bewegten Zeit stand, mögen nun noch im einzelnen geprüft werden.

III

Es ist eine eigentümliche Erscheinung: wenige Dichter haben sich über ihre künstlerischen Schöpfungen ästhetisch-kritisch so ausführlich ausgelassen wie Hebbel, und dennoch gehen über wenige Dichter die Ansichten der ästhetischen Kritiker so weit auseinander wie über ihn. Noch mehr: jede bürgerliche Darstellung Hebbels schielt nach dem Wahren, und doch gibt jede mehr Rätsel auf, als sie im günstigsten Falle löst. Woher dieses Dilemma?

Einfach daher, dass die bürgerliche Geschichtschreibung nicht, wie es sich gehört, die Abbilder nach den Dingen, sondern die Dinge nach den Abbildern, die Ästhetik Hebbels nicht nach seiner Kunst, sondern seine Kunst nach seiner Ästhetik beurteilt. Erst schafft der Künstler, und dann denkt er über die Gesetze seines Schaffens nach, und nicht umgekehrt. Es ist eine Folge von Hebbels größter Schwäche, jenem unzureichenden Verständnis seiner Zeit, dass er sich so sehr viele Gedanken über seine Kunst macht: er will sich nachträglich seine dramatischen Konflikte als „Spiegel der Zeit" zurechtrücken, aber er hat sich diese Konflikte nicht mit dem Verstande ausgeklügelt, um nun darauflos zu dichten, etwa in der Art, wie ein ehrsamer Konrektor seine Schultragödien verfertigen mag. Nicht als ob Hebbels Ästhetik deshalb wertlos wäre; was ein großer Künstler über seine Kunst denkt, wird immer reiflicher Erwägung wert sein. Nicht auch nur, als ob sie nicht zur Erklärung seiner Kunst herangezogen werden dürfe; wer möchte sich einen besseren Führer durch ein monumentales Bauwerk wünschen als den Baumeister selbst! Aber man muss dabei immer im Auge behalten, dass die Kunst das Ursprüngliche, die Ästhetik nur das Abgeleitete ist. Dann hat man den Faden in der Hand, um sich leicht durch ein Labyrinth zu finden, worin sich noch jeder verirrt hat, der die Ästhetik als das Ursprüngliche und die Kunst als das Abgeleitete nahm.

Es ist ganz unmöglich, aus der Ästhetik Hebbels ein System zu machen. Der Künstler ist kein Systematiker und kann es seinem inneren Wesen nach nicht sein. Jeder Versuch, Hebbel in einen papierenen Käfig zu sperren, den man aus seinen ästhetischen Abhandlungen aufbaut, ist misslungen und muss misslingen; das Kartenhaus fällt immer schon zusammen, ehe es dem Dichter nur ans Knie reicht. Der begreifliche, obschon nicht begründete Ärger darüber explodiert dann in den bekannten Redensarten über den „denkenden", „grübelnden", „experimentierenden Künstler", dessen Phantasie sich am doktrinären Ofen erhitze oder auch – zur Abwechslung – unter dem Eise brüte, über das krasse Missverhältnis zwischen Erkenntnis und Kunst und wie der Schwall sonst noch heißt, der sich über das Lebenswerk des armen Hebbel ergossen hat. Wohlwollendere Gemüter trösten sich etwa noch, dass der Ästhetiker Hebbel viel bedeutender sei als der Dichter Hebbel; auch Herr Meyer meint, dass die Tagebücher Hebbels die meisten seiner Dichtungen überleben würden; so sehr sind dieser alexandrinischen Kritik die elementarsten Begriffe des künstlerischen Schaffens abhanden gekommen.

Bartels ist darüber glücklich hinaus; er führt keinen Schattentanz auf um den Schatten, den der Baum wirft, sondern sieht mit seinen gesunden Augen den Baum selbst. Nur dass er auch hier wieder auf halbem Wege stehenbleibt und nicht die Wurzeln untersucht, die dem Baume seine Kraft und sein Leben gespendet haben. Er teilt die Dramen Hebbels nach ihrer entwicklungsgeschichtlichen Abfolge durchaus richtig ein: „Judith" und „Genoveva" als erste, „Maria Magdalena", „Trauerspiel in Sizilien", „Julia" als zweite, „Herodes und Mariamne" und die übrigen als dritte Gruppe. Jedoch wenn er die drei Gruppen als Sturm-Drangzeit, als soziale Periode und als Zeit der Reife unterscheidet, so sind diese ideologischen Überschriften in umgekehrter Reihenfolge nichtssagend oder schief oder unrichtig.

Hebbel selbst hat seine „Judith" und „Genoveva" als bloße Kraft- und Talentproben gelten lassen, wogegen der von Bartels gemachte Einwand, sie seien unbedingt mehr und wiesen schon alle für das Drama Hebbels charakteristischen Eigenschaften auf, doch mehr die Form als die Sache trifft. Ein „eigentümlicher Sturm und Drang" gibt sich in diesen Erstlingswerken eben nicht kund, sondern sie sind, sosehr sie schon Hebbels Eigenart verraten, von herrschenden Literaturströmungen abhängig. Kann auch der größte Dichter, der unter den glücklichsten Lebensverhältnissen aufwächst, kein neues Zeitalter der Literatur aus dem Boden stampfen, so ist ein armer Teufel von Poet, der in seinem einsamen und eintönigen Hungerdasein von dem gesellschaftlichen Leben so gut wie ausgeschlossen ist, erst recht darauf angewiesen, bei seinem Eintritt in die Literatur die ideologische Anknüpfung zu suchen, wo er sie findet. In Hebbels Frühzeit, am Ende der dreißiger Jahre, herrschte noch die absterbende Romantik und neben ihr das Junge Deutschland, das der bürgerlichen Klasse vorankämpfte, mit aller Schwächlichkeit, die dieser Klasse in den Gliedern steckte. Eine dritte und mächtigere Geistesströmung, die den alten deutschen Idealismus frisch erweckte, um eine verrottete Welt über den Haufen zu stürzen, bereitete sich erst in den „Hallischen Jahrbüchern" und der politischen Lyrik vor.

Es entsprach Hebbels Lebensverhältnissen, dass er zunächst an die Romantik geriet; seine ersten dichterischen Schöpfungen sind ganz von ihr beherrscht: die Lyrik von Uhland, die kleinen Novellen von Kleist, E. T. A. Hoffmann und etwa noch von Jean Paul, der den Romantikern mindestens ebenso nahe gestanden hatte wie den Klassikern. Dann aber kam Hebbel durch seine Bemühungen um literarischen Broterwerb in enge Beziehungen zu den Jungdeutschen, die über die literarische Presse herrschten, namentlich zu Gutzkow, von dem er später einmal sagte, er sei ihm so antipathisch, wie keiner sonst unter den lebenden Schriftstellern. Die Keime der Zwietracht lagen von vornherein in ihrem Verhältnis. Einer so ausgeprägten und starken Künstlernatur wie Hebbel war, musste das schwächliche, zwischen Literatur und Politik zwieschlächtig schwankende Wesen der Jungdeutschen schnell zuwider werden; deshalb haben die Nachbeter Hebbels mit ihrem Herunterreißen Gutzkows aber doch unrecht. Gutzkows letzte Schrift, worin der gedankenlosen Koterie heimgeleuchtet wird, ist bei aller Verbitterung und Vergrämung nicht so schlechthin eine „Schmähschrift", wie Bartels behaupten möchte; wenn Gutzkow meint, ihm sei an Hebbel die eisige Gleichgültigkeit gegen das neu erwachende Leben der Nation immer unausstehlich gewesen, so war das die Kehrseite der Medaille und eben auch ein Standpunkt.

An dichterischer Kraft wiegt die „Judith" gewiss die ganze jungdeutsche Dramatik auf; die mächtig anschwellende Handlung, die in den dämonischen Schauern der blutigen Liebesnacht gipfelt, verrät überall die Tatze des Löwen. Und wie des Dichters Art, so zeigt sich auch schon seine Unart: ein ganz moderner Konflikt wird in eine altbiblische Sage getragen, die Heldin zu einem seltsamen Mittelding von Jungfrau und Witwe gemacht, um den tragischen Knoten zu schürzen, von dem die „heroische Katze" des Alten Testaments nichts weiß. In seiner allgemeinen Fassung war dieser Konflikt alt; so erliegt Schillers Jungfrau dem unsühnbaren Widerstreit, dass sie den Landesfeind, den sie als nationale Heldin vernichten muss, dennoch schont, weil sie ihn als Weib liebt. Neu ist nur die besondere Fassung des Konflikts in Hebbels Drama: obgleich sie ihn liebt, tötet Judith den Feind ihres Volkes doch, um ihres entweihten Leibes willen. Darin steckt viel Räsonnement und Raffinement der jungdeutschen Bewegung, die in den Mysterien des Geschlechtslebens umherirrte, da sie noch keine Ahnung von den sozialen Umwälzungen hatte, denen der sichtbare Verfall der spießbürgerlichen Ehe geschuldet war. Einen starken Hauch jener frostigen Sinnlichkeit, der den jungdeutschen Heldinnen eigen war, spürt man doch in den wilden und wirren Reden, womit sich Judith zur Enthauptung des Holofernes anstachelt, und nun gar Holofernes selbst ist der jungdeutsche Kraftrenommist, wie er im Buche steht.

Gegen die „Judith" ist die „Genoveva" ein entschiedener Rückschritt; sie stammt auch ihrer Anlage nach aus der rein romantischen Zeit des Dichters, obgleich sie erst nach der „Judith" erschien. Hebbel führte sie aus, als er in heftiger Leidenschaft für ein Mädchen entbrannt war, dessen Hand er nicht erreichen konnte, und die Qualen dieser hoffnungslosen Liebe dem Mädchen vorstöhnte, das ihn ernährte und ein Kind von ihm unterm Herzen trug. Daraus versteht man leicht die peinigende und quälende Stimmung, die über der „Genoveva" liegt. Der moderne Prozess der Geschlechter wird in der gewaltsamsten Weise in das wehmütige Volksmärchen hinein konstruiert; Golos Leidenschaft ist Recht und Unrecht, aber auch Genovevas Reinheit ist Recht und Unrecht; eine spitzfindige Dialektik, die „den höchsten und wahrsten Interessen der Zeit" zum Ausdruck helfen soll, steht unvermittelt neben einem Wüste mittelalterlichen Hexen- und Zauberspuks. Hebbel selbst, den beim Niederschreiben der „Judith" immer das selige Gefühl übermannt hatte, ein dramatischer Dichter zu sein, seufzt in seinem Tagebuch: „O Genoveva, du machst mir viel Kummer! Lieben darf ich dich nicht und vernichten darf ich dich auch nicht." Er will sie nicht morden, weil sie „ein Lebendiges, obwohl Missratenes" sei.

Erst in der „Maria Magdalena" ist Hebbel ganz er selbst, und schon deshalb eröffnet sein bürgerliches Trauerspiel die zweite Periode seines Dichterlebens. Er greift mit fester Hand in das Stückchen gesellschaftlichen Kampfes, das er kannte, und gestaltet daraus ein Meisterwerk. In München hatte er im Hause eines Tischlermeisters mit dessen Tochter in wilder Ehe gelebt, und der Bruder seiner Geliebten war unschuldig eines Diebstahls verdächtigt worden. Die häuslichen Szenen, die daraus entstanden, blieben ohne tragische Folgen; als Hebbel seine mühselige Fußwanderung von München nach Hamburg antrat, begleitete ihn seine Peppi einige Stunden Weges: sie schieden „unter unendlichen Tränen", aber nicht mit gebrochenen Herzen. Es ist nicht sowohl das Recht als das Wesen des tragischen Dichters, dass ihm solche zufälligen Erlebnisse der Wirklichkeit zum dramatischen Kristall zusammenschießen, und welch wundervoller Kristall ist „Maria Magdalena" im Schatzhause deutscher Dichtung! Dennoch trägt auch dies Drama die Spuren des gesellschaftlichen Verhängnisses, das durch Hebbels Leben waltet. Wie seine Judith eine Jungfrau und doch keine Jungfrau sein sollte, so seine Tischlerstochter Klara keine Jungfrau und doch eine Jungfrau. Sie fällt nicht aus Liebe, sondern ergibt sich dem ungeliebten Verlobten, um sich selbst vor ihrer geheimen Liebe zu ihrem Jugendfreunde zu schützen. Hebbel verstand nicht, dass er seine Heldin dadurch erniedrigte, statt sie zu erhöhen, wie seine Absicht war. Als berühmte Schauspielerinnen der damaligen Zeit sich gegen die Rolle der Klara sträubten, wetterte er sie an: ihr spielt doch, ohne euch zu zieren, das schwangere Gretchen und jenes andere Klärchen, das die Dirne eines Grafen war, der sie nie heiraten konnte. Was ihm als inkonsequente Prüderie erschien, war etwas ganz anderes oder konnte wenigstens etwas ganz anderes sein. Jedes natürlich empfindende Weib wird für die süßen Sünden ihres Geschlechts einen weiten Mantel der Liebe haben, ebendeshalb aber sich innerlich abgestoßen fühlen, wo der Adel freier Hingebung durch eine sei es auch tugendhafte Berechnung aufgehoben wird.

Nicht minder ist dem schönen Werke dadurch der verdiente Erfolg verkümmert worden, dass es als „Spiegel der Zeit" ein wenig verstaubt erschien. München war in Hebbels Jugend die kleinbürgerlich verhockteste unter den größeren Städten Deutschlands; in Berlin, Köln, Breslau stand das Kleinbürgertum der neuen Welt, die ihm Untergang und Verderben brachte, nicht mehr mit Meister Antons Fassungslosigkeit gegenüber. Hebbels Drama war doch nicht solch voller Griff ins Leben der Mitwelt, wie einst Schillers „Kabale und Liebe" gewesen war, das andere bürgerliche Trauerspiel, das in der deutschen Literatur allein mit ihm verglichen werden kann. Schiller hatte das Kleinbürgertum und den Duodezdespotismus, die treibenden Kräfte des damaligen deutschen Lebens, in offenem Kampfe gegenübergestellt und frisch aus der Zeitung den Soldatenhandel der deutschen Fürsten auf die Bühne gebracht. Es war kein großes nationales Leben, aber es war nationales Leben, es war historische Bewegung, nicht jene atemberaubende, herzbedrückende Enge, nicht jene, wie Hebbel selbst es nennt, „schreckliche Gebundenheit in der Einseitigkeit", die in Meister Antons vier Pfählen brütet. Sechzig Jahre älter, schlägt „Kabale und Liebe" heute noch wie ein Blitz in ein empfängliches und naives Publikum ein, dem „Maria Magdalena" neben aller tiefen Wirkung ein Gefühl der Befremdung erregt, wie ein Blick in eine völlig erloschene Welt. Man rede über Tendenz so viel man will, man zähle alle künstlerischen Vorzüge auf, die „Maria Magdalena" vor „Kabale und Liebe" haben mag: es bleibt doch dabei, dass die dramatische Kunst den historischen Prozess, der sich in ihren Tagen vollzieht, ergreifen soll und dass sie um so länger dauert, je tiefer sie ihn zu ergreifen weiß.

Das hat kein anderer Dramatiker vielleicht je so scharf ausgesprochen wie Hebbel in der Vorrede, die er seiner „Maria Magdalena" mit auf den Weg gab. Es ist eine vielberufene Urkunde und diejenige von Hebbels ästhetischen Abhandlungen, die am meisten gemissbraucht ist, ihn zu misshandeln, von seinen Gegnern wie von seinen Verehrern. Denn diese haben so unrecht, wenn sie den Aufsatz ganz aus seinem Leben streichen möchten, als eine unglückliche Stilübung, die wohl auch einmal dem Besten mit unterläuft, wie jene, wenn sie den ganzen Hebbel darauf festnageln möchten. Die Vorrede ist einfach die Verständigung, die der Dichter mit seinem ästhetischen Gewissen vollzieht, in dem Augenblick, wo er sein erstes selbständiges Kunstwerk geschaffen hat. Hier zeigt sich denn auch gleich schlagend, wie unsinnig es ist, Hebbels Kunst aus seiner Ästhetik zu erklären; man versuche doch mal, aus den eingewickelten, schwankenden, unbeholfenen Sätzen dieser Vorrede ein so durchsichtiges, klares, streng geschlossenes und bis in den letzten Strich konsequentes Kunstwerk zu entwickeln, wie „Maria Magdalena" ist! Es ist die bare Unmöglichkeit, aber wohl gewinnt man bedeutsame Aufschlüsse, wenn man den umgekehrten Weg einschlägt, wenn man Hebbels Ästhetik aus seiner Kunst ableitet, wenn man seine Vorrede also in dem Sinne auffasst, dass er, auf der Höhe seiner jungen Meisterschaft, sich selbst prüft, wie er zu der Zeit steht, deren „künstlerische Opfer" seine Dichtungen sein sollen.

Die Vorrede zeigt ihn nun frei von romantischen und jungdeutschen Einflüssen, aber näher herangerückt an jene mächtigste Geistesströmung der vierziger Jahre, die in Philosophie und Poesie den Heerbann des Idealismus gegen die vormärzliche Reaktion aufbot. Bei allem Mangel an Schulung besaß Hebbel als dramatischer Dialektiker ein instinktives Verständnis für die dialektische Philosophie Hegels, wie denn auch ein hegelianischer Kritiker zu den frühesten Vorkämpfern seiner Dichtung gehörte. Sogar für die politische Lyrik bekundet Hebbel eine Art Sympathie, so fremd ihm alle Politik war; er wägt die „Gemüts-" wie die „Reflexionslyrik" nach ihrem ästhetischen Wert und Unwert ab, eher mit einer kleinen Neigung zur „Reflexionslyrik". „Ich kann nicht umhin, auf den Unterschied dringend aufmerksam zu machen, um mich nicht in den Verdacht zu bringen, als ob ich die melodielose Nüchternheit, die zu dichten glaubt, wenn sie ihre Werkeltagsempfindungen oder eine hinter dem Zaune aufgelesene Altweibersage in platte Verse zwängt, einer Rhetorik vorziehe, die zwar, schon der spröden Einseitigkeit wegen, nie zur Poesie, aber doch vielleicht zur Gedanken- und, wenn dies gelingt, auch zur Charakterbildung führt. Man soll die Flöte nicht nach dem Brennholz, das sich allenfalls für den prophezeiten Weltbrand aus ihr gewinnen ließe, abschätzen, aber das gemeine Brennholz soll noch weniger auf seine eingebildete Verwandtschaft mit der Flöte dicke tun." Diese Sätze sind es beiläufig, um derentwillen der Philistertross von „Denkern und Dichtern", der sich später an Hebbel klammerte, im Bewusstsein seiner „melodielosen Nüchternheit" die Vorrede zu „Maria Magdalena" gern wegeskamotieren wollte.

Allein nur so weit, wie Hebbel in seinem bürgerlichen Trauerspiel den Boden realer gesellschaftlicher Konflikte zu ergreifen gewusst hatte, verstand er sich der revolutionären Geistesströmung der Zeit zu nähern. Wenn er sagt, das Drama als die Spitze aller Kunst solle den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand in seinem Verhältnis zur Idee veranschaulichen, d. h. zu dem alles bedingenden sittlichen Zentrum, das wir im Weltorganismus, schon seiner Selbsterhaltung wegen, annehmen müssten, oder aber, der historische Prozess der Zeit, den die dramatische Kunst fördern solle, wolle die vorhandenen Institutionen, die politischen, religiösen und sittlichen, nicht umstürzen, sondern tiefer begründen, also vor dem Umsturz bewahren, so hieß das, eine revolutionär gärende Welt mit den Augen eines wackeren Tischlermeisters ansehen. Nicht darauf aber kam es an, diese ästhetischen Theorien zu erweitern und zu vertiefen, womit dem Künstler nicht geholfen war, sondern darauf, sich des gesellschaftlichen Lebens in weiterem Umfange zu bemächtigen als in den doch erst sehr engen Kreisen, die in der „Maria Magdalena" gezogen worden waren. Gelang das, so ergab sich die Fortentwicklung der ästhetischen Theorie von selbst, gelang es aber nicht, so war am wenigsten an diesen Spinnweben ein Halten möglich. In dem berechtigten Selbstbewusstsein, das ihm „Maria Magdalena" wohl einflößen durfte, nannte Hebbel sie „des neuen Frühlings erstes Zeichen", seitdem der „wahre Ruf von Gottes Gnaden" an ihn erschollen sei, den roten Faden, den er so lange aus sich selbst gesponnen habe, der Geschichte anzulegen; in herausforderndem Übermut beklagte er sich, dass die Kritik bisher nur seine Gestalten betrachtet habe, und wenn das auch ein Beweis für deren wirkliche Lebendigkeit sein möge, so müsse er nun doch wünschen, dass auch dem Ideenkerne seiner Dramen einige Würdigung zugewandt würde.

Der verhängnisvolle Wunsch sollte sich ihm allzu reichlich erfüllen. Hebbel vermochte nicht, von der „Maria Magdalena" aus höhere Stufen der Kunst zu erklimmen. Waren seine drei ersten Dramen in den Jahren. 1840 bis 1843 schnell aufeinander gefolgt, so stockte nun seine dramatische Produktion fünf trübe Jahre, deren Qualen für den Menschen gemildert, für den Dichter aber noch geschärft werden mochten, weil seine äußeren Lebensbedingungen sich allmählich aufhellten. Nach Vollendung der „Judith" und der „Genoveva" hatte sich Hebbel auf eine Bittfahrt nach Kopenhagen zum dänischen König, zu „seinem" Könige, begeben, von dem er dann auch ein Reisestipendium erhielt; die schleswig-holsteinische Bewegung, die schon stark in die Halme schoss, ging an dem geborenen Dithmarscher wieder spurlos vorüber. Die in Kopenhagen begonnene „Maria Magdalena" wurde bereits in Paris vollendet, hier lebte Hebbel ein Jahr im damaligen politischen Mittelpunkt des europäischen Festlandes, ein weiteres Jahr und mehr in Italien, wo ihm Kunst und Natur ihre reichsten Schätze erschlossen. Auf seiner Rückkehr, im Mai 1846, verehelichte sich Hebbel dann in Wien mit einer gefeierten Schauspielerin des Burgtheaters. Nicht als ob diese Jahre schon arm an Entbehrungen und Kämpfen ums nackte Dasein gewesen wären, aber ärmer waren sie doch daran, und um wie viel reicher an vielseitigen Anregungen als Hebbels Frühzeit! Was den dramatischen Dichter lähmte, war doch nur sein Unvermögen, seine gestaltende Kraft an dem gesellschaftlichen Leben der Zeit zu bewähren. Das zeigen unzweideutig die beiden Dramen, die mit Mühe und Not in diesen schweren Tagen heranreiften, das „Trauerspiel in Sizilien" und „Julia". Sie zeigen zugleich, dass, wo dem dramatischen Dichter jene erste Vorbedingung seiner Kunst fehlt, alle seine künstlerischen Fähigkeiten leicht dahinwelken; nirgends sinkt Hebbels dichterische Kraft so tief wie in diesen Werken, und ihnen verdankt das Gerede von dem „experimentierenden Grübler" den ersten Anstoß wie den stärksten Anhalt.

Das „Trauerspiel in Sizilien" ist ein dramatisierter Kriminalfall in einem Akt: zwei italienische Gendarmen ermorden ein Mädchen, um ihre Kostbarkeiten zu rauben, und zeihen dann ihren Liebhaber der Tat, bis ein Zufall sie entlarvt. Wie wunderbar musste sich im Kopfe dieses Dichters die Welt spiegeln, wenn ihm die gewöhnliche Gräueltat, als er sie erzählen hörte, die tiefe Kluft zwischen besitzenden und nichtbesitzenden Klassen so symbolisch vergegenwärtigte, dass ihm sofort das dramatische Bild zusammenrann; man erwäge nur: im Jahre 1845, als sich der proletarische Klassenkampf in England und Frankreich schon lebhaft entwickelte, als selbst schon in Deutschland die ersten Arbeiteraufstände stattgefunden hatten. So dürftig dies Trauerspiel, so pomphaft die Vorrede, worin es Hebbel als Tragikomödie erläuterte, als eine von ihm neuentdeckte dramatische Form.

Noch tiefer fast steht „Julia" mit ihrer Räuberromantik, mit dem „Totenkopf", den sie den leichtsinnigen Schmausern der Zeit auf den Tisch setzen wollte; der Schlussakt, wo der robuste Bandit und der hektische Graf sich in gegenseitig überbietendem Edelmut die Braut zuschieben, ruft die peinlichsten Erinnerungen an Kotzebue wach. Über die ästhetische Wertlosigkeit der beiden Dramen gibt es in der Literatur über Hebbel keine Meinungsverschiedenheit, so viele Meinungsverschiedenheiten es sonst darin gibt.

Diese zweite Periode von Hebbels Dichterleben „sozial" zu nennen ist deshalb schief, weil es nur ganz äußerlich, ganz im allgemeinsten Sinne zutrifft, während durch den heute gebräuchlichen Sinn des Wortes durchaus falsche Vorstellungen erweckt werden. Gerade je schärfer sich die sozialen Gegensätze der vierziger Jahre entfalteten, um so unsicherer wurde Hebbels Stellung zur Zeit, und erst mit dem Ablaufen der revolutionären Gewässer erhob sich sein Dichterleben wieder in einer dritten und letzten Periode.

IV

Wie hoffnungslos sich Hebbel abgerungen hatte, die heraufziehenden Nebel der Revolution zu ergreifen und zu gestalten, zeigte die geistige Abspannung, worin ihn der Ausbruch der Revolution traf. Er brachte es nicht einmal zur menschlichen und natürlichen Freude des Dichters darüber, dass mit dem Sturze der vormärzlichen Zensur seine Dramen nun überall auf die Bühne gelangten; ihm wollte das Ei nicht schmecken, das der Weltenbrand geröstet hatte.

Es gibt nun freilich manche Verehrer Hebbels, die gerade darin einen besonders starken Beweis seines überlegenen Genius erblicken, der über alle politischen Erbärmlichkeiten des Tages hinweg seinen ruhigen, siegessicheren Gang geschritten sei. Dann muss man aber sehr bedauern, dass dieser überlegene Genius sich nicht anders zu offenbaren gewusst hat als in den kläglichen Angstmeiereien des ersten besten Philisters. Man kann getrost einen hohen Preis auf das kleinste Zeichen des Verständnisses setzen, das sich aus Hebbels Briefen und Tagebüchern über den historischen Zusammenhang der Revolution beibringen ließe. Es ist nichts davon vorhanden. Gewiss räsoniert er auch über den vormärzlichen Absolutismus, wie der Spießbürger schließlich über alles räsoniert, aber die Revolution ist ihm doch immer das schlechthin Widerwärtige, und mit der Gegenrevolution richtet er sich in der behaglichsten Weise ein. Er lebt und webt in ihrem Dunstkreis und tritt als Dichter in die „Zeit der Reife", wie Bartels sich ausdrückt. Er verleugnet nun das Vorwort zur „Maria Magdalena", schilt auf Herwegh als einen „poetischen Rhetor", nennt Freiligraths Glaubensbekenntnis „unreif", während er selbst die hölzernsten Reimereien auf den Kaiser von Österreich und den König von Preußen fabriziert, und wie Schopenhauer für seinen Pudel Atma, so schwärmt er für sein „Herzi, Lampi, Schatzi", ein Eichkätzchen oder sonst ein Viech, dessen Eingehen derselbe Poet in unendlichen Winseltönen bejammert, der auch nicht ein Wort der Teilnahme für Robert Blums oder der ungarischen Generale Märtyrertod gehabt hatte.

Gegenüber solchen Zeugnissen, die sich aus Hebbels Schriften beliebig häufen lassen, mag man nur hübsch die Redensarten von dem überlegenen Genius unterlassen, dem der politische Kampf nicht einmal die Schuhsohlen berührt habe. Aber freilich darf man ebenso wenig ins entgegengesetzte Extrem fallen und Hebbel wie einen beliebigen Reaktionär abtun. Es ist die Art der ausschließlichen Ästhetiker und Literarhistoriker, in den allergröbsten Schablonen der Parteiphrase hängenzubleiben, wenn sie einmal das politische Gebiet betreten, wie eben jetzt ein drolliger Streit zwischen Bartels und Meyer über Hebbels politische Gesinnung zeigt. Die traurigen Verwüstungen der Gegenrevolution an dem reichen Geiste des Dichters leugnen, heißt die epidemische Wirkung der Cholera bestreiten, weil der Kommabazillus nicht mit Augen sichtbar und nicht mit Händen greifbar ist, aber diesen Dichter nun einfach in den allgemeinen Topf der Reaktion werfen, heißt den Adler mit dem Maßstab der Milbe messen. Der entscheidende Gesichtspunkt ist immer wieder, dass Hebbel die Gegenrevolution so wenig verstand, wie er die Revolution verstanden hatte.

Es sei gestattet, etwas ausführlicher ein Beispiel anzuziehen, wodurch das hier berührte Verhältnis nach allen Seiten hin beleuchtet wird. Hatte die deutsche Revolution eine Lehre hinterlassen, die sogar dem Spießbürger einleuchtete, so war es die Erkenntnis, dass die deutsche Einheit an dem österreichisch-preußischen Dualismus gescheitert sei. Daraus zogen wirkliche Revolutionäre den richtigen Schluss, dass sowohl der österreichische wie der preußische Zwangsstaat zertrümmert werden müsse, um den deutschen Einheitsstaat herzustellen, aber sie lebten während der fünfziger Jahre im Exil: innerhalb des deutschen Bundes bewegte sich das politische Leben dieser Zeit um den österreichisch-preußischen oder, wie es damals hieß, um den großdeutsch-kleindeutschen Gegensatz. Die Großdeutschen wollten das einige Deutschland unter österreichischer, die Kleindeutschen unter preußischer Hegemonie. Allein selbst nicht einmal auf die Höhe dieser nichts weniger als erhabenen oder tiefsinnigen Auffassung vermochte sich Hebbel aufzuschwingen. Als ein Attentat auf den Kaiser von Österreich gemacht wurde, sang er diesen an und forderte ihn auf, Deutschland zu einigen; Franz Joseph war nach seiner Meinung der Mann, den Thron Karls des Großen wieder aufzubauen. Als dann aber ein Attentat auf den König von Preußen gemacht wurde, richtete Hebbel in aller Gemütlichkeit die gleiche Aufforderung an diesen; der alte Drillmeister Wilhelm soll der erste tapfere Hüter der deutschen Geistesschätze werden, die entzweiten Geister in einem ewigen Symbol binden, so Europas Meister werden und Dank ernten von Pol zu Pol. Schließlich werden Österreich und Preußen aufgefordert, die Welschen und die Reußen zur Ruhe zu verweisen, und dann hört der Dichter in immer volleren Akkorden durchs Reich klingen: Ob Habsburg oder Hohenzollern, der Kaiser ist, wer das vollbringt. Und alles das, nachdem das Jahr 1859 auch dem Blindesten den Star darüber gestochen hatte, was es mit dem österreichisch-preußischen Dualismus auf sich hatte.6 Schöne Verse, aber nicht gehauen und nicht gestochen, seufzt Treitschke, wobei die Schönheit der Verse noch allein dem Wohlwollen des preußischen Historikers aufs Konto zu setzen ist.

Ehrlich aber war diese historische Konfusion Hebbels durch und durch; er hatte auch nicht die Spur von einem Heuchler oder Streber an sich. Es liegt auf der Hand, dass die Apostrophe an den König von Preußen für den Gatten einer österreichischen Hofschauspielerin unter den damaligen Umständen eine sehr unbefangene Leistung war, jedoch auch das Gedicht an Franz Joseph war von jedem Byzantinismus gänzlich frei. Das Attentat, das dies Gedicht veranlasste, fand am 18. Februar 1853 statt, und am selben Tage schrieb Hebbel in sein erst lange nach seinem Tode herausgegebenes Tagebuch: „Man scheint dazu aufgespart zu sein, Gräuel der entsetzlichsten Art zu erleben. Ruhig sitze ich heute Vormittag in meinem Zimmer, als Emil Kuh totenbleich hereintritt und mir sagt: es ist nach dem Kaiser gestochen worden, wie er auf der Bastei spazieren ging. Ich kann's nicht glauben und verweise ihm ernstlich seine Unvorsichtigkeit, ein solches Gerücht zu wiederholen, wenn auch nur gegen mich, erhalte aber von ihm die Antwort, dass die ganze Stadt von der Schreckensnachricht voll sei und dass alles nach der Burg stürme … Das ruchlose Attentat hat seinen Zweck ganz und gar verfehlt, die Majestät, die nach dem Dichterwort den Gesalbten des Herrn umfließt, hat ihre Unnahbarkeit nicht verleugnet, aber der bloße Versuch ist in den Augen eines denkenden und empfindenden Menschen furchtbarer als jede andere Missetat, die wirklich vollbracht wird, denn das ärgste Verbrechen anderer Art trifft nur ein einzelnes Individuum, das am Staatsoberhaupt verübte trifft ihn und mit ihm alle zugleich. Aber Ansichten dieser Art, die doch wahrlich nicht an der Oberfläche geschöpft, sondern aus der Tiefe der Dinge heraufgeholt sind, scheinen nirgends mehr in ihrer Wahrheit erkannt oder anerkannt zu werden, selbst nicht in Kreisen, wo man sie billig hegen und pflegen sollte, sonst würde ein Stück wie ,Agnes Bernauer', das sie mit tausend Zungen predigt, ja wohl nicht zurückgewiesen! Verzeih mir Gott die Sünde, dass ich hier Groß und Klein zusammenknüpfe, aber es ist gewiss, dass ein Zusammenhang besteht." Diese Sätze sind überaus bezeichnend für den nachmärzlichen Hebbel und sollten ein für allemal das Gerede abtun, als hätte die Revolution keinen Einfluss auf ihn gehabt, allein es ist nun noch die Aufgabe, diesen von ihm selbst behaupteten „Zusammenhang" an seinen dichterischen Schöpfungen näher zu prüfen.

Wenn ich mich dabei auf die fünf großen Tragödien beschränke, die Hebbel vom Ausbruch der Revolution im März 1848 bis zu seinem Tode im Dezember 1863 gedichtet hat, so nicht etwa, weil an ihnen jener „Zusammenhang" am leichtesten nachzuweisen wäre. Ganz im Gegenteil! In seiner Lyrik und Epik liegt er viel klarer vor, wovon ich ja schon einige Proben gegeben habe, aber gegen den Dramatiker stehen der Lyriker und der Epiker Hebbel weit zurück, besonders der Epiker; verglichen mit „Hermann und Dorothea" ist das kleine Epos „Mutter und Kind" in allem und jedem und nicht zuletzt als „Weltbild" durchaus nur dritten Ranges. Die fünf großen Tragödien aber aus dieser Zeit: „Herodes und Mariamne", „Agnes Bernauer", „Gyges und sein Ring", „Die Nibelungen" und „Demetrius" stehen vollkommen auf der Höhe, ja sie enthalten eine Fülle dramatischer Schöpferkraft, wie sie kein anderer Dichter der deutschen Literatur in gleichem Umfang aufzubieten gewusst hat. Insoweit mag man diese dichterische Periode Hebbels eine „Zeit der Reife" nennen, wenn damit nur irgend etwas gesagt wäre. Man könnte ebenso gut oder sogar besser sagen, trotz alledem hafte diesen Tragödien ein unreifer Zug an, eben das Verhängnis, dass Hebbel nach allen Bedingungen seines Lebens seine dramatische Schöpferkraft nur wiedergewinnen konnte in einer Zeit, wo sich eine tiefe Entmutigung des nationalen Lebens bemächtigt hatte, gerade dadurch aber an ihrer völligen Entfaltung gehindert wurde. Über diese Tragödien Hebbels wölbt sich ein klarer und reicher Sternenhimmel; sie haben nichts von der freudigen Tageshelle, die über Schillers Tragödien strömt.

Gewiss besteht eine Ähnlichkeit zwischen Hebbels und Schillers letzten Schaffensperioden. Sie greifen nicht mehr ins volle Leben der Mitwelt, sondern sprechen zu ihren Zeitgenossen durch das Sprachrohr der Geschichte. Man kann auch sagen, dass der Dichter des „Wallenstein" nicht alles gehalten habe, was der Dichter von „Kabale und Liebe" versprach, sowenig wie der Dichter der „Nibelungen" alles, was der Dichter der „Maria Magdalena" versprochen hatte. Allein bei aller Ähnlichkeit doch wieder welche Unähnlichkeit! Man vergleiche mit jenen fünf Tragödien Hebbels die fünf historischen Dramen Schillers: „Don Carlos", „Wallenstein", „Maria Stuart", „Jungfrau von Orleans" und „Tell" – sofort tritt hervor, wie gerne Hebbel im Dämmer-, Schiller aber im Tageslicht der Geschichte weilt. Einmal begegnen sie sich, in je ihrem letzten Drama, im „Demetrius", den Hebbel fast vollendet, Schiller nur bis in den Anfang des zweiten Aufzugs geführt hat, aber während Schiller nicht ohne langes Bedenken an die „abenteuerliche Expedition", an das „tolle Sujet" heranging, war die Geschichte des falschen Demetrius der modernste Stoff, den Hebbel aus der Geschichte geschöpft hat. Gewiss wäre er kein so großer Dramatiker, wie er tatsächlich gewesen ist, ja er wäre überhaupt kein großer Dramatiker, wenn er seinen historischen Tragödien nicht eine eigentümliche historische Stimmung gegeben hätte; das versteht er selbst bei seinen entlegensten Stoffen, im „Gyges" sehen wir die reiche Wunderwelt Herodots vor uns, in den „Nibelungen" schreiten die reckenhaften Gestalten des mittelalterlichen Epos leibhaftig einher; ja im „Demetrius" sind die Volksszenen viel realistischer ausgeführt, als Schiller, soweit sich nach seinem Torso urteilen lässt, sie ausgeführt haben würde. Jedoch auf den Höhen der historischen Entwicklung findet sich Hebbel nicht zurecht; er versteht nicht, was Schiller so meisterhaft versteht, seine historischen Helden in all ihrer historischen Eigentümlichkeit aus den Herzen der Zeitgenossen emporwachsen zu lassen.

Herodes und Mariamne" soll in den Zusammenbruch der orientalischen Welt bei ihrer Berührung mit dem Römertum, soll auf den Boden führen, woraus das Christentum erwuchs. Davon hören wir manches, aber wir sehen nichts davon; die heiligen drei Könige, die Jesu Geburt ankündigen, schneien wie vom Himmel in den fünften Aufzug hinein. Wirklich lebendig ist in dem Stücke wieder nur der zwischen den Geschlechtern anhängige Prozess, und nicht einmal als die in ihrer Art gewaltige Eifersuchtstragödie, die Calderón aus demselben Stoffe gebildet hat7, sondern in der Form eines verzwickten modernen Problems. Herodes verletzt das Grundrecht des Menschen in der Frau, indem er seine Gemahlin zweimal, während er zu gefahrvollen Fahrten aufbricht, von denen er fürchten muss, nicht wiederzukehren, für den Fall seines Todes unter das Schwert des Henkers stellt. Der Konflikt selbst ist mit ungemeiner Kraft und Kunst durchgeführt, wenn auch nicht ohne eine spitzfindige Dialektik, die an Hebbels Jugenddramen erinnert. Allein er verschlingt nun auch das historische Milieu, das nahezu auf eine Haus- und Hofintrige im Palast eines orientalischen Despoten herabsinkt. Eine seltsame Kälte liegt über dem Drama, die sich sogar auf die beiden Hauptgestalten erstreckt; von der überwältigenden Liebe, die Herodes und Mariamne verbindet, spürt man nichts oder nichts mehr; sobald sich der Vorhang hebt, stehen sich beide schon misstrauisch gegenüber, wie zwei Fechter, von denen jeder die Sache seines Geschlechts blind und hartnäckig verficht bis zum unseligen Ende für beide. Eine Lösung des Konflikts kennt der Dichter nicht, in den Tagen des Herodes sowenig wie in seinen eigenen Tagen; er beendete das Drama in der „Wiener Schreckenszeit", will sagen, als im Herbst 1848 das Wiener Proletariat sich heldenmütig den plündernden Kroaten der Gegenrevolution widersetzte; Hebbel erkannte nicht die Anfänge des historischen Prozesses, der den großen, zwischen den Geschlechtern anhängigen Prozess dauernd schlichten wird.

Drei Jahre darauf, im Herbst 1851, unter den frischesten und stärksten Eindrücken der Gegenrevolution, schrieb Hebbel dann die „Agnes Bernauer". Auch diese Tragödie erinnert etwas an Hebbels Jugenddramen; wie in der „Genoveva", so ist die Reinheit und Schönheit der Heldin ihre tragische Schuld. Aber „Agnes Bernauer" bewegt sich doch schon auf historischem Boden; die Staatsräson steht der Liebesleidenschaft als gleichberechtigte Macht gegenüber, und aus ihrem Zusammenstoß erwächst der tragische Konflikt. Ich habe die Stellen aus Hebbels Tagebüchern bereits angeführt, wonach sich der Dichter durch die „Agnes Bernauer" über das Verhältnis zwischen Staat und Individuum klargeworden sein, wonach er durch seine „aus der Tiefe heraufgeholte" Auffassung den „Ultrademokraten" einen argen Possen gespielt haben will. Das hat sich bekanntlich nicht erfüllt; die „Ultrademokraten" sind obenauf, während die „Agnes Bernauer" vielleicht die vergessenste von Hebbels großen Tragödien ist. Bartels prophezeit ihr gleichwohl noch eine Bühnenzukunft, da sie „dem deutschen Volkscharakter sehr glücklich" entspreche; „in der schlappen Reaktionsperiode mit ihrem verbohrten Liberalismus" habe man sie nicht verstanden, aber in unserer Zeit werde man Hebbels Standpunkt im ganzen teilen. Sehen wir einmal zu!

Zunächst hat der „verbohrte Liberalismus" darin vollkommen recht, dass der Staat niemals schamloser vom Individuum ausgebeutet und gemissbraucht worden ist als in der „schlappen Reaktionsperiode", und dies Individuum, der feudale Junker in Österreich, Preußen, Mecklenburg etc., war alles eher als eine tragische Gestalt. Der „verbohrte Liberalismus" hatte dabei sehr konservative Historiker auf seiner Seite, wie beispielsweise Treitschke, der über die fünfziger Jahre schreibt: „Niemals hat eine siegreiche Partei ihre augenblickliche Überlegenheit so gewissenlos gemissbraucht, um die ganze Zukunft der Gesetzgebung sich zu unterwerfen, aber in jenen traurigen Tagen galt die frivole Geringschätzung des Landesrechts als ein Zeichen konservativer Gesinnung." Wenn nun Hebbel diese Ausbeutung des Staates durch ein historisch verkommenes Individuum für Staatsräson (im edelsten Sinne) hielt, so war das allerdings eine „aus der Tiefe", nämlich aus der Tiefe unergründlicher Konfusion „heraufgeholte" Auffassung, und der Ruhm der Konsequenz lässt sich ihm nicht absprechen, wenn er diese Staatsräson sich dramatisch spiegeln ließ in einem der scheußlichsten Verbrechen, das die Geschichte der deutschen Fürstenhäuser befleckt.

Agnes Bernauer, die schöne und tugendsame Baderstochter aus Augsburg, hatte sich von einem bayerischen Herzog zwar nicht verführen lassen, aber ihn geheiratet, da er sie und sie ihn liebte. Um dieser Heirat willen ließ sie der Vater ihres Gatten meuchelmörderisch in der Donau ertränken, worauf Vater und Sohn erst miteinander balgten, sich dann aber im Namen der heiligen Staatsräson versöhnten. Wie herrlich es um die Staatsräson der damaligen bayerischen Herzoge bestellt war, schildert Droysen, auch ein konservativer Historiker, wie folgt: „Sieht man in die fürstlichen Häuser, so findet man da wahrlich nicht bloß Untaten des Zornes, der rohen Gewalt, der Leidenschaft, sondern Frevellust, Tücke, raffinierte Bosheit, wie sie die frühe Fäulnis Italiens nicht ärger erzeugt hat. Es fehlen die Beispiele nicht, dass der Bruder den Bruder gemordet, die Schwester ins Elend getrieben, dass der Sohn den Vater dem Hungertod preisgegeben, und der Arm der Gerechtigkeit erreicht sie nicht. Nichts grauenhafter als die Kämpfe zwischen dem alten Ingolstädter Herzog Ludwig dem Bärtigen und seinem Sohne, dem klugen, frechen, boshaften Ludwig mit dem Höcker; der Sohn fing den Vater, warf ihn in den Turm, hielt ihn elendiglich, gab ihn als Pfand weiter; endlich in dem Kerker seines Todfeindes, jenes längst in Hass und Geiz verwilderten Herzogs Heinrich von Landshut – sie waren Söhne von Brüdern – hat der Achtzigjährige ,seiner Peinigung Ende' gefunden, aber ,ob es ein sinnlicher und vernünftiger oder ein genöter Tod gewesen, das weiß Gott allein'. Auch die dritte, die Münchener Linie des Hauses hat in der Freveltat des Vaters gegen seines Sohnes heimliche Ehe, in des Enkels Frevel gegen seine Brüder um der Alleinherrschaft willen ihre Tragödien." Droysen spricht hier von Tragödien nicht im ästhetischen, sondern im übertragenen Sinne des Wortes; die Ermordung der Agnes Bernauer ist ihm eine Freveltat, wie sie denn auch nichts anderes war; das Schicksal des Opfers war rührend, aber nicht tragisch; was wäre Tragisches daran, wenn ein harmloses Kind von einem verlotterten Strolch erschlagen wird! Die „Tragik" bringt erst Hebbel in den Tod der Agnes Bernauer, indem sie gegen die Staatsräson im edelsten Sinne verstoßen haben soll, weil sie wohl die Gemahlin, aber nicht die Dirne eines bayerischen Herzogs werden wollte, der sie und den sie liebte.

Hebbels Mangel an historischem Verständnis schützt ihn hinlänglich vor dem Verdacht einer verächtlichen Tendenzdramatik; auch sollen die dichterischen Vorzüge der „Agnes Bernauer" in keiner Weise verkannt werden. Aber wenn der heutige Literaturhistoriker über den Undank der Zeitgenossen gegen Hebbel klagt, so sollte er doch ein wenig mehr zu sagen haben als ein paar Redensarten über die deutsche Bourgeoisie. Diese Bourgeoisie hat gewiss sehr viel auf dem Kerbholz, aber dass sie von einem Dramatiker, der sich zur verruchtesten und verrücktesten Junkerherrschaft so stellte wie Hebbel in der „Agnes Bernauer", nicht viel wissen wollte, kann man ihr so sehr übel nicht nehmen. Es müsste schon eine politisch ganz entnervte Zeit sein, wie wir sie seit dem Erwachen der Arbeiterklasse nicht mehr erleben werden, in der „Agnes Bernauer" noch eine Zukunft haben könnte.

Glücklicherweise fand sich Hebbel im „Gyges" wieder zurecht, der 1854 erschien. Dies Drama gehört zu den wunderbarsten Gedichten, die je in deutscher Sprache ertönt sind, obgleich seine tragische Grundidee auch in der Gegenrevolution wurzelt. Sie wurde ungefähr zur gleichen Zeit von Lassalle in dem Satze entwickelt, dass die intellektuelle Schuld eines Revolutionärs, der eine Welt umstürzen wolle, ohne dieser Welt wirklich überlegen zu sein, auch eine sittliche Schuld sei: eine sittliche Schuld, die wieder dadurch gemildert, dass sie eine intellektuelle Schuld sei, den echtesten tragischen Konflikt darstelle.8 Leider besaß Hebbel bei all seiner spitzfindigen Dialektik nicht die revolutionäre Dialektik, diesen Konflikt zu entwickeln, und insofern hat es einen gewissen Sinn, dass Bartels und Meyer sich durch den „Gyges" nicht an eine tiefe philosophische Wahrheit des Revolutionärs Lassalle, sondern an einige Verlegenheitsredensarten des Reaktionärs Bismarck erinnert fühlen, Bartels an Quieta non movere, Meyer an die Imponderabilien. Wir hören im „Gyges" wieder manches, aber wir sehen nichts davon, wie König Kandaules „an den Schlaf der Welt" rührt, ohne ihr doch „Höheres bieten zu können"; lebendig wird abermals nichts als der Prozess der Geschlechter in einer sehr absonderlichen Form. In seinem Glücksübermut zeigt Kandaules seine Gemahlin Rhodope in der hüllenlosen Schönheit des ehelichen Gemachs seinem Gastfreund, dem Griechen Gyges; als Rhodope die ihr angetane Schmach erfährt, verlangt sie von Gyges den Tod ihres Gatten; darnach will sie sich ihm vermählen, um sich von der Befleckung zu sühnen; sobald die neue Ehe geschlossen ist, ersticht sie sich selbst. Doch vor der Fülle des Glanzes und der Schönheit, die über dies Werk ergossen ist, verstummt gern die Kritik; solange es eine deutsche Literatur gibt, wird sie es zu ihren Kleinodien zählen.

Und das gleiche gilt von den „Nibelungen". Vor der Mächtigkeit dieses Dramas, das sich in drei Terrassen, wie ein gigantisches Bauwerk, auftürmt, verzichtet man gern darauf, im einzelnen herzuzählen, was sich ästhetisch daran aussetzen lässt, wie viel unzerstörbare epische Reste doch noch in der dramatischen Form enthalten sein mögen; von allen, die sich an dem gewaltigen Stoffe versucht haben, reicht keiner entfernt an Hebbel heran; nur ein ganz großer Dichter vermochte diese entschlafene Welt mit neuem Leben zu füllen. Bescheiden wollte Hebbel nicht ein Künstler, sondern nur ein Küster sein, der ein altes Uhrwerk vom Staube gereinigt habe, und diese Bescheidenheit hat sich ihm reich gelohnt; die „Nibelungen" sind fast ganz frei von seinen alten Unarten, nur leise klingt ein oder ein paarmal ein fremder Ton hinein.

So entfaltet sich sein Genius nun doch in prachtvoller Blüte, aber als er sich im „Demetrius" einem großen historischen Konflikt in verhältnismäßig schon moderner Zeit zuwandte, als eine neue Periode seines dichterischen Schaffens heranzunahen schien, da packte ihn ein jäher Tod. Sein „Demetrius" selbst lässt bei alledem zweifelhaft, ob sich jene Hoffnung erfüllt haben würde. Schiller stellt, diesen Helden gleich von vornherein auf breiten historischen Boden, in der prachtvollen Reichstagsszene des ersten Aufzugs: das hat Hebbel nicht gekonnt und auch nicht gewollt. Ein Verhältnis zum historischen Leben hat er auch in seinem letzten Drama nicht gewonnen, trotz alles Fleißes, den er auf die realistische Außenseite der Dinge wandte. An dem Helden interessierte ihn nicht das historische, sondern das individuell-psychologische Problem, das sich in dieser Fassung nicht sowohl dramatisch als episch bewältigen lässt und am glücklichsten wohl von Willibald Alexis bewältigt worden ist im „Falschen Woldemar", den auch Hebbel einmal mit hohem Lob erwähnt. In seinen „Demetrius" hat Hebbel viel von seinem eigenen Leben gelegt, ohne ihn doch als dramatischen Helden recht lebendig machen zu können. Um ihm die reine Seele zu erhalten, ist er wenigstens ein Bastard des Zaren und erfährt seinen illegitimen Ursprung so spät, dass er nur noch, um die Freunde zu retten, den wissentlich falschen Prätendenten zu spielen braucht. Schiller würde nie mit seinem Betrüger fertig geworden sein, behauptete Hebbel oft; wie rächte sich nun doch an ihm, dass er den Begriff der tragischen Schuld, den er in der Geschichte nicht zu finden wusste, im ästhetischen Äther suchte; die angeblich so plumpe Moral Schillers war ihm noch lange nicht moralisch genug.

So hat er auch die Tragik des Schicksals, das er selbst durchleben musste, nicht verstanden und nicht einmal geahnt. Aber für die Nachwelt der sie offen vorliegt, fällt alles Kleinliche und Peinliche von dem großen Dichter und Kämpfer ab; sie wälzt seine Schuld nicht den unglückseligen Gestirnen, aber jener Gesellschaft zu, über die er selbst das brandmarkende Urteil gesprochen hat:

Du hast das Amt, zu rauben und zu töten.

1 Der reaktionäre Charakter der literaturgeschichtlichen Arbeiten von Adolf Bartels, der später zum Hauptvertreter der faschistischen Literaturgeschichtsschreibung wurde, ist von Mehring damals insgesamt zu milde beurteilt worden. Erst als Bartels in einem Buch über Heinrich Heine das Andenken des großen Dichters auf das schändlichste verunglimpfte, schlug Mehring schärfere Töne an (siehe „Eine Seeschlange"), ohne auch hier schon die ganze Gefährlichkeit des reaktionären „völkischen" Antisemitismus Bartels' zu verstehen.

2 Gemeint ist die literaturhistorische Richtung, die durch die positivistischen Arbeiten Wilhelm Scherers eingeleitet wurde und die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts großen Einfluss besaß. Neben Meyer war Erich Schmidt einer ihrer Hauptvertreter, der von Mehring in der „Lessing-Legende" vernichtend kritisiert wurde. (Siehe auch S. 531 dieses Bandes.) In der Vorrede zur zweiten Auflage der „Lessing-Legende" gab Mehring folgendes zusammenfassendes Urteil über die „Scherer-Schule": „Sie hat viel in ästhetisch-philologischer Kleinarbeit geleistet und versteht sich trefflich auf die kritische Analyse von Dichtwerken, soweit es sich um ästhetisch-philologische Gesichtspunkte handelt. Sie hat in siegreicher und gewiss auch dankenswerter Weise wenigstens den intelligenteren Schichten der deutschen Bourgeoisie beizubringen verstanden, dass Anzengruber, Ibsen, Hauptmann Poeten von ganz anderem Wurfe sind als Blumenthal oder Lindau. Insofern haben ihre Arbeiten die bürgerliche Ästhetik und Kritik ungemein erfrischt, die ebenso verkommen war wie die bürgerliche Poesie. Aber ihr Verständnis schwindet, wie mit dem Messer abgeschnitten, wo sich die literarische mit der ökonomischen und politischen, mit der allgemeinen historischen Entwicklung berührt: Will sie Literaturgeschichte schreiben, so fehlt ihrer Darstellung die historische Perspektive und ihren Gestalten das historische Relief. Sie verfällt dann in ein leeres Phrasenwesen, das durch einen peinlichen Stich ins Loyal-Untertänige nichts weniger als verschönert wird."

3 Gemeint ist der saarländische Industriemagnat Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, einer der Gründer und Führer der Deutschen Reichspartei, Mitglied des Reichstages, dessen Reichtum und Einfluss damals geradezu zum Symbol für die Macht des Großkapitals wurde.

4 Mehring bezieht sich auf den Aufsatz „Friedrich Hebbel" von Heinrich von Treitschke. In: Heinrich von Treitschke. Aufsätze, Reden und Briefe. Hrsg. von Dr. Karl Martin Schiller, Meersburg 1929, Bd. 1, S. 90-111.

5 "Ästhetische Streifzüge" (November 1898 - Februar 1899).

6 Mehring spielt auf den italienischen Krieg 1859 an, der die Differenzen und Rivalitäten zwischen Österreich und Preußen – den beiden einflussreichsten Staaten innerhalb des Deutschen Bundes – anschaulich demonstrierte.

7 Gemeint ist Calderóns Drama „Eifersucht, das größte Scheusal" (1635).

8 In Lassalles „Handschrift über die tragische Idee". Siehe Engels an Margaret Harkness, Anfang April 1888. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 37, S. 43/44.

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