II

II [Goethe und Schiller]

Über die Stellung Goethes und Schillers zu Kant hat sich einmal Karl Marx1 geäußert in einer fast ganz verschwundenen Zeitung der vierziger Jahre. Die Stelle ist interessant genug, um sie etwas ausführlicher wiederzugeben, als der unmittelbare Zweck dieser Untersuchung erfordern würde.

Marx schreibt also:

Goethe verhält sich auf eine zwiefache Weise zur deutschen Gesellschaft seiner Zeit. Bald ist er ihr feindselig, er sucht dem ihm Widerwärtigen zu entfliehen, wie in der „Iphigenie" und überhaupt während der italienischen Reise, er rebelliert gegen sie als Götz, Prometheus und Faust, er schüttet als Mephistopheles seinen bitteren Spott über sie aus. Bald dagegen ist er ihr befreundet, schickt sich in sie wie in der Mehrzahl der Zahmen Xenien und vielen prosaischen Schriften, feiert sie wie in den Maskenzügen, ja verteidigt sie gegen die andrängende geschichtliche Bewegung, wie namentlich in allen Schriften, wo er auf die Französische Revolution zu sprechen kommt. Es sind nicht nur einzelne Seiten des deutschen Lebens, die Goethe anerkennt, gegen andere, die ihm widerstreben. Es sind häufiger verschiedene Stimmungen, in denen er sich befindet; es ist ein fortwährender Kampf in ihm zwischen dem genialen Dichter, den die Misere seiner Umgebung anekelt, und dem behutsamen Frankfurter Ratsherrnkind oder Weimarischen Minister, der sich genötigt sieht, Waffenstillstand mit ihr zu schließen und sich an sie zu gewöhnen. So ist Goethe bald kolossal, bald kleinlich, bald trotziges spottendes weltverachtendes Genie, bald rücksichtsvoller genügsamer enger Philister. Auch Goethe war nicht imstande, die deutsche Misere zu besiegen; im Gegenteil, sie besiegte ihn, und dieser Sieg der Misere über den größten Deutschen ist der beste Beweis, dass sie „von innen heraus" überhaupt nicht zu überwinden ist. Goethe war zu universell, zu aktiver Natur, zu fleischlich, um in einer Schillerschen Flucht ins Kantsche Ideal Rettung vor der Misere zu suchen; er war zu scharfblickend, um nicht zu sehen, wie diese Flucht sich schließlich auf die Vertauschung der platten mit der überschwänglichen Misere reduzierte. Sein Temperament, seine Kräfte, seine ganze geistige Richtung wiesen ihn aufs praktische Leben an, und das praktische Leben, das er vorfand, war miserabel. In diesem Dilemma, in einer Lebenssphäre zu existieren, die er verachten musste, und doch an diese Sphäre als die einzige, in welcher er sich betätigen konnte, gefesselt zu sein, in diesem Dilemma hat sich Goethe fortwährend befunden, und je älter er wurde, um so mehr zog sich der gewaltige Poet hinter den unbedeutenden Weimarischen Minister zurück. Wir werfen Goethe nicht à la Börne und Menzel vor, dass er nicht liberal war, sondern dass er zuzeiten auch Philister sein konnte; nicht, dass er keines Enthusiasmus für deutsche Freiheit fähig war, sondern dass er zur Zeit, wo ein Napoleon den großen deutschen Augiasstall ausschwemmte, die winzigsten Angelegenheiten und menus plaisirs eines der winzigsten deutschen Höflein mit feierlichem Ernste betreiben konnte.2

So lehrreich diese Sätze sind, so müssen sie doch gerade in dem Punkte, auf den es hier ankommt, näher erläutert werden. Vermutlich hätte Marx sie auch anders gefasst, wenn er sie nicht streitend, sondern lehrend geschrieben hätte. Er richtete sie gegen Karl Grün, der am Vorabend der Märzrevolution in seinem schwachen Buche über Goethe einen philiströsen Idealismus ausgepatscht hatte. Der deutsche Idealismus sah aber ganz anders aus am Ende des achtzehnten als in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts.

Verglichen mit Schiller war Goethe gewiss die universellere und künstlerisch reichere, aber deshalb doch nicht die aktivere Natur. Schiller selbst nannte Goethes Geistesart intuitiv, die seinige aber spekulativ: Goethe steige vom Individuum zur Idee auf, während ihm zuerst die Idee gegeben sei, von wo er zum Individuum herabsteige. Künstlerisches Genie verträgt sich mit beiden Geistesarten und ebenso aktives Handeln, doch wird die intuitive Geistesart sich gegen alles Philosophieren weit spröder verhalten als die spekulative. In der Tat meinte Goethe selbst, dass er für Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes keine Begabung habe; er liebte nicht das „Hinpfahlen allgemeiner Begriffe", wie er einmal mit einem bezeichnenden Ausdrucke sagte. Nur für Spinoza hatte er ein tieferes Verständnis und auch nur für die großen Grundgedanken dieses Philosophen: für die Einheit alles Seienden, die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens, die Einerleiheit von Geist und Natur. Die Schriften Spinozas wollte Goethe doch nicht unterschreiben, von Spinozas „mathematischer und rabbinischer Kultur" nichts wissen. An Kants Philosophie konnten ihn nicht einmal die Grundgedanken anziehen; er lehnte sie im günstigsten Falle höflich ausweichend ab, manchmal aber auch sehr derbe; so meinte er in all seiner Weltfreudigkeit, mit der Lehre vom radikal Bösen der Menschennatur habe sich Kant seinen reinen Philosophenmantel freventlich beschlabbert.

Deshalb ist es ein sehr gewagtes Unternehmen, über Goethes Weltanschauung in irgendeinem philosophischen Sinne des Wortes zu schreiben, und Steiner, der es dennoch versucht, bleibt denn auch auf der Strecke liegen. Sein Gedankengang ist, dass „in einem verhängnisvollen Augenblick" irgendein alter Grieche von einem vertrackten Misstrauen in die menschlichen Sinnesorgane ergriffen worden und dass seitdem die Menschheit mit dem philosophischen Idealismus geplagt gewesen sei, bis Goethe wieder eine einheitliche Weltanschauung hergestellt habe. Steiner führt seinen Nachweis hauptsächlich aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, kommt aber zu dem Ergebnis, dass Goethe es doch nie zu der unmittelbaren Anschauung des Befreiungsakts gebracht, dass er zwar die höchste Erkenntnisart ausgeübt, aber nicht an sich beobachtet habe. Was Steiner damit meint, ist schwer zu sagen; den einzigen greifbaren Fingerzeig gibt ein Hymnus auf – Max Stirner; zum Schlusse wird der Leser mit der Versicherung entlassen, dass Goethe, wenn er ein philosophisches Gedankengebäude aufgestellt hätte, damit ebenso in die Brüche geraten sein würde wie Hegel. Da Steiner einen Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die große Weimarer Ausgabe besorgt, so öffnet man seine Schrift mit einiger Erwartung, muss sie aber gänzlich enttäuscht zuklappen.

Die verschiedene Stellung Goethes und Schillers zur Philosophie wurde aber nicht nur durch ihre angeborene Naturanlage, sondern mindestens ebenso sehr durch ihre soziale Stellung bedingt. Goethe gehörte als „Frankfurter Ratsherrnkind und Weimarischer Minister" zu den herrschenden Klassen, und seine Rebellion gegen die Misere der deutschen Zustände war in erster Reihe die Rebellion eines genialen Künstlers gegen ein unerträglich dumpfes und kläglich gebundenes Philisterleben; an den sozialen Zuständen rüttelte er auch dann nicht, wenn er rebellierte. Ganz anders Schiller, der von Kindesbeinen an herumgestoßen wurde und auf der Karlsschule ein unwürdiges Sklavenleben führen musste. Als der junge Goethe in Straßburg das berühmte Manifest des französischen Materialismus las, Holbachs „System der Natur", worin schon der schneidende Luftzug der großen französischen Revolution wehte, kam es ihm „so grau, so kimmerisch, so schattenhaft" vor, dass er wie vor einem Gespenste zurückschauderte; es erschien ihm als „die rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmackhaft, ja abgeschmackt". Ihm ward hohl und leer in dieser „tristen, atheistischen Halbnacht", in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. So empfand der schöpferische Künstler, aber auch der Frankfurter Patriziersohn, der genau zur selben Zeit aus Gründen der sozialen Klassenordnung mit einem geliebten Mädchen brach. Wie anders bekämpfte Schiller in den „Räubern", als er im gleichen Lebensalter stand, die herrschende Gesellschaftsordnung mit den schneidenden Waffen des Materialismus!

In dem Leben beider Dichter gibt es nach ihren großen Jugendwerken eine Zeit der Brache, worin der Acker gleichsam neue Kräfte sammelt, um herrliche Ernten zu tragen. Goethe verlebte diese Zeit von der Mitte der siebziger bis zur Mitte der achtziger Jahre in einem zerstreuenden Hof leben, Schiller von der Mitte der achtziger bis zur Mitte der neunziger Jahre in dem bittersten Kampfe um des Lebens Nahrung und Notdurft. Als Dichter fanden sie sich wieder: Goethe auf der italienischen Reise, Schiller in der Kantischen Philosophie. Aber während Goethe, wie Marx zutreffend sagt, durch die italienische Reise „dem ihm Widerwärtigen entfloh", „flüchtete" Schiller keineswegs in das Kantische Ideal3, sondern, indem er es leidenschaftlich ergriff, stellte er sich zur deutschen Gesellschaft viel „aktiver" als Goethe.

In gewissem Sinne war Schiller schon Kantianer gewesen, ehe er Kants Philosophie kennenlernte. Während sich der revolutionäre Groll des gequälten Dichters gegen erstickende Lebensverhältnisse in seinen Jugenddramen entlud, regte sich gleichzeitig seine spekulative Ader in einigen Gedichten, die in noch sehr schwankenden, aber doch erkennbaren Umrissen die Stufenfolge der Kantischen Ideenwelt andeuteten. In der „Freigeisterei der Leidenschaft" empört sich, die Sinnenwelt gegen die grausame Härte des Sittengesetzes; in der „Resignation" siegt das moralische Reich, freilich nur so, dass der Verzicht auf die Vergeltung der Tugend im Jenseits fast als Hohn erscheint auf alle, die sich durch die Hoffnung auf eine solche Vergeltung um den Sinnengenuss prellen lassen; in den „Künstlern" sammelt sich „der Menschheit Würde" um die Kunst. Diese gärenden Gedanken fand Schiller bei Kant in einem großen System von innen heraus geschlichtet, aber auch der Dichter der „Räuber", der sich an der deutschen Misere hoffnungslos abgerungen hatte, fand sein Genügen in der Kantischen Philosophie. Reichte Schiller als Philosoph an Kant nicht heran, so war er „aktive Natur" genug, sich den Meister in seiner Weise zurechtzulegen. Aus Kants Reiche der Natur machte er den Naturstaat, worunter er den feudalistisch-absolutistischen Staat seiner Zeit verstand, aus Kants Reiche der menschlichen Willensfreiheit „den Bau einer wahren politischen Freiheit", und wie Kant das Reich der Kunst als verbindendes Glied zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche der Freiheit errichtete, so wollte Schiller aus dem Naturstaat über die Brücke der ästhetischen Kultur in den bürgerlichen Vernunftstaat.

Die ästhetischen Abhandlungen, in denen sich Schiller zunächst mit Kant auseinandersetzte, ziehen die Konsequenzen des bürgerlichen Vernunftrechts mit radikaler Schärfe. Es seien nur einige Proben gegeben. So heißt es in dem Aufsatz über naive und sentimentalische Dichtung: „Eine solche Ausdehnung des Eigentumsrechts, wobei ein Teil der Menschen zugrunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht gegründet." Und in dem Aufsatz über das Erhabene: „Des Menschen ist nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erleidet, wirft seine Menschheit weg." Und in den Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst: „Sklaverei ist niedrig, aber eine sklavische Gesinnung in der Freiheit ist verächtlich; eine sklavische Beschäftigung hingegen ohne eine solche Gesinnung ist es nicht, vielmehr kann das Niedrige des Zustandes, mit Hoheit der Gesinnung verbunden, ins Erhabene übergehen." Sätze, die wie auf den proletarischen Klassenkampf der Gegenwart gemünzt erscheinen.

Nicht jedoch, als ob Schiller deshalb das Ästhetische wieder mit dem Moralischen oder Politischen zusammengeworfen hätte! Seitdem Nietzsche mit einem albernen und unverschämten Kalauer in Schiller den „Moraltrompeter von Säckingen" entdeckt hat, erachtet es jedes gründeutsche Genie für seine Ehrenpflicht, in den Tempel der Unsterblichkeit mit irgendeiner Rüpelei gegen Schiller einzutreten; wer jedoch noch der altvaterischen Gewohnheit huldigt, einen Schriftsteller erst zu lesen, ehe er ihn verdonnert, weiß hinlänglich, dass Schiller das Ästhetische so strenge, wie nur immer Kant, vom Moralischen und Politischen gesondert hat. Aus der Fülle der Beweise sei hier nur der Aufsatz über das Pathetische herausgegriffen, worin Schiller es für einen „barbarischen Geschmack" erklärt, den Dichtern „Nationalgegenstände" zur Bearbeitung zu empfehlen, wo er schreibt: „Wehe dem griechischen Kunstgeschmacke, wenn er durch die historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter erst hätte gewonnen werden müssen", wo er auch sagt: „Es ist offenbar Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zwecke in ästhetischen Dingen fordert, und, um das Reich der Vernunft zu erweitern, die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiete verdrängen will." Allerdings schreibt Schiller einmal „Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten", aber auch in diesem Aufsatze sondert er Ästhetik und Ethik scharf, um den allgemeinen Gedanken durchzuführen, dass die ästhetische Kultur mittelbar einen günstigen Einfluss auf die Sittlichkeit der Menschheit habe, eine so gemeinplätzliche Wahrheit, dass Schiller die kleine Arbeit als Lückenbüßer in den „Horen" abgedruckt, aber nicht mehr in die Sammlung seiner prosaischen Schriften aufgenommen hat. Kants Satz, dass der Gegenstand der ästhetischen Betrachtung nicht der Inhalt, sondern die Form sei, erscheint bei Schiller in der prägnanten Fassung: „Darin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form vertilgt." Überhaupt, wenn Schillers ästhetische Abhandlungen nicht immer Kants philosophische Tiefe erreichen, so sind bei ihm die rein ästhetischen Urteile, eben weil er ein Dichter war, oft reicher und schärfer gefasst als bei Kant. Hatte Kants Schönheitsideal noch stark an Winckelmanns griechische Kontur erinnert, und hatte selbst Lessing sich noch „allenfalls" damit befreunden wollen, dass die Obrigkeit alles Gemeine und Niedrige in der Kunst unterdrücke, so sichert Schiller dem Gemeinen und Niedrigen sein gutes Recht in der Kunst. Freilich meint er, das Grässliche und das Niedrige, die äußersten Grenzposten des Geschmacks, seien sehr behutsam anzuwenden und müssten durch einen erheblichen künstlerischen Zweck gerechtfertigt werden, aber man sehe deshalb nicht allzu verächtlich auf den armen Kerl herab; die glorreiche Entdeckung, dass der Dreck um des Dreckes willen die künstlerische Darstellung erheische, konnte ja doch erst in unserem erleuchteten Zeitalter gemacht werden.

Indem Schiller in seinen ästhetischen Abhandlungen auch aus Gründen des bürgerlichen Vernunftrechts seine Schlüsse zog, ging er nicht hinter Kant zurück, sondern über Kant hinaus. Er suchte die Möglichkeit ästhetischer Urteile nicht mehr in dem „übersinnlichen Substrat", sondern praktisch in der historischen Bedingtheit des Menschen. Gewiss teilte auch Schiller das allgemeine Vorurteil der bürgerlichen Aufklärung, dass sie die menschliche Aufklärung überhaupt und nicht bloß für einen bestimmten Zeitraum sei, aber als Dichter von feurigem und leidenschaftlichem Temperament lehnte er instinktiv ab, was in Kants ästhetischer Theorie leblose Abstraktion war.

Die bedeutendste von Schillers ästhetischen Abhandlungen sind die „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen". Als er sie zu veröffentlichen begann, schrieb er an Goethe: „Ich habe über den politischen Jammer noch nie eine Feder angesetzt, und was ich in diesen Briefen davon sage, geschah bloß, um in aller Ewigkeit nichts mehr davon zu sagen." Wirklich ist für Schiller der „politische Jammer" nur das Sprungbrett, um sich ins ästhetische Ideal zu schwingen, aber dadurch ist dies Ideal auch schon historisch begrenzt. Das historische Geheimnis unserer klassischen Literatur ist in den ästhetischen Briefen mit einer Klarheit aufgedeckt, die heute nur noch unklar erscheinen lässt, wie diese Lösung des Rätsels von der bürgerlichen Geschichtschreibung jemals wieder hat verdusselt werden können.

Schiller beginnt mit der Frage, weshalb er sich mit ästhetischen Untersuchungen abgebe, da doch „das vollkommenste aller Kunstwerke, der Bau einer wahren politischen Freiheit" ein „so viel näheres Interesse darbiete", in einem Augenblicke, wo auf dem politischen Schauplatze „das große Schicksal der Menschheit" verhandelt werde, „der große Rechtshandel", woran jeder beteiligt sei, der sich Mensch nenne. Er antwortet, das morsche Gebäude des Naturstaats wanke zwar, jedoch finde der freigebige Augenblick ein unempfängliches Geschlecht. Das spricht der enttäuschte Dichter der „Räuber", aber indem nun Schiller die Aussichtslosigkeit des bürgerlichen Klassenkampfs schildert, kommt auch der deutsche, durch die französische Schreckenszeit erschreckte Spießbürger reichlich und überreichlich zum Worte. Schiller entdeckt „rohe und gesetzlose Triebe" in den „niederen und zahlreicheren Klassen", nur dass er hinzufügt, die „zivilisierten Klassen" böten den noch widrigeren Anblick der Schlaffheit und einer Degeneration des Charakters, die um so mehr empöre, weil die Kultur selbst ihre Quelle sei.

Gewiss fänden sich bei allen Völkern, die in der Kultur begriffen seien, ähnliche Zustände, allein bei einiger Aufmerksamkeit bleibe ein Kontrast zwischen der heutigen und der ehemaligen, besonders der griechischen Form der Menschheit. Der Unterschied zwischen der antiken und der bürgerlichen Gesellschaft tut sich dem Seherblicke des Dichters auf. In dem Deutschland, das noch nichts von der großen Industrie und kaum etwas von der Manufaktur wusste, schreibt Schiller: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdrucke seines Geschäfts, seiner Wissenschaft." Schiller bricht darüber keineswegs in reaktionäre Klagen aus. Er sagt vielmehr: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur." Aber, so fügt Schiller hinzu, auch nur das Instrument; solange er dauert, ist man erst auf dem Wege zur Kultur. Wie viel immer für das Ganze der Welt durch die getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen wird, so leiden die Individuen unter dem Fluche dieses Weltzwecks. „Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar athletische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichmäßige Spiel der Glieder die Schönheit. Ebenso kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar außerordentliche, aber nur ihre gleichförmige Kultur glückliche und vollkommene Menschen erzeugen. Und in welchem Verhältnis ständen wir also zu dem vergangenen und dem kommenden Weltalter, wenn die Ausbildung der menschlichen Natur ein solches Opfer notwendig machte? Wir wären die Knechte der Menschheit gewesen, wir hätten einige Jahrtausende lang die Sklavenarbeit für sie getrieben und unserer verstümmelten Natur die beschämenden Spuren dieser Dienstbarkeit eingedrückt – damit das spätere Geschlecht in einem seligen Müßiggange seiner moralischen Gesundheit warten und den freien Wuchs seiner Menschheit entfalten könnte." Schiller zieht auch hier rücksichtslos die Konsequenzen des bürgerlichen Vernunftrechts, und seine Schuld ist es nicht, dass sich die bürgerliche Vernunft auf halbem Wege in den bürgerlichen Profit verlor und nun nichts mehr von „Zukunftsstaaten" wissen will, worin sich der „freie Wuchs der Menschheit" entfalten kann.

Kann dies Ziel nun aber nach Schillers Auffassung nicht durch den Kampf zwischen den „niederen" und den „zivilisierten Klassen" erreicht werden, so auch durchaus nicht durch den Naturstaat, den absolutistisch-feudalen Staat, dessen barbarische Rohheit und unheilbare Verrottung die ästhetischen Briefe mit beredten Worten schildern. Es ist, als ob Schiller durch das Dunkel des kommenden Jahrhunderts hindurch die Urteile der preußischen Disziplinargerichtshöfe in Sachen Leist und Wehlan einer-, in Sachen Kirchmann und Möller andererseits ablese, wenn er das beißende Epigramm abschnellt, der Naturstaat werde sich leichter dazu entschließen – und wer könne ihm darin Unrecht geben? —, seinen Mann mit einer Venus Zytherea, der Göttin geiler Lust, als mit einer Venus Urania, der hehren Himmelsgöttin, zu teilen. So kommt denn Schiller zu dem Ergebnisse, dass man durch das ästhetische Problem seinen Weg nehmen müsse, um das politische Problem zu lösen, dass der Weg zur Freiheit durch die Schönheit führe.

So einleuchtend die ästhetischen Briefe Schillers nachweisen, weshalb der bürgerliche Befreiungskampf des vorigen Jahrhunderts sich in Deutschland auf dem Gebiete der Kunst entfalten musste, so geraten sie selbstverständlich ins bodenlose bei dem Versuche, den Weg von der ästhetischen Schönheit zur politischen Freiheit zu finden. Schon im zehnten Briefe gesteht Schiller, die Erfahrung sei vielleicht der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie diese ausmachen lasse, und je mehr er sich in seine gedankenreichen Untersuchungen vertieft, um so mehr wird ihm das Mittel zum Zwecke. Er sucht wohl noch seinen Grundgedanken in dem Satze festzuhalten: „Der Mensch in seinem physischen Zustand erleidet bloß die Macht der Natur, er erledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen", aber die ästhetischen Briefe schließen doch mit dem „ästhetischen Staat" als dem Endziele. „Der Geschmack breitet über das physische Bedürfnis, das in seiner nackten Gestalt die Würde freier Geister beleidigt, seinen mildernden Schleier aus und verbirgt uns die entehrende Verwandtschaft mit dem Stoff in einem lieblichen Blendwerk von Freiheit. Beflügelt durch ihn, entschwingt sich auch die kriechende Lohnkunst dem Staube, und die Fesseln der Leibeigenschaft fallen, von seinem Stabe berührt, von dem Leblosen wie von dem Lebendigen ab … Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte, und wenn es wahr ist, dass der schöne Ton in der Nähe des Throns am frühesten und vollkommensten reift, so müsste man auch hier die gütige Schickung anerkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealistische Welt zu treiben." So kommt Schiller allerdings ins Kantische Ideal zurück, und wenn man will auf einer Flucht, aber auch jetzt noch sich tapfer gegen die „einschränkende Wirklichkeit" wehrend und die Kantische Spekulation dahin rettend, wohin sie ihrem Wesen nach gehört, in das Reich der Dichtung. Unmittelbar an Schillers ästhetische Briefe schließen sich seine philosophischen Gedichte, in denen er die ästhetische Erlösung als die einzige Rettung aus dem ewigen Konflikte „zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden" feiert.

Über diese Gedichte handelt Lange in der Abhandlung, die O. A. Ellissen, sein verdienter Biograph, in einer Sammlung von Schulausgaben veröffentlicht hat. Für Unterrichtszwecke bestimmt, enthält die kleine Arbeit nichts eigentlich Neues, wenigstens für den nicht, der Langes „Geschichte des Materialismus" kennt, trotzdem ist ihre Herausgabe sehr dankenswert, sowohl weil sie eine vortreffliche Erläuterung von höchst bedeutenden, aber gar nicht leicht verständlichen Dichtungen ist, als auch weil sie Langes eigenen Standpunkt, wenn nicht in ein neues, so doch in ein helleres Licht rückt.4 Viel klarer und knapper als in seinem großen Werke, das sich manchmal in etwas ermüdender und unfruchtbarer Weise mit dem „Ding an sich" herumschlägt, geht aus dem Schriftchen hervor, was der weitaus hervorragendste aller bürgerlichen Neukantianer unter dem „Zurückgehen auf Kant" verstand. Lange sagt hier mit aller wünschenswerten Deutlichkeit: „Bei Kant ist Kritik und Spekulation aufs innigste verschmolzen. Er ist scheinbar nur Kritiker und begründet doch eine Spekulation, welche uns nicht nur unwandelbare und schlechthin notwendige Ideen dichtet, sondern auch noch den Anspruch erhebt, das gesamte Wissen nach diesen Ideen zu ordnen." Darin sieht Lange keine Wissenschaft, sondern nur Dichtung; es ist wesentlich ein ästhetisch-gemütliches, durch den flachen und rohen Materialismus der fünfziger Jahre nicht befriedigtes Bedürfnis, das den evangelischen Pfarrerssohn Lange zu Kant und noch mehr zu dem Dichterphilosophen Schiller zurückführt.

Um den Idealismus Kants in irgendwelcher wissenschaftlichen Form zu bekennen, dazu stand Lange praktisch den entscheidenden Klassenkämpfen des Jahrhunderts viel zu nahe. Da dieser Idealismus aus der Unmöglichkeit des politischen Kampfes entsprang, so musste er in dem Augenblicke, wo der politische Kampf möglich wurde, zur „überschwänglichen Misere" werden, wie Marx nicht minder wahr als scharf sagte. Und hätte Lange den historischen Materialismus gekannt, so wäre ihm nicht jener „oberste und letzte Zweifel" geblieben, den ihm das Kantische Ideal, als Dichtung, in Schillers ästhetisch-meisterhafter Form beschwichtigte.

1 Die von Mehring erwähnte Stelle stammt nicht von Marx, sondern ist einer Aufsatzreihe von Friedrich Engels in der „Deutschen-Brüsseler-Zeitung", „Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa", entnommen.

3 Dieser Standpunkt ist von Mehring später revidiert worden. Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Schiller-Biographie bekennt sich Mehring ausdrücklich zu der Auffassung Engels'.

4 Mehring hat die Arbeit des Philosophen F. A. Lange stets viel zu positiv eingeschätzt. Lenin, der F. A. Lange scharf kritisierte, schrieb von ihm, dass er die Geschichte des Materialismus falsifiziert habe.

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