III

III [Klassische und naturalistische Ästhetik]

Um mehr als hundert Jahre nach Kants und Schillers ästhetischen Abhandlungen veröffentlicht Edgar Steiger in seinem Buche über das Werden des neuen Dramas eine moderne Ästhetik, gestützt auf den modernen Naturalismus im allgemeinen und die Dramen Ibsens, Hauptmanns und Maeterlincks im besonderen.

Beginnt man Steigers Buch zu lesen, so könnte man zunächst meinen, dass er an unsere klassische Ästhetik anzuknüpfen beabsichtige. Er sagt nämlich gleich im Eingange, er wolle der Kunst, „dem verachteten Aschenbrödel der Philosophen, das seine beiden hoffärtigen Schwestern, das Erkennen und das Wollen, aus der guten Stube des reinen Gedankens und aus dem Wohnzimmer des praktischen Lebens hinaus gejagt hätten, damit es in der Küche mit den Mägden und Kindern spiele – ihr, der geborenen Prinzessin, den Herrschersitz, der ihr gebühre, zurückerobern und sie im prunkenden Hochzeitskleide den Schwestern als die Braut des von ihnen umsonst so heiß ersehnten Lebens" vorführen. Es ließe sich wohl darüber streiten, ob diese Auffassung nicht viel einseitiger und in den historischen Zeitverhältnissen viel weniger begründet sei als einst die Auffassung Kants und Schillers war, aber sie erinnert immerhin lebhaft daran, und es möchte scheinen, als ob Steiger gegenüber hoffärtigen Philosophen, wie dem schon von Schiller als „unästhetisch" gescholtenen Fichte, der die Kunst wieder zu einem Versinnlichungsmittel des Sittlichen und Wahren machen wollte, oder auch gegenüber Hegel, der in ihr ein Symbol der „absoluten Idee" sah, sich auf Kant und Schiller zurückbesinnen wolle.

Jedoch würde es Steiger als tödliche Beleidigung auffassen, wenn man ihm zumuten wollte, durch die „verstaubten Brillengläser schwächlicher Nachahmer einer untergegangenen Kunstperiode" zu sehen oder gar sich mit der „plumpen Moralisiererei" und den „moralischen Salbadereien" Schillers einzulassen. Es ist gar nicht zu sagen, mit wie wuchtiger Überlegenheit Steiger diesen „als Künstler so viel überschätzten Moralprediger" niederschmettert. Besonders Schillers „Wallenstein" hat es ihm angetan. „Sogar ein Wallenstein musste in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, wo sich alle deutschen Fürsten einen Sport daraus machten, vom Kaiser abzufallen, an Untertanengewissensbissen leiden." An einer anderen Stelle lässt Steiger nur so viel gelten, dass Schillers Wallenstein, „dessen königtreue Gewissensbisse uns seltsam genug anmuten", durch seinen unsichtbaren Doppelgänger fessele. „Oder wer wollte leugnen, dass dem Dichter bei dem großen Schlachtenlenker des Dreißigjährigen Krieges ein Größerer Pate gestanden hat – einer, der zu Schillers Zeit nicht Vergangenheit, sondern lebendige Gegenwart war – Napoleon?" In der Tat – wer wollte leugnen?

Zunächst jeder, der einmal einen Blick in irgendeine Schiller-Biographie geworfen hat. Schiller begann sich dramatisch mit Wallenstein im Jahre 1790 zu beschäftigen, zu einer Zeit, wo noch niemand von einem Napoleon wusste, und er vollendete die Trilogie im Winter von 1798 auf 99, als Napoleon einer unter den siegreichen Generalen der französischen Republik und übrigens auf der ägyptischen Expedition verschollen war. Wer gar, von historischem Wissensdrange getrieben, einmal eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges angeblättert hat, der weiß erstens, dass es mit dem „Sport" der deutschen Fürsten, vom Kaiser abzufallen, immerhin seine eigene Bewandtnis hatte, indem sogar die verkommenen Kurfürsten von Brandenburg und von Sachsen mancherlei Gewissensbisse überwinden mussten, ehe sie sich mit dem Reichsfeinde Gustav Adolf in landesverräterische Zettelungen einließen, und zweitens, dass Wallenstein überhaupt kein Reichsfürst, sondern ein böhmischer Edelmann und geschworener Feldhauptmann des Kaisers war, der mit einem Plane, im nationalen Interesse die kaiserliche Macht in Deutschland wiederherzustellen, und sei es selbst gegen den Willen des Kaisers, in einen tragischen Konflikt der Pflichten geriet. Es mag wohl ein Pech für Wallenstein gewesen sein, dass er den „unbarmherzigen Seher kommender Jahrtausende", was Nietzsche nach Steigers Behauptung ist, nicht gekannt und als „Übermensch" nicht „jenseits von Gut und Böse" gestanden hat, aber unzweifelhaft hat er an diesem Pech gelitten, und so musste Schiller ihn schon nehmen, wie er gewesen ist, was am wenigsten vom Standpunkt einer Ästhetik, die auf Wahrheit und Wirklichkeit in der Kunst dringt, getadelt werden sollte. Freilich hat Schiller seinen Helden nicht, wie er sich räusperte und spuckte, sondern als historische Gestalt in historischem Zusammenhange dargestellt; er hat mit dem genialen Tiefblicke des schöpferischen Dichters vielen historischen Aufschlüssen vorgegriffen, die erst lange nach Schillers Tode aus dem Staube der Archive über Wallenstein gewonnen worden sind. Aber nach den Erfahrungen, die Gerhart Hauptmann in seinem „Florian Geyer" mit der mikroskopischen Nachahmung des Räusperns und Spuckens gemacht hat, brauchte ein atemloser Bewunderer Hauptmanns just nicht so hoffärtig über Schiller herzufallen.

Weit entfernt, auf dem Grunde fortzubauen, den Kant und Schiller gelegt haben, will Steiger „mit den Waffen der modernen Erkenntnistheorie den Grundproblemen der Ästhetik" zu Leibe gehen. Über diese „moderne Erkenntnistheorie" lässt er sich in seinem Buche etwas dunkel aus, indem er schreibt: „Aristoteles sieht im menschlichen Körper nichts als die Verwirklichung der Seele, die Materialisten erklären umgekehrt alles Geistige für eine Funktion der Materie, und die moderne Erkenntnistheorie, die beide Ansichten als den Tatsachen der äußeren und inneren Erfahrung zuwiderlaufend verwirft, ahnt in Bewusstsein und Materie zwei verschiedene Erscheinungen eines und desselben X." Die „moderne Erkenntnistheorie" ist also das „Ahnen" eines unbekannten X! Etwas deutlicher hat sich Steiger in einer Polemik gegen eine Kritik seines Buches ausgesprochen, wonach er unter „moderner Erkenntnistheorie" die Psychophysik vom Schlage eines Wundt verstanden haben will. Nur leider kommen wir damit auch nicht weiter. Wundt erklärt schließlich auch „alles Geistige für eine Funktion der Materie", indem er, was wir Intelligenz und Wille nennen, als lauter Umsetzungen von Empfindungseindrücken in Bewegungen auflöst und bis zu seinen physiologischen Elementarphänomenen zurückverfolgt, also auch „Empfindungen aus dem Stoffe zaubert", was Steiger an der „Büchnerschen Kraftstoffelei" nicht hart genug verurteilen kann.

Um ein Wort zu gebrauchen, das Marx einmal auf Hegels Philosophie angewandt hat, so ist mit der Ästhetik Kants und Schillers nicht fertig zu werden, indem man ihr den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes einige ärgerliche und banale Phrasen über sie her murmelt. Soweit Steiger beweisen will, dass die Ästhetik nicht eine Lehre von verstandesmäßigen Begriffen, sondern von Empfindungen, Gefühlen und Stimmungen sei, wiederholt er nur, was Kant schon vor hundert Jahren viel eindringlicher und klarer gesagt hat. Die Schwierigkeit beginnt erst mit der Frage: Wie sind trotzdem ästhetische Urteile möglich? Wie kann es objektive Bestimmungsgründe des ästhetischen Geschmacks geben, wenn dieser Geschmack bloß subjektiv, individuell ist, wenn jeder seinen eigenen Geschmack hat? Diese Frage ist die Grundfrage aller Ästhetik, und man kann keine wissenschaftliche Ästhetik schreiben, ehe man sie beantwortet hat. Hat Kant sie falsch beantwortet, so geht man über ihn hinaus, indem man sie richtig beantwortet, aber man geht hinter ihn zurück, indem man sich anstellt, als ob diese entscheidende Frage noch niemals gestellt worden wäre.

Hätte Steiger sich begnügt, einen Panegyrikus auf Ibsen, Hauptmann und Maeterlinck anzustimmen, so wäre ich der unangenehmen Aufgabe überhoben, gegen ihn zu polemisieren. Es würde dann genügen zu sagen: Gut, das ist Steigers Geschmack, über den sich nicht streiten lässt, sintemalen jeder seinen eigenen Geschmack hat. Allein daran lässt sich Steiger nicht genügen; er will eine wissenschaftliche Ästhetik entwerfen, er will nicht einmal nur das Wesen, sondern sogar das Werden des neuen Dramas schildern, also eine historische Aufgabe lösen, die sich leider mit Ahnungen, Gefühlen und Stimmungen nicht lösen lässt. Nun ist Steiger auch ein viel zu gescheiter Mann, um das im Grunde nicht zu begreifen. Er „ahnt" zwar erschrecklich viel zusammen, so auf dreimal vier Seiten vier große Weltalter der Kunst: das plastische der griechischen Antike, das malerische der italienischen Renaissance, das musikalische Deutschlands im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert und endlich das poetisch-dramatische Zeitalter der Menschheit, an dessen Pforten die ragenden Gestalten der Ibsen, Hauptmann und Maeterlinck stehen. Überhaupt ist die Historie die schwache Seite Steigers, wie schon seine Betrachtungen über Wallenstein zeigen; was er über den historischen Materialismus sagt, hat er mitten aus dem Dickicht der bürgerlichen Vorurteile herausgehauen. Doch hat er sich mit der Kunst viel zu eingehend beschäftigt, um nicht auf die historische Bedingtheit aller Ästhetik gestoßen zu werden, und wo er sich ihrer bewusst wird, da gelingt ihm manche anregende und feinsinnige Betrachtung, wie durchaus anerkannt werden muss. Allerdings entsteht daraus auch wieder mancherlei Verwirrung, denn wo die historische Einsicht mit der epochemachenden Bedeutung des modernen Naturalismus karamboliert, da muss sie unweigerlich kapitulieren, selbst auf die Gefahr der wunderlichsten Widersprüche hin. Immerhin aber gesteht Steiger in seiner schon erwähnten Polemik, dass sich das ästhetische Gefühl historisch entwickle und beständig umgestalte; er wendet nur noch ein, all die tausend geschichtlichen Fragen, die zur Erläuterung eines Kunstwerks nötig seien, werde jeder Ästhetiker lediglich als kulturhistorische Vorarbeiten betrachten, welche die rein ästhetische Wirkung eines Kunstwerks nicht im entferntesten erklären könnten. Denn diese Wirkung sei in jedem einzelnen Falle lediglich eine Tatsache des inneren Geschehens.

Das ist nun an und für sich ganz richtig und seit Kant sogar eine selbstverständliche Sache. Nur verfällt Steiger in den Fehler der von ihm so hart angelassenen Büchner und Moleschott, wenn er die ästhetische Wirkung als eine Tatsache des inneren Geschehens aus dem historischen Zusammenhange reißen will, in den Fehler nämlich, Natur- und Gesellschaftswissenschaft durcheinander zu werfen. Die Frage, wie die Menschen empfinden können, gehört in die Naturwissenschaften, in die Physiologie der Sinnesorgane, die Frage, wie die Menschen empfunden haben und empfinden, in die Gesellschaftswissenschaften, in die Ästhetik. Wenn ein Australneger und ein zivilisierter Europäer gleichzeitig eine Beethovensche Symphonie hören oder eine Raffaelsche Madonna sehen, so wird sich der psychophysische Prozess des Empfindens, wie immer es naturwissenschaftlich um ihn bestellt sein mag, bei beiden in gleicher Weise vollziehen, weil beide als Naturwesen gleich, jedoch ihre Empfindungen selbst werden sehr verschieden sein, weil beide als Gesellschaftswesen, als historische Menschen sehr ungleich sind. Man braucht aber durchaus nicht so krasse Gegensätze zu wählen, denn auch in demselben Kulturkreise wird es niemals auch nur zwei Menschen geben, deren ästhetisches Empfinden mit der Regelmäßigkeit zweier Uhrwerke ineinander klingt. Als Gesellschaftswesen ist jeder einzelne Mensch das Produkt historischer Lebensbedingungen, die sich in unabsehbarer Weise durchkreuzen und verschlingen, die seine Empfindungen in unberechenbar mannigfaltiger Weise bestimmen, woher es denn eben kommt, dass jeder seinen eigenen Geschmack hat.

Gewiss kann auch dieser subjektive Geschmack seine Bedeutung haben, aber immer nur eine historische Bedeutung und immer nur für das empfindende Subjekt. Aus der Verschiedenheit des ästhetischen Geschmacks, den Marx und Lassalle besaßen, lassen sich Schlüsse auf die Verschiedenheit ihrer historischen Geistesart ziehen, wie ich es kürzlich an einem anderen Orte zu tun versucht habe1, aber nicht Schlüsse auf den ästhetischen Wertunterschied der Dichter, denen die Sympathien des einen oder des anderen galten. Der Freiherr vom Stein, sicherlich der bedeutendsten einer unter Goethes Zeitgenossen, hatte nach der Lesung des „Faust" keine andere Empfindung als den höchsten Unwillen über die „Unanständigkeiten" der Walpurgisnachtszene, was für Steins ästhetische Bildung sehr bezeichnend war, aber keineswegs für den ästhetischen Wert des „Faust". Schopenhauer will einmal sagen, dass er an Dantes „Göttlicher Komödie" keinen besonderen Geschmack finde, leitet aber dies subjektive Urteil verständigerweise auch ganz subjektiv ein: „Ich gestehe aufrichtig, dass der hohe Ruhm der divina commedia mir übertrieben erscheint", und wenn man nun weiter liest, was Schopenhauer daran auszusetzen hat, so besagen diese Bedenken für Schopenhauer recht viel, aber für Dante gar nichts. Selbstverständlich hängt das Maß der historischen Bedeutung, die der subjektive Geschmack haben kann, ganz von der historischen Bedeutung der Menschen ab, die ihn besitzen; so viel Interesse wir an den historischen Personen Marx, Lassalle, Stein, Schopenhauer nehmen, so viel Interesse wird auch ihr ästhetischer Geschmack für uns haben. Dagegen sinkt die historische Bedeutung des subjektiven Geschmacks bei historisch gleichgültigen Personen auf den Nullpunkt.

Wenn der Professor Erich Schmidt vor einigen Jahren in einem öffentlichen Streite über den ästhetischen Wert von Hamerlings Gedichten in pompöser Pose erklärte: Ich mag sie nun einmal nicht, so war dies Urteil objektiv und subjektiv gleich wertlos, wenigstens auf ästhetischem Gebiete. Denn auf moralischem Gebiete mag es zur Kennzeichnung professoraler Eitelkeit wohl dienen können..

Mit dem Versuche, die ästhetische Wirkung als eine Tatsache des inneren Geschehens zum objektiven Bestimmungsgrunde des Geschmacks zu machen, kommt man also immer nicht über die Grenze des subjektiven Geschmacks heraus. Jedoch ist mit dem Scheitern dieses Versuchs auch Kants Annahme zerstört, wonach die objektiven Bestimmungsgründe des Geschmacks in unserem „übersinnlichen Substrate", in der „unbestimmten Idee des Übersinnlichen in uns" wurzeln. Eine übersinnliche Idee kann keine historische Entwicklung haben, und doch ist alles ästhetische Urteil historisch bedingt. Auf diesen Widerspruch stieß schon Schopenhauer, der auf Kants Ästhetik fußte und, wo ihm seine Schrullen nicht den Weg vertraten, ein scharfer Logiker war. Er sagt einmal: „Ein echtes Kunstwerk darf eigentlich nicht, um genießbar zu sein, die Präambel einer Kunstgeschichte nötig haben." Eigentlich nicht, nämlich dann nicht, wenn Kant mit seiner Annahme über den objektiven Bestimmungsgrund des Geschmacks recht hat; uneigentlich aber doch, denn, so sagt Schopenhauer, „der jedesmalige Zeitgeist gleicht einem scharfen Ostwinde, der durch alles hindurch bläst. Daher findet man seine Spur in allem Tun, Denken, Schreiben, in Musik und Malerei, im Florieren dieser oder jener Kunst: allem und jedem drückt er seinen Stempel auf," Weiter kommt Schopenhauer allerdings nicht, denn nun bricht sein Gedankengang an seiner bekannten Schrulle ab, wonach es keine historische Entwicklung gibt, wonach in aller Geschichte stets dasselbe erscheint wie im Kaleidoskop, bei jeder Drehung, stets dieselben Dinge unter anderen Konfigurationen und so weiter. Es ist eine Art umgekehrten Widerspruchs, wie ihn Steiger begeht, wenn er die historische Entwicklung des ästhetischen Gefühls zugibt, aber die Genießbarkeit des Kunstwerks von dieser Entwicklung unabhängig machen will.

Alle diese und ähnliche Widersprüche lösen sich in die einfache Schlussfolgerung auf, dass es objektive Bestimmungsgründe des Geschmacks entweder überhaupt nicht gibt oder aber nur auf historischem Gebiete geben kann. Das Problem einer wissenschaftlichen Ästhetik besteht dann in der Frage, ob eine wissenschaftliche Geschichte des ästhetischen Gefühls, wie es sich in der menschlichen Gesellschaft entwickelt und gewandelt hat, geschrieben werden kann, ob sich in dem unabsehbaren und unendlichen Durcheinander des subjektiven Geschmacks nicht objektive Bestimmungsgründe eines solchen Gefühls durchsetzen2. Wer auf dem Boden des historischen Materialismus steht, wird die Frage bejahen und eben die historisch-materialistische Methode als den einzigen Schlüssel zur Lösung des Rätsels ansehen.

Was Steiger dagegen einwendet, besteht, wie gesagt, aus den landläufigsten Redewendungen des bürgerlichen Vorurteils, über die sich an dieser Stelle nicht wohl sprechen lässt, ohne die Leser zu langweilen. Jedoch macht sich heute, von Steiger ganz abgesehen, eine „ästhetische Salbaderei" und eine „plumpe Ästhetisiererei" dermaßen breit, dass es ratsam sein mag, wenigstens einige Gesichtspunkte einer historisch-materialistischen Ästhetik aufzuklären.

1 Siehe dazu Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Erster Teil, S. 574 und 575. Mehring schreibt dort unter anderem: „Sozusagen plastisch erscheint der Unterschied, wenn man die literarischen Lieblinge der beiden Männer gegenüberstellt. Für Marx waren es Homer, Dante, Shakespeare, Cervantes, von den neueren Balzac; für Lassalle Hutten, Lessing, Fichte, von den neueren Platen. Es sind zwei grundverschiedene Reihen literarischer Typen. Dort Köpfe, die das Bild eines ganzen Zeitalters so objektiv in sich aufgenommen haben, dass jeder subjektive Rest mehr oder minder, ja teilweise so vollständig aufgegangen ist, dass die Schöpfer hinter ihren Schöpfungen in mythischem Dunkel verschwinden. Hier Köpfe, die, wie einer von ihnen singt, nur ,ein Bild des Bilds der Welt' widerstrahlen, Männer, in deren Werken wir nicht sowohl erkennen, wie ihre Welt ausgesehen hat, als wie sie selbst sich ihrer Welt bemächtigt oder zu bemächtigen versucht haben."

2 Es ist eine der grundlegenden Schwächen der gesamten ästhetischen Theorie Mehrings, dass er die wissenschaftliche Ästhetik auf eine Geschichte des ästhetischen Gefühls zu reduzieren suchte. Sie hängt untrennbar mit seinem Unverständnis für den dialektischen Materialismus als weltanschaulicher Grundlage des Marxismus und der daraus resultierenden einseitigen Hinwendung zur historisch-materialistischen Methode zusammen.

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