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Fichte und Niebuhr stritten einmal darüber, ob der reichste Dichtergeist in den Tagen des griechischen Alexander ein vollkommenes Kunstwerk habe schaffen können. Der Philosoph Fichte bejahte die Frage, während der Historiker Niebuhr sie verneinte. In ihrer allgemeinen Fassung lief sie darauf hinaus, ob die Kunst einer bestimmten Zeit von den sonstigen Lebensbedingungen dieser Zeit abhängig sei oder nicht. In solcher Allgemeinheit wird heute schwerlich noch jemand die Frage aufwerfen wollen; daran besteht kein Zweifel mehr, dass die historische Entwicklung der Kunst und des Kunstgeschmacks in der innigsten und unlösbarsten Wechselwirkung steht mit der historischen Entwicklung aller anderen menschlichen Vermögen.

Sosehr aber das Ob? aufgehört hat, eine Frage zu sein, so bestritten ist noch das Wie? Zwar hat schon Winckelmann die altgriechische Kunst aus den natürlichen, namentlich klimatischen Verhältnissen des Landes abzuleiten gesucht, worin sie erblühte, und ähnlich sagt Herder, das Klima, die Lebensweise, die Betriebsamkeit der Griechen habe ihnen mancherlei Künste notwendig gemacht. Liegt doch auch bei der Kunst eine solche Erklärungsweise ungleich näher als etwa bei der Religion oder der Philosophie; wie eng verwachsen namentlich alle bildende Kunst mit der technischen Entwicklung ist, die unmittelbar die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens bestimmt, bedarf keines ausführlichen Nachweises. Immer aber bleibt die ideologische Geschichtsauffassung dabei, dass in der Kunst, wie Steiger sich einmal ausdrückt, die geistigen Einflüsse vergangener Kulturen viel mächtiger seien als alle materiellen Interessen. Abgesehen von der saloppen Ausdrucksweise, ist dieser Satz gerade in umgekehrter Fassung richtig: unbeschadet der geistigen Einflüsse vergangener Kulturen, die vom historischen Materialismus keineswegs geleugnet werden, bedingt die Produktionsweise des materiellen Lebens den künstlerischen Lebensprozess.

Gibt es eine Periode der Kunst, auf die Steigers Behauptung mit wahrhaft verblüffender Sicherheit zuzutreffen scheint, so ist es unsere klassische Literatur. Sie wandte sich, wie wir aus Schillers ästhetischen Abhandlungen gesehen haben, von den ökonomischen und politischen Klassenkämpfen ihrer Zeit weg, um sich ins Reich des ästhetischen Scheins zu retten, und es wäre auch eine sehr irrtümliche Annahme, wenn man etwa sagen wollte, sie habe doch aus dem gebildeten Bürgertum ihre Kraft gesogen. Die Masse dieses Bürgertums stand unseren Klassikern viel mehr mit hämischer Missgunst oder im besten Falle mit stumpfer Teilnahmslosigkeit gegenüber. Schillers „Horen", an denen Goethe, Herder, Fichte, die beiden Humboldts mitarbeiteten, gingen aus Mangel an Lesern schon im dritten Jahrgang ein, während ein damals gelesenes Organ für die „gebildeten" Philister in seinem fünfundfünfzigsten Bande über Schillers Arbeiten für die „Horen" urteilen durfte: „Sein Stil ist nichts anderes als eine ununterbrochene widerliche Mischung von gelehrt aussehenden, abstrakten und schöngeisterischen Phrasen, eine lange Reihe von rhetorischen Künsteleien und ermüdenden Antithesen." Schillers philosophische Gedichte, die das höchste Entzücken Goethes, W. v. Humboldts und A. W. Schlegels erregten, wurden sonst mit einer eisigen Gleichgültigkeit aufgenommen, die heute noch jedem naturalistischen Ästhetiker das Herz höher schlagen lassen muss; will man in aller Kürze überblicken, mit welchem barbarischen Banausentum Goethe und Schiller innerhalb der bürgerlichen Klasse zu kämpfen hatten, so lese man ihre „Xenien". Wollten unsere Klassiker den künstlerischen Faden fortspinnen, so mussten sie allerdings an „vergangene Kulturen" anknüpfen, und jede landläufige Literaturgeschichte nennt ja auch Homer und Shakespeare als die Sterne, die ihnen in erster Reihe geleuchtet haben.

Weshalb aber gerade diese Sterne? Mit der Antwort: weil die Goethe und Schiller in Homer und Shakespeare die größten Dichter der Weltliteratur gesehen haben, sind wir wieder in die Grenzen des subjektiven Geschmacks zurückgeworfen. Wohl aber wird man auf einen objektiven Bestimmungsgrund ihres Geschmacks gestoßen, sobald man sich vergegenwärtigt, welche Fesseln unsere Klassiker brechen mussten, um eine selbständige deutsche Kunst zu begründen. Sie mussten mit dem Kunstgeschmack nicht sowohl der französischen Nation als des französischen Hofes aufräumen, der von der Mitte des siebzehnten bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, eifrig gepflegt von den deutschen Duodezdespoten, auf künstlerischem Gebiete die nationale Erniedrigung verkörperte. Ich sage: nicht sowohl der französischen Nation als des französischen Hofes, mag auch Lessing einmal, als er einen französischen Poeten zerzauste, von dem „armseligen Geschmack seiner Nation" sprechen. Man muss hier eben, im Gegensatz zu der ideologischen Literargeschichte, genau unterscheiden. Der bürgerlich-revolutionären Literatur der Franzosen gaben sich unsere Klassiker gerne hin. Rousseau hat auf Kant und Schiller, Diderot auf Lessing den stärksten Einfluss gehabt, Winckelmann las fast täglich seinen Bayle und seinen Montesquieu, Wieland sprach französisch so gut wie deutsch, Goethe und auch Lessing haben gelegentlich daran gedacht, selbst als französische Schriftsteller aufzutreten: auf die klare und plastische Entwicklung der deutschen Prosa hat das französische Muster überaus fördernd gewirkt. Wogegen unsere Klassiker rebellierten, das war die französische Kunstpoesie, die seit Ludwig XIV. ganz unter höfischem Einfluss stand, selbst noch bei Voltaire, wenn auch bei ihm schon weniger als bei Racine. Schiller hat dies Verhältnis klar und knapp in den Versen beleuchtet:


Denn dort, wo Sklaven knien, Despoten walten,

Wo sich die eitle Aftergröße bläht,

Da kann die Kunst das Edle nicht gestalten,

Von keinem Ludwig wird es ausgesät.


Und dann die Kehrseite:


Selbst in der Künste Heiligtum zu steigen,

Hat sich der deutsche Genius erkühnt,

Und auf der Spur des Griechen und des Briten

Ist er dem bessern Ruhme nachgeschritten.


Im Kampfe gegen die französische Hofdichtung kamen unsere Klassiker auf die Spur des Griechen und des Briten. Seit Dante, der außer dem Vergil nur noch einige untergeordnete Lateiner kannte, und seit Petrarca, der eine ganze Bibliothek lateinischer Klassiker herausgab, aber die griechische Literatur geringschätzte, auch als er in seinem Alter noch griechisch lernte, stand den romanischen Nationen die römische Bildung viel höher als die griechische, Vergil viel höher als Homer. Sie empfanden sich als Töchter der alten weltbeherrschenden Roma, deren Überlieferungen in Italien selbst auch niemals völlig abgerissen wurden, in demselben Italien, das am Ausgange des Mittelalters das erste Vorland der kapitalistischen Produktionsweise wurde. Nicht in dem Zeitalter des Perikles, sondern in dem Zeitalter des Augustus sah das Zeitalter Ludwigs XIV. sein Vorbild.

Der höfischen und verzärtelten Kultur dieses Zeitalters setzten unsere Klassiker die einfache und unverdorbene Natur entgegen, deren tiefe Atemzüge sie nicht im römischen Altertum hörten, sondern im griechischen, nicht im Vergil, sondern im Homer. „Die Natur allein ist unendlich reich und sie allein bildet den großen Künstler … Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuert sein; braust dieses Herz doch genug aus sich selbst! Ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer", sagt Goethe-Werther. Nicht für Goethe allein, sondern auch für Winckelmann, Herder, Lessing gilt Schillers Wort: Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns. Aber wie sie ihnen gelächelt hat, das lässt sich freilich nirgends so kurz und schlagend nachweisen wie an Goethe.

Die dichterischen Werke, die Goethe in homerischem Geiste geschaffen hat, die „Leiden des jungen Werther" und „Hermann und Dorothea", gehören zu den strahlendsten Perlen in der Krone seines Ruhms, aber sie wurzeln auch ganz und gar, mit jeder Faser und jedem Fäserchen, in dem Boden seiner Zeit; wie unmöglich ein Werther im griechischen Altertum gewesen wäre, hat bekanntlich schon Lessing nach dem ersten Erscheinen des Romans ausgesprochen. Dagegen als Goethe sich einmal einfallen ließ, zu dichten wie Homer, als er die „Ilias" fortsetzen wollte in Versen, deren jeder sollte von Homer gedichtet sein können, da brachte er einige hundert Hexameter fertig, von denen ein kundiger Zeitgenosse urteilte, dass ihrer fast keiner hätte von Homer gedichtet werden können, ein seitdem oft wiederholtes und so gut wie niemals angefochtenes Urteil. So unglaublich wahr ist es, dass in der Kunst die geistigen Einflüsse vergangener Kulturen viel mächtiger sein sollen als die materiellen Bedingungen! Selbst einen Genius wie Goethe fördern diese Einflüsse, sobald er aus dem vollen wirtschaftet und aus seinem sozialen Milieu heraus schafft, aber selbst ein Genius wie Goethe bringt es nicht über ein misslungenes Schulexerzitium hinaus, sobald er sich von seinem sozialen Milieu losreißen will, um sich ganz den geistigen Einflüssen vergangener Kulturen anzuvertrauen. Und dies ist überhaupt das allgemeine Verhältnis, wie in der Kunst, so in der Religion, Philosophie und allen geistigen Disziplinen: die ideologischen Überlieferungen wirken auch, was, um es noch einmal zu wiederholen, der historische Materialismus nie bestritten hat, aber sie wirken nur, wie Sonne und Regen und Wind auf einen Baum, dessen Wurzeln in der groben Erde der materiellen Bedingungen, der ökonomischen Produktionsweise der sozialen Zustände haften.

Komplizierter als bei Homer, aber dafür auch nach den verschiedensten Seiten hin lehrreicher, liegen die Dinge bei Shakespeare, dem anderen Leitsterne unserer klassischen Poesie. Von keinem anderen Dichter ist so nachdrücklich und so oft behauptet worden, dass er aller historischen Bedingtheit, aller räumlichen und zeitlichen Beschränkung entrückt sei; deutsche Ästhetiker liebten einst zu sagen, Shakespeare sei der Riesengeist, der an der Grenze des Mittelalters und der neuen Zeit, seine Nation und Epoche gleichsam nur mit den Sohlen berührend, über Jahrhunderte und Völker hin seine Wege gehe. Auch Goethe lässt seinen Wilhelm Meister von Shakespeares Dramen sagen, man glaube vor den aufgeschlagenen ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens sause und sie mit Gewalt rasch hin und wieder blättere. In späteren Jahren schrieb Goethe freilich mit einem glücklicheren und treffenderen Bilde: „Shakespeares Dichtungen sind ein großer, belebter Jahrmarkt, und diesen Reichtum hat er seinem Vaterlande zu danken. Überall ist England, das meerumflossene, von Nebeln und Wolken umzogene, nach allen Weltgegenden tätige." In diesem England aber war Shakespeare als Aktionär, Direktor, Schauspieler, Dichter eng mit dem Theater verwachsen, das die revolutionär aufstrebende Bürgerklasse hasste und verfolgte; sein England ist das mächtig zur Weltherrschaft emporstrebende, aber zugleich noch das alte, lustige romantische England; in seinen englischen Historiendramen folgen sich die feudal mittelalterlichen Raufereien in kaum noch zu unterscheidender Fülle, aber von einer Magna Charta, von einer durch Gewerbe und Handel aufblühenden Mittelklasse verlautet nichts; was der bürgerlich-modernen Bildung an der englischen Geschichte von König Johann bis zu Heinrich VIII. lehrreich ist, das übergeht Shakespeare mit völligem Schweigen.

Die englische Bühne zehrte zu Shakespeares Zeit von der Gunst des Hofes und des Adels, wenngleich sie keine höfische und aristokratische Bühne, kein offiziell anerkanntes Glied des nationalen Lebens war. Sie schöpfte ihre Kraft aus dem Leben der ersten und damals einzigen Weltstadt, aus einem Leben, das schon in alle Fernen strebte und doch noch voll ungebrochener feudal-romantischer Kraft war. Sie stand in tödlicher Feindschaft mit der bürgerlichen Klasse, die ihren Befreiungskampf unter religiösem Banner schlug und das Theater als eine Stätte sündiger Lustbarkeit verfluchte. So nur erklärt es sich, aber so freilich erklärt es sich auch erschöpfend, dass ein Dichter wie Shakespeare in seinem Vaterlande gänzlich vergessen werden konnte, dass sich über ein Jahrhundert nach seinem Tode das bürgerliche Drama völlig unabhängig von ihm entwickelte, in Dichtern wie Lillo und Moore, die künstlerisch ebenso tief unter ihm standen, wie sie ihn an Verständnis des bürgerlichen Geistes übertrafen, dass in Frankreich Diderot, in Deutschland Lessing als bürgerliche Dramatiker nicht an Shakespeare anknüpften, sondern eben an Lillo und Moore.

Auf dem Kontinente wurde Shakespeare erst durch Voltaire bekannt, der, im französisch-höfischen Kunstgeschmack aufgewachsen, die „barbarischen Unregelmäßigkeiten" des englischen Dramatikers tadelte, aber ihn sonst, wenigstens in seinen jüngeren Jahren, keineswegs mit so wegwerfender Unvernunft beurteilte, wie unsere bürgerlichen Literarhistoriker zu behaupten pflegen. Ganz ohne Mitschuld an diesen Übertreibungen ist auch Lessing nicht, der überhaupt erst durch Voltaire auf Shakespeare aufmerksam geworden war, aber dann den wirksamsten Anstoß gegeben hat, Voltaire durch Shakespeare zu übertrumpfen. Es ist dabei nicht ohne ein gewisses Maß von Ungerechtigkeit abgegangen; Lessing selbst, wie auch Goethe und Schiller, haben manches Mal nicht ohne ein stilles Grauen auf die deutsche Shakespearomanie geblickt. Doch ist die hundertjährige Geschichte des deutschen Shakespeare-Kultus für die Frage nach den objektiven Bestimmungsgründen des Geschmacks so interessant, dass sie im Zusammenhange betrachtet zu werden verdient.

Die erste Periode dieses Kultus dauerte durch das letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts. Sie fasste Shakespeare rein ästhetisch auf, als ein großes Muster, das dem französischen Kunstgeschmack zur Beschämung vorgehalten wurde. Die entscheidenden Gesichtspunkte hob Lessing schon in den Literaturbriefen hervor, die in Deutschland zuerst nachdrücklich auf Shakespeare hinwiesen. Um das Artige, das Zärtliche, das Verliebte des französischen Dramas zu bekämpfen, betonte Lessing an Shakespeare das Große, das Schreckliche, das Melancholische. Er sah sehr wohl, dass Shakespeare mit seinen geliebten Griechen nichts zu tun hat, aber er spürte sicher heraus, dass die Bühne Shakespeares noch mit einem Fuße im germanischen Mittelalter steckte; unsere alten dramatischen Stücke schlagen mehr in den Geschmack der Engländer als der Franzosen, sagte Lessing; er berief sich auf den Doktor Faust zum Beweise dafür, dass „unsere alten Stücke wirklich sehr viel Englisches gehabt" haben. Aus derselben Empfindung heraus dramatisierte Goethe die Geschichte Götzens von Berlichingen nach dem Muster Shakespeares, wobei jedoch zu bemerken ist, dass „Götz" nicht anders unter dem Sterne Shakespeares steht als „Werther" unter dem Sterne Homers. Schon dass der „Götz" durchaus keine Rücksicht auf die szenische Darstellung nimmt, unterscheidet ihn gründlich von den Dramen Shakespeares, der in erster Reihe Theaterdichter war. Nun gar die unzähligen Nachahmer des „Götz" sahen dem englischen Dramatiker nur seine „Regellosigkeit" ab; es waren Kants „seichte Köpfe", die sich als Genies aufblähen wollten, weil sie auf einem kollerichten Pferde paradierten. Nicht minder entschieden haben Lessing und Schiller vor der einseitigen Nachahmung Shakespeares gewarnt; wie wenig erinnert „Emilia Galotti" an Shakespeare, obgleich sie zur selben Zeit entstand, wo Lessing in der „Hamburgischen Dramaturgie" das Lob Shakespeares mit noch viel volleren Tönen verkündete als zehn Jahre früher in den Literaturbriefen!

Einen ganz anderen Charakter nahm der deutsche Shakespeare-Kultus in dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts an. Die romantische Schule wurzelte in dem feudalen Rückstoß des östlichen Europas auf den bürgerlichen Vorstoß des westlichen Europas, worin die klassische Schule gewurzelt hatte. Sie strebte ins Mittelalter zurück und bekämpfte am heftigsten die bürgerlichsten unserer Klassiker, Lessing und Schiller. Aber auch Goethe war ihr viel zu sehr Grieche und Heide, als dass sie ihn nicht mehr mit dem Munde als mit dem Herzen gepriesen hätte. Arm an schöpferischen Kräften, brauchte sie große Muster, und dabei stand sie der modernen Bildung doch auch zu nahe, um nicht einzusehen, dass mit allen Lobpreisungen der aus feudal-katholisch-mittelalterlichem Geiste entsprungenen Kunst nicht mehr viel auszurichten war. So wurde sie auch auf Shakespeare geführt, nur freilich von einer anderen Seite her als die Klassiker. Was diese an Shakespeare doch mehr oder minder abgelehnt hatten: das Phantastische, Romantische, Regellose, die „mondbeglänzte Zaubernacht" des Mittelalters, gerade das hob die Romantik mit besonderem Nachdruck als das eigentliche Geniale an Shakespeare hervor. Dabei ermöglichte ihr die feindliche Stellung Shakespeares zu dem revolutionären Bürgertum, viel mehr für sein historisches Verständnis zu tun, als die Klassiker dafür getan hatten, ihn vortrefflich zu übersetzen, die englischen Bühnenzustände zu Shakespeares Zeit genau zu studieren. Der alternde Goethe, der allein von den Klassikern die Blüte des romantischen Shakespeare-Kultus noch erlebte, seufzte: Shakespeare und kein Ende! und verschanzte sich wunderlich genug hinter ästhetischen Spinnweben. Er meinte, Shakespeare sei gar kein Dramatiker gewesen, seine Stücke seien „höchst interessante Märchen, nur von wenigen Personen erzählt"; in wenigen Jahren würde Shakespeare ganz von der deutschen Bühne verdrängt sein, was denn auch kein Unglück wäre; der einsame oder gesellige Leser werde an ihm desto reinere Freude empfinden.

Endlich die dritte Periode des deutschen Shakespeare-Kultus fiel in das zweite Drittel unseres Jahrhunderts. In ihr flossen zwei Ströme ungleichen Ursprungs zu dem gleichen Ziele. Unter dem Eindruck der Julirevolution verzweifelten die klügeren Köpfe des literarisch gebildeten Bürgertums an Goethes und Schillers ästhetischen Idealen, an der Gangbarkeit des Weges, der von der Schönheit zur Freiheit führen sollte, aber da die Möglichkeit eines praktischen politischen Kampfes einstweilen noch nicht gegeben war, so trösteten sie sich an Shakespeare als dem Dichter der großen historischen und politischen Aktionen. Diese Auffassung, zeitweise durch die Revolution von 1848 unterbrochen, wurde im Katzenjammer der Gegenrevolution von Gervinus in dem bezeichnenden Satze zusammengefasst, dass Shakespeare die Vorzüge Goethes und Schillers besitze, aber frei von ihren Fehlern sei. Daneben verlor sich die Hegelsche Ästhetik in eine überschwängliche Bewunderung Shakespeares. Ihr war die Kunst ein Symbol der „absoluten Idee", die höchste Form der Kunst demgemäß die historische Tragödie, die aus dem Untergang der Individuen die Idee siegreich emporsteigen lässt. Damit lag die Berufung auf Shakespeare um so näher, als in seine Dramen viel leichter als in die uns so viel näherstehenden Dramen Goethes und Schillers eine „Idee" hineingeheimnisst werden konnte, von welcher Möglichkeit der unglaublichste Gebrauch oder Missbrauch gemacht worden ist. Jedenfalls aber landete Vischer, der bedeutendste Ästhetiker der Hegelschen Schule, bei einem ähnlichen Ergebnis wie Gervinus: Goethe habe sich nur in den niedrigeren Stoffen bewegt, die auf dem Boden des Privatlebens ständen, aber diese mit vollendeter Kunst und Wahrheit behandelt, Schiller habe die höheren, die politisch-historischen Stoffe ergriffen, aber sie ungenügend und allzu subjektiv behandelt, dagegen behandle Shakespeare die historischen Stoffe mit der gleichen Meisterschaft wie Goethe die niedrigeren.

Ihren Gipfel erreichte diese dritte Periode des deutschen Shakespeare-Kultus, als im Jahre 1864 der dreihundertste Geburtstag des Dichters gefeiert wurde. „Bei aller Einhelligkeit in überschwänglicher Verherrlichung, wie unvereinbar waren die Prädikate, die dem Dichter beigelegt wurden, wie seltsam und krausbärtig die Schlüssel, die man zum Verständnis seiner Werke bot! Es schien das Wunder des ersten Pfingstfestes, die Gabe in Zungen zu reden, wiedergekehrt. Es war eine Lobpreisung, aber jeder verstand den Dichter nur in der Sprache, in der er geboren war. Man konnte Parthisch und Medisch, Elamitisch und Kappadokisch hören und lernen." So Rümelin, der sich mit dem gesunden Menschenverstände des „einfachen Laien, Lesers und Liebhabers" durch diesen ästhetischen Sprachenwirrwarr half, indem er die Dichtungen Shakespeares aus dem Leben, dem Volke, der Zeit des Dichters zu erklären versuchte. Freilich würden Rümelins Shakespeare-Studien trotz ihrer Vorzüge nicht gewirkt haben, wie sie trotz ihrer Lücken und Schwächen wirkten, wenn sie nicht zur rechten Zeit erschienen wären, nämlich in einem Augenblicke, wo die ökonomischen und politischen Klassenkämpfe sich so mächtig in Deutschland entfalteten, dass nirgends mehr ein Bedürfnis nach einem ästhetischen Schutzheiligen vorhanden war.

Es sind nur einige wenige Tatsachen, an denen hier erläutert werden konnte, wie die Entwicklung des ästhetischen Geschmacks in Deutschland seit mehr als hundert Jahren ihre objektiven Bestimmungsgründe gehabt hat in der gesamten nationalen Entwicklung, das heißt in letzter Instanz in den Umwälzungen der ökonomischen Produktionsweise. Immerhin werden sie genügen, um zu zeigen, wie weit die historisch-materialistische Auffassung davon entfernt ist, alles über einen groben materiellen Leisten zu schlagen. In der Tat haben die Gracchen niemals dreister über Aufruhr geklagt, als wenn die ideologischen Historiker dem historischen Materialismus vorwerfen, was ihr eigenster und unheilbarster Fehler ist: nämlich eine rein mechanische Schablonisierungs- und Schematisierungssucht. Die Sinnlosigkeit dieses Vorwurfs wird sich aber noch weiter zeigen, wenn wir nunmehr die wichtigsten Sätze der klassischen Ästhetik auf ihre Haltbarkeit prüfen, nachdem wir gesehen haben, dass Kant die Quelle der ästhetischen Urteilskraft am unrechten Orte gesucht hat.

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