IX

IX [Friedrich Nietzsche]

Neben dem „sozialen" oder „werktätigen Mitleid", das die modernen Naturalisten beseelen soll, nennt Steiger als ihr belebendes Prinzip das Verlangen, sich als „selbstherrliche Persönlichkeiten" nach dem Muster des „Geistesriesen" Nietzsche auszuleben. Steiger will die „zwei großen geistigen Strömungen scharf auseinanderhalten", und das ist sehr logisch, denn niemand hat sich über das „werktätige Mitleid" mit grausamerem Spott ausgelassen als der „Geistesriese" und „unbarmherzige Seher kommender Jahrtausende". Jedoch wenn Steiger sagt, dass die beiden Strömungen „oft ineinander überfließen", so muss man mit Betrübnis feststellen, dass die „selbstherrlichen Persönlichkeiten" des Naturalismus „oft" hervorragende Konfusionsräte sind.

Über Nietzsche handeln Duboc und Tönnies in den beiden Schriften, die noch zu besprechen sind. Duboc ist wohl der letzte Jünger Feuerbachs, der in Deutschland lebt: ein geistreicher und scharfsinniger Schriftsteller, ist er als solcher in einer langjährigen Wirksamkeit doch nie ganz zu seinem Rechte gekommen, da er der Bourgeoisie nie geschmeichelt und sich dem Proletariat, bei aller wohlwollenden Gesinnung, immer ferngehalten hat. - Unter dem Titel „Jenseits vom Wirklichen" vereinigt er vier größere Aufsätze, deren erster sich in loyaler und würdiger, aber nicht eben tiefgreifender Weise gegen Bebels Buch über die Frau kehrt, während der vierte mit „Nietzsches Übermenschlichkeit" abrechnet. Duboc vollzieht diese Abrechnung vom Feuerbachischen Standpunkte, von der „anthropologischen Basis" aus, wogegen sich im einzelnen manches einwenden ließe, vortrefflich jedoch und bei aller Knappheit erschöpfend ist die historische Skizze, die Duboc von den drei Philosophen der deutschen Bourgeoisie und dem inneren Zusammenhange ihrer sogenannten „Systeme" gibt. ,

Schopenhauers Pessimismus, dürftig begründet wie er war und hartnäckig verschmäht von der Bourgeoisie, solange sie noch einige Courage im Leibe hatte, schlug in ihre katzenjämmerliche Stimmung ein, als sie in den fünfziger Jahren von der bürokratisch-feudalen Gegenrevolution gemisshandelt wurde. Da sie keinen politischen Willen mehr hatte, so ließ sie sich gern das lockende Bild der Verklärung und „Meeresstille des Gemüts" vorgaukeln, die dann eintreten sollten, wenn das Wesen des Willens gebrochen sei. In der Praxis hatte das Ding allerdings seinen Haken. Erstens nämlich besaß die Bourgeoisie noch einen ökonomischen Willen, auf den sie keineswegs zu verzichten gedachte, wie denn auch Schopenhauer selbst trotz aller politischen Duckmäuserei in diesem Punkte sehr kitzlig war, und sobald er seine Rente gefährdet glaubte, von „Meeresstille des Gemüts" und sonstiger Verklärung wirklich auch gar nichts verriet. Zweitens aber bekam die Bourgeoisie, je mehr ihr ökonomischer Wille erstarkte, auch wieder einen politischen Willen, mochte er zunächst immerhin sehr zahm ausfallen, so dass sie sich eigentlich gegen diesen Willen durch die Ereignisse von 1866 wieder in den Vordergrund der politischen Bühne geworfen sah.

Unbewusst aus der Schopenhauerei herausgeschleudert und verdutzt um sich schauend, fand sie einen barmherzigen Gönner an einem preußischen Leutnant. Ed. v. Hartmann kleisterte ihr die „Philosophie des Unbewussten" zurecht, den „Juchhe-Pessimismus", der zwar auch noch über den „wahnwitzigen Karneval der Existenz" klagte, aber tröstend hinzufügte, dass es dem Pessimisten durchaus unverwehrt sei, die guten Dinge dieser Welt mitzunehmen, wenn er es nur mit „stiller Hoheit der Resignation" und „erhabener Trauer" täte, in dem ihn ganz erfüllenden Gedanken, dadurch „den Entwicklungsprozess der Menschheit zu fördern und seinem Ziele näher zu führen". Das half wieder eine Weile, aber es kamen immer fettere Tage für die Bourgeoisie; sie wurde immer frecher und üppiger, ihre Ausbeutungs- und Unterdrückungsmethoden wuchsen sich so riesenmäßig aus wie ihre kapitalistischen Produktionswerkzeuge; eine schamlose Genusssucht griff um sich und zerstampfte alle spießbürgerliche Moral. Den Protzen des großen Kapitalismus kam die „stille Hoheit der Resignation" und die „erhabene Trauer" doch selbst allzu komisch vor; sie sahen sich nach neuen Rechtstiteln ihres sozialen Daseins um, und zwar um so dringender, je ungestümer das ausgebeutete und unterdrückte Proletariat darnach zu fragen begann, und nun erschien ihnen Nietzsche als der rettende Philosoph.

Er schob ungeduldig den „Amalgamisten" Hartmann beiseite und knüpfte wieder an Schopenhauer an, aber in Negation der Negation. Schopenhauer hatte den Willen „das durchweg Schlechte und Gemeine in uns" genannt; „man sollte ihn verbergen wie die Genitalien, obgleich beide die Wurzel unseres Lebens sind". Schön, sagte jetzt der Wille durch Nietzsche, wenn ich gemein und schlecht bin, d. h. was ihr so nennt, sei es darum, aber ich will es offenkundig sein und mich dessen nicht schämen. Schopenhauer hatte das Leben ein Verbrechen genannt, denn es stehe ja Todesstrafe darauf – gut, sagte der Wille durch Nietzsche, Verbrechen meinetwegen, aber nicht das Leben ist ein Verbrechen; das Verbrechen, d. h. was ihr Philisterseelen so nennt, ist das wahre Leben – und eben weil es das Leben ist, so ist es kein Verbrechen. Das Leben zu verneinen gilt für Nietzsche als die „größte psychologische Falschmünzerei, die es, das Christentum abgerechnet, in der Geschichte" gebe.

Das Leben aber ist nach Nietzsche „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung". Nicht die „starken Menschen" mit dem Verbrechertypus, denen nur „die Wildnis fehlt, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur- und Daseinsform, in der alles, was Wehr und Waffe im Instinkte des starken Menschen ist, zu Rechte besteht", nicht sie, ihr seid das Gesindel, weil ihr mit eurer „Morallüge", die „auf dem ganz morbiden Boden der Gesellschaft zu tropischer Begriffsvegetation empor gewuchert" ist, Entartete und Verfallene seid. Dies ist der sehr einfache Kern der von Nietzsche keineswegs mit Gründen gestützten, aber in unzähligen Variationen wiederholten Lehre von dem „Übermenschentum", von der „Kanaillenaristokratie", wie Duboc das geflügelte Wort zwar ins Fremdländische, aber ins Deutliche und Treffende übersetzt.

Von einem „philosophischen System" dabei zu sprechen ist der bare Unsinn. Wohl aber ist es von großem Interesse, zu erforschen, wie Nietzsche persönlich zu solchen Ansichten gekommen ist. Nichts törichter, als eine dumme oder schlechte Sache deshalb in beschönigendem Lichte darzustellen, weil ihr Urheber aus vielleicht sehr triftigen Gründen trotz alledem Achtung und Schonung verdient. Aber auch nichts gerechter, als, nach rücksichtsloser Klarstellung der Sache, der Person ihr Recht zu wahren. Es fügt sich deshalb glücklich, dass die subjektive Seite des Falles Nietzsche, dessen objektive Seite klipp und klar und ohne alles sentimentale Brimborium skizziert zu haben das Verdienst Dubocs ist, von einem anderen philosophischen Schriftsteller behandelt wird, von Tönnies, dessen kleine Schrift über den „Nietzsche-Kultus" nicht minder lesenswert ist als der Aufsatz Dubocs. Tönnies hat in jüngeren Jahren selbst zu den Anhängern Nietzsches gehört, vor dessen Lehren er nunmehr die Jugend warnt: ohne Groll und Hass gegen die Person Nietzsches, aber mit feinem und sicherem Verständnis in seine Werke eindringend. Er trifft das Problem Nietzsche in seinem Kerne, wenn er darin das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in seiner allgemeinen Beschaffenheit und Wirkung findet. „Dies Problem bleibt das Thema von Nietzsches höchst mannigfaltigem Philosophieren, das selber zwischen Kunst und Wissenschaft schwankt, indem es ihm nicht gelingt, seine Fähigkeiten für beide so auszubilden, dass sie sich vereinigen, dass ihm die Wissenschaft zur Kunst wird, ohne an ihrem Charakter als Wissenschaft einzubüßen – wodurch die Höhepunkte der Philosophie bezeichnet werden, die Nietzsche nicht erreicht hat." In der Tat lassen sich die drei Perioden, in die Nietzsches geistiges Schaffen zerfällt, so bezeichnen, dass in der ersten der Künstler, in der zweiten der Mann der Wissenschaft zur Klarheit über sich und die Welt ringt, worauf dann nach dem Scheitern beider Anläufe in der dritten Periode der an sich und der Welt verzweifelnde, der, wie Tönnies sagt, „atemlose, stürmende, rasende, heulende und ganz besinnungslose Zarathustra" in die Erscheinung tritt.

In der ersten Periode ist Nietzsche der Jünger Schopenhauers und Richard Wagners. Eine Natur von träumerisch-schwärmerischen Anlagen, von großer Leidenschaft und Begabung für Musik, mit wachsenden Fertigkeiten für Versifikationen und Tonsetzungen, ohne dass es doch zum Dichter oder Komponisten gelangt hätte, seiner Erziehung und seinem Berufe nach ein gelehrter Philologe, legte Nietzsche in seiner Schrift über „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" die gärenden Gedanken seiner Jugend nieder. Es handelt sich hier schon um den Gegensatz der tragischen und der theoretischen Weltbetrachtung. Die Musik ist die Mutter der griechischen Tragödie, die das geheimnisvolle Wehe des Willens, das Leiden des Lebens offenbart, die eine ewige Klage ist, aber zugleich die Erlösung durch den Schein, durch Gestaltung und Dichtung. Diesem höchsten Kunstwerk tritt der „theoretische Mensch" entgegen, verkörpert in Sokrates, dem Wissenden, dem Nichtmystiker, dem Feinde des Instinkts und darum des künstlerischen Schaffens, dem Logiker und Optimisten. Er bringt den Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens ans Licht, das heißt den Geist der Wissenschaft, unter dessen Zeichen die spätere hellenische, die alexandrinische und die ganze moderne Kultur lebt. Aber die tragische Weltbetrachtung ist nicht für immer überwunden; der Mythus und die Tragödie werden wiedergeboren aus dem Geiste der Musik; die Hoffnungen, die auf Erkenntnis gesetzt werden, schlagen in Resignation um. In der deutschen Musik erneuert sich der echte dionysische Tiefsinn der griechischen Antike, und aus gleichen Quellen strömt die deutsche Philosophie, der es in Kant und Schopenhauer gegeben war, die zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik durch den Nachweis ihrer Grenzen zu vernichten. Im dritten und vierten Stücke der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" feiert Nietzsche dann noch „Schopenhauer als Erzieher" und „Richard Wagner in Bayreuth", ganz im Banne eines Heroenkultus, der das Ziel der Menschheit in ihren höchsten Exemplaren sieht.

Von diesen Jugendschriften Nietzsches gibt Tönnies eine vortreffliche Analyse, dagegen übergeht er, meines Erachtens mit Unrecht, das erste und zweite Stück der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", die für das psychologische Verständnis Nietzsches ebenso wichtig oder selbst noch wichtiger sind, namentlich wenn man den tragisch-versöhnenden Zug in Nietzsches historischer Erscheinung verstehen will. So bezeichnend es für Nietzsche sein mag, wie er sich die Schopenhauer und Wagner als die „einzigen Lehrer wahrer Kultur" zurechtlegt und zu diesem Zwecke in geistreich spielender Weise die Weltgeschichte rückwärts konstruiert, so ist es doch noch bezeichnender, zu sehen, was ihn zu Schopenhauer und Wagner geführt hat. Hierüber geben die beiden ersten Stücke der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" bedeutsamen Aufschluss. Das erste richtet sich gegen „David Strauß, den Bekenner und den Schriftsteller", gegen den „Alten und Neuen Glauben", worin Strauß die Bismärckerei und die ödeste Manchesterei als den Abschluss des großen Geisteskampfes feierte, den er selbst einst glorreich genug mit dem „Leben Jesu" begonnen hatte. Dagegen empörte sich der Künstler in Nietzsche, der an der griechischen Antike seinen Geschmack geschult hatte. Ihn graute vor der entsetzlichen Öde, die mit der Bekehrung der Bourgeoisie zu Bismarck in das deutsche Geistesleben einbrach und selbst unsere edle Sprache zerstörte. Es lohnte sich wahrhaftig, mit Strauß das mythische Geheimnis der evangelischen Geschichte aufzulösen, um mit Strauß das mystische Geheimnis der hohenzollernschen Dynastie zu feiern! Ein Glück noch für Strauß, dass die Bourgeoisie inzwischen dahinter gekommen war, dass „dem Volke die Religion erhalten werden" müsse und somit von seinem Atheismus nichts wissen wollte, wodurch er in seiner Art doch noch zum „Bekenner" wurde. Aber indem sich Nietzsche gegen Straußens „Bierbankevangelium" erhob, wahrte er unstreitig die glorreichsten Überlieferungen deutscher Kultur.

Fast noch lehrreicher ist das zweite Stück der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", das vom „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" handelt. Man begreift leicht, wie fesselnd für einen Geist, in dem künstlerische und wissenschaftliche Neigungen in heftigem Widerstreit miteinander rangen, die Historie sein musste, die zugleich die Kunst und Wissenschaft ist. Eben die Fähigkeit, das Wesentliche aus dem Wüste des Wesenlosen heraus schöpferisch zu gestalten, unterscheidet den Historiker von dem Chronisten. In Nietzsches jungen Tagen überwucherte aber in der deutschen Geschichtschreibung jene sogenannte „Objektivität", jene „methodische Textkritik", die mit der geistlosen Nüchternheit des Chronisten auf die mathematische Sicherheit ihres Stäubchenkehrens pochte und hinter diesem lächerlichen Anspruch nur die ausschweifendste, bösartigste, geschäftsmäßigste Tendenz zugunsten der kapitalistischen Interessen im allgemeinen und der preußischen Interessen im besonderen verfolgte. Wieder war es der Künstler in Nietzsche, der sich gegen diese greisenhafte Geschichtsbaumeisterei empörte, während der Mann der Wissenschaft in ihm doch nicht mächtig genug war, um die Schacher aus dem Tempel zu vertreiben, worin sie ihre Schacherbank aufgeschlagen hatten. Er flüchtete sich zu Schopenhauer, dem Verächter aller Geschichte, und zu Richard Wagner, der als einziger Künstler großen Stils über ein Geschlecht von Epigonen emporragte oder emporzuragen schien.

Im Philosophen, im Künstler, im Heiligen sah Nietzsche die vollendeten Formen des Genies, aber der Philosoph Schopenhauer und der Künstler Wagner waren zu wunderliche Heilige, als dass sein Wähnen bei ihnen hätte Frieden finden können. Sein Bruch mit Wagner scheint durch persönliche Enttäuschungen verursacht oder doch beeinflusst worden zu sein. Was ihn von Schopenhauer zurückbrachte, spricht er einmal mit den Worten aus, Schopenhauer habe es mit seiner unintelligenten Wut auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhange mit der deutschen Kultur herauszubrechen, welche Kultur, alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinnes gewesen sei; Schopenhauer selbst sei gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch gewesen. Diese Sätze stimmen dem Sinne nach überein mit einem Einwände, den Karl Hillebrand, meines Wissens der erste namhafte Kritiker, der mit Nachdruck und Wärme auf Nietzsches Jugendschriften aufmerksam machte, sofort gegen ihn erhob; selbst ein Verehrer Schopenhauers, fertigte Hillebrand die Schimpfereien auf Hegel, die Nietzsche seinem damaligen Vorbilde nachsprach, mit den Worten ab: „Nicht einsehen wollen, dass Hegel den Grundgedanken der deutschen Bildung in ein System gebracht – folglich auch zuweilen ad absurdum getrieben –, heißt entweder die geistige Geschichte Deutschlands, von Herder bis auf Feuerbach, ignorieren oder Deutschlands Beitrag zur europäischen Zivilisation als wertlos darstellen." Das Erwachen dieser Erkenntnis trennte Nietzsche von Schopenhauer, aber leider wurde es nie ein gründlicher Bruch; nicht zehn Seiten entfernt von jener Absage auf die „unintelligente Wut auf Hegel", nennt Nietzsche die Geschichte wieder die „schauerliche Herrschaft des Unsinns und des Zufalls", ganz im Stile Schopenhauers.

Die Schriften der zweiten Periode, in der Nietzsche den Künstler gänzlich abzustreifen und ein reiner Denker zu werden versuchte, „Menschliches, Allzumenschliches", „Der Wanderer und sein Schatten", „Morgenröte", „Die fröhliche Wissenschaft", sind die besten, die Nietzsche verfasst hat, obschon sie nicht viele originelle Gedanken enthalten. Diesen Nachweis führt Tönnies in seiner ruhigen und sachlich überzeugenden Weise, und er gibt auch den Grund, weshalb Nietzsche als Denker scheiterte, erschöpfend an, indem er sagt: „Im Kerne seines Wesens blieb er immer ästhetischer Schöngeist." Nietzsches Versuch, mit den Naturwissenschaften einige Fühlung zu gewinnen, war von vornherein aussichtslos; das geht schon in überzeugender Weise aus seiner Schätzung Darwins hervor, den er einen „achtbaren, aber mittelmäßigen Geist" nennt; zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwins gehöre eine gewisse Enge, Dürre und fleißige Sorglosigkeit, während der Könnende im großen Stile, der Schaffende möglicherweise ein Unwissender sein müsse. Der geduldige und nie ermattende Fleiß des wirklichen Genies war dem nervösen Künstlertemperament Nietzsches versagt, und er sprach verächtlich von dem, was ihm gerade fehlte, um ein „Könnender im großen Stile" zu sein. Leider kam er aber auch auf dem Gebiet der historischen Wissenschaften nicht über diese Schranke hinaus. Ich möchte hier die Sätze wiedergeben, die mir, als ich sie vor Jahren in einer Schrift Nietzsches las, wie in einem Blitzstrahl sein eigentliches Wesen entschleierten, obgleich Tönnies sie nicht erwähnt und also vielleicht nur eine ganz subjektive Erfahrung vorliegt. Diese Sätze lauten:

Sowenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämtlich abliest – er nimmt vielleicht aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und „errät" den zu diesen fünf Worten mutmaßlich zugehörigen Sinn –, ebenso wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns sosehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasieren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den größten Teil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als „Erfinder" irgendeinem Vorgange zuzuschauen. Dies alles will sagen: wir sind von Grund aus, von alters her – ans Lügen gewöhnt. Oder um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiß. In einem lebhaften Gespräche sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äußert oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und fein bestimmt vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines Sehvermögens hinausgeht: – die Feinheit des Muskelspiels und des Augenausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins.

Man kann Nietzsches historische Urteile nicht treffender schildern, als er es hier selbst tut; an ein Stückchen zufällig aufgegriffener historischer Tatsache spinnt er seine manchmal geistreichen und manchmal auch absurden Phantasien. Wenn er weder ein abstrakter Denker noch ein schöpferischer Künstler war, so war Kunst und Wissenschaft auch nicht so in ihm gemischt, dass sich daraus ein rechter Historiker ergeben hätte. Der Künstler im Historiker kann erst dann schaffen, wenn der wissenschaftliche Arbeiter in ihm den Grund gesichert und das solideste Baumaterial herbeigeschafft hat; ein Meisterwerk künstlerischer Geschichtschreibung, wie Carlyles „Geschichte der französischen Revolution", beruht auf den genauesten Forschungen, und es war wieder der Neid des Armen gegen den Reichen, wenn Nietzsche von Carlyle als von einem „abgeschmackten Wirrkopfe" sprach.

Jedoch von einer Geschichtsperiode hat Nietzsche nicht einmal das vierte Wort zufällig verstanden, und das war zu seinem Unheil die Geschichtsperiode, worin er lebte. Er zählte 20 Jahre, als Lassalle seine Arbeiteragitation begann, und als er mit 44 Jahren dem öffentlichen Leben entrückt wurde, hatte er von der modernen Arbeiterbewegung nicht mehr aufgefasst als die allerlandläufigsten und allerplattesten Vorurteile des Spießers, wie sie der Probereiter an der Wirtstafel von Posemuckel oder Herr Eugen Richter in der „Freisinnigen Zeitung" vorträgt. Um die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache an einem Manne zu verstehen, der ein Philosoph zu sein beanspruchte, stelle man sich einen Augenblick vor, dass die Kant, Fichte und Hegel noch Philosophen genannt werden sollten, wenn sie über die Große Französische Revolution nichts anderes zu sagen gehabt hätten, als was ihnen der Hofmarschall Kalb vorplapperte. Das soll ganz ohne Eifer und Zorn gesagt sein: für die moderne Arbeiterbewegung ist es vollkommen gleichgültig, ob Nietzsche sie erkannt oder verkannt hat, und es wäre kindisch, dem von einem beklagenswerten Schicksal betroffenen Manne die geschmacklosen Ausfälle auf die „sozialistischen Flachköpfe und Tölpel" nachzutragen. Ich räume bereitwillig ein, dass der banale Sozialistenhass Nietzsches, soweit mir die Literatur über ihn bekannt ist, sich schwer erklären lässt. Aber die Tatsache, dass er, um sein Urteil übet Schopenhauers „unintelligente Wut" auf Hegel auf seine „unintelligente Wut" über den Sozialismus anzuwenden, „an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch" war, steht über jeden Zweifel hinaus fest, und sie hat dem Denker Nietzsche den Todesstoß gegeben.

Denn damit verschwand seinem Philosophieren jeder feste Boden unter den Füßen. Sowenig man ohne Kenntnis der vier Spezies eine mathematische Gleichung auflösen kann, sowenig kann man ohne Kenntnis der ökonomischen und sozialen Zustände moralische Probleme lösen. Je einseitiger und heftiger sich Nietzsche in diese Probleme verbiss, desto tiefer geriet er in ein ratloses Irrlichterieren.

Seine „dritte Häutung" vollzog sich in der episch-rhetorischen Dichtung „Also sprach Zarathustra", der schnell hintereinander, in den wenigen Jahren von 1885 bis 1888, eine Reihe von Schriften folgte: „Jenseits von Gut und Böse", „Zur Genealogie der Moral", „Der Fall Wagner", „Götzendämmerung", „Der Wille zur Macht". Sie gewähren, wie Tönnies sagt, „das hässliche Bild verzerrter Mienen, oft die Attitüde des Trunkenen, Überspannten, Verzweifelnden, des Dekadenten", und es ist eher zu viel des Lobes als des Tadels, wenn Tönnies in diesem „Hexensabbat von Gedanken, Ex- und Deklamationen, von Wutausbrüchen und widerspruchsvollen Behauptungen" noch „viele leuchtende und blendende Geisteswitze" finden will. Er lässt sich die Mühe nicht verdrießen, auch hier den roten Faden aufzuspüren, doch sind diese Untersuchungen wertvoller durch das, was Tönnies positiv ausführt, als was er an Sinn und Verstand in der dritten Periode Nietzsches entdeckt, auf die schon die Schatten der hereinbrechenden Geistesnacht fallen.

Formell knüpft Nietzsche wieder an Schopenhauer an, mit dem er als Denker nicht hatte auseinanderkommen können. Nach der alten Erfahrung verneint er um so grimmiger, was er geistig nicht hatte überwinden können, statt den Willen zum Leben zu verleugnen, feiert er den Willen zur Macht; die Mitleidsmoral Schopenhauers verkehrt er in eine Grausamkeitsmoral. Materiell erklärt sich diese Wendung daraus, dass Nietzsche den Weg zum Sozialismus, zu den lebendigen Kräften der historischen Entwicklung nicht hatte finden können. Sich an den Trebern der „modernen Ideen" zu sättigen, wie sie der flache und platte Liberalismus serviert, dazu war er immer zu geistvoll gewesen; was blieb ihm also noch übrig, als in der Übergipfelung des kapitalistischen Systems eine neue Welt heraufdämmern zu sehen, seine alte künstlerische Neigung zum Heroenkultus von den Schopenhauer und Wagner auf die Krupp, Stumm und Rothschild zu übertragen? Ohne eine Ahnung von dem ökonomischen Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses malt er sich mit künstlerischen und literarischen Reminiszenzen die „Übermenschen" aus, die „freien, sehr freien Geister", die „guten Europäer", Prunknamen, die er umso blinder häuft, je mehr er mit dem Instinkt des Dekadenten empfindet, dass es sehr schäbige Figuren des Verfalls zu vergolden gilt.

Subjektiv ein verzweifeltes Delirium des Geistes, ist diese sogenannte Philosophie objektiv eine Verherrlichung des großen Kapitalismus, und als solche hat sie ein großes Publikum gefunden.

Nur der Nietzsche der dritten Periode ist populär geworden, und nur dieser Nietzsche waltet als segnender Genius über dem modernen Naturalismus. Nicht jedoch, als ob die Denker und Dichter dieser Richtung dadurch als Tintenkulis der Krupp, Stumm und Rothschild verdächtigt werden sollten: die Sache hat einen viel harmloseren Zusammenhang. Zur richtigen Ausstattung einer Dichterschule gehört auch ein Philosoph: die Klassiker hatten ihre Kant und Fichte, die Romantiker ihren Schelling, und zum modernen Naturalismus passt der Nietzsche der dritten Periode wie der Handschuh auf die Hand. Er bietet allemal die sicherste Rückendeckung gegen jede gefährliche Verwechslung mit der revolutionären Arbeiterbewegung, und wie viele zwar konfuse, aber wunderschöne Schlagworte liefert er, um alle die Konfliktchen von Anno dazumal ästhetisch ein wenig aufzufüttern, um die „dreieckigen Verhältnisse", das bisschen Keifen mit dem lieben Gott als Taten „freier, sehr freier Geister", als „Umwertung aller Werte" zu feiern, um mancherlei Dinge, die man in der schlichten sinnlichen Kutschersprache des gewöhnlichen Lebens sonst anders zu nennen gewohnt war, wie beispielsweise jenen kürzlich durch die Zeitungen gelaufenen Brief, worin der naturalistische Ästhetiker Schlenther irgendeine Wiener Hofschranze untertänigst ersterbend um ein Theaterpöstchen anging, als das „Ausleben selbstherrlicher Persönlichkeiten" zu verherrlichen! Meine Feder ist viel zu schwach, um den erleuchtenden Einfluss, den der Nietzsche der dritten Periode auf den modernen Naturalismus geübt hat, in allen Einzelheiten zu schildern; klassisch spiegelt er sich wider in jener erhabenen Hymne, die ein berühmter Lyriker des Naturalismus, trunken von seinem Nietzsche, also in die Saiten seiner Harfe

gestürmt hat:


Bammel, Bummel,

Rückentanzgerummel,

Flackertanzgewaber,

Popanz und Borstentroll,

Rockentanzgeschrammel.


In seinem Nietzsche-Kultus fühlt sich der moderne Naturalismus sicher wie in einer uneinnehmbaren Burg. Er denkt: durch diesen zerfließenden Sumpf von Redensarten soll mal ein Belagerer seine Laufgräben ziehen! Um aber doch vor jeder Gefahr geschützt zu sein, behauptet er noch, sein Nietzsche, der Nietzsche der dritten Periode, sei überhaupt kein Gegenstand des logischen Begreifens, sondern des ästhetischen Genießens, worauf der Nietzscheaner Harden obendrein den Trumpf gesetzt hat, sozialistische Lümmel könnten diesen Genuss nicht schmecken. Man braucht die Grobheit nicht übelzunehmen: Lümmel haben wenigstens Knochen im Leibe und sind keine zuckenden Nervenbündel mit perversen Instinkten: die Sache selbst ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Den Nietzsche der dritten Periode oder genauer: sein „System" logisch zu begreifen, ist keinem Gotte, geschweige denn einem Menschen gegeben, und sicherlich finden die modernen Sozialisten keineswegs solchen Geschmack daran wie die modernen Naturalisten.

Nur darf man nicht so weit gehen, zu sagen, dass sich über diesen Geschmack nicht streiten lasse. Wer gern den Revoluzzer spielen, aber um's Himmels willen nicht die Fleischtöpfe des Kapitalismus verlassen, je nachdem auch Bismarcks Stiefel putzen und Väterchens Knute küssen will, der wird den Nietzsche der dritten Periode immer mit dem Gefühle hoher Lust verschlingen. Wem dagegen die Welt nicht Bammel Bummel, auch nicht Popanz und Borstentroll, wem die deutsche Kultur ans Herz gewachsen, wem der Emanzipationskampf des modernen Proletariats eine große Sache, wem der Fortschritt der menschlichen Zivilisation so sicher ist, wie eine klar begründete, wissenschaftliche Überzeugung nur sein kann, dem wird es immer ein Gefühl hoher Unlust erregen, den Nietzsche der dritten Periode zu lesen.

Über diesen Geschmack lässt sich also sehr wohl streiten, das heißt durch Beweise entscheiden; seine objektiven Bestimmungsgründe liegen klar vor, und dies ist denn freilich die eine verwundbare Stelle an dem bezaubernden Nietzsche-Kultus des modernen Naturalismus.

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