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VI [Gerhart Hauptmann]

Woerners Schrift über Hauptmann ist anscheinend eine Seminararbeit, sehr jugendlich in Auffassung und Darstellung, doch mit einigen guten Beobachtungen. Ungleich schärfer und tiefer dringt Bartels in die Werke des Dichters ein. Er steht dem modernen Naturalismus keineswegs feindlich gegenüber, aber doch mit der kritischen Besonnenheit eines Ästhetikers, der was Ordentliches gelernt hat; mitunter ein wenig hausbacken und nüchtern, hat sein Urteil immer Hand und Fuß; es ist nicht jenes gräuliche Gerede ins Blaue hinein, das in der modernen Ästhetik so sehr überwuchert. Überreiche Proben davon enthält Schienthers dickes Buch über Hauptmann, das standard work dieser Literatur und vom Dichter selbst als solches anerkannt. Ein Gemisch von Reklame und Unwissenheit, würde es unerträglich zu lesen sein, wenn es nicht dadurch erträglich würde, dass es wider Willen und Wissen manchen prunkenden Schleier des Naturalismus lüftet. Auch die Schriften von Duboc und Tönnies sind hier schon mit einzelnen Bemerkungen anzuziehen, obgleich ihre eingehendere Würdigung erst in einen späteren Abschnitt gehört.

Gerhart Hauptmann stammt von väterlicher und mütterlicher Seite aus denjenigen proletarischen Schichten, die sich durch anschmiegende Fügsamkeit an die Unterdrücker ihrer Klasse emporzuarbeiten suchen. Der Vater seines Vaters war als Jüngling ein schlesischer Weber; er machte die Befreiungskriege mit, diente dann als Feldwebel und Oberkellner, wurde schließlich Gastwirt. In diesem Gewerbe folgte ihm sein Sohn, der seine Gattin aus der ehemals hörigen, im Dienste der fürstlich plessischen Familie emporgekommenen Familie Strähler wählte. Hören wir darüber Schienthers Orakel:

In der Familie Strähler musste diese Lebensanschauung (herrnhutische Gesinnung) besonders fest fußen; denn einerseits entstammte sie den Niederungen des Landvolks, das von Kanzel und Altar in mehr oder minder dumpfer Abhängigkeit bleibt; andererseits standen ihre älteren Generationen im Untertanenverhältnis zum erbeingesessenen Grafengeschlechte. Wenn ein gallonierter Leibkutscher die durchlauchtige Herrschaft sonntags nach der Kirche fuhr, wenn der gnädigen Gräfin eine Kammerzofe zur Abendandacht das Gebetbuch reichte, so stieg aus diesen Verrichtungen ein religiöser Weihrauch in die Hirne der Schlossleute und ging auch auf die Nachkommenschaft über, deren Ursprung nicht immer ganz sicher herzuleiten war. In Gerhart Hauptmanns „Webern" hält der Kutscher zur Herrschaft. Er bringt auf eigene Faust vor der Rotte heranziehender Empörer die Kinder des Hauses in Sicherheit. In ihrer blinden Angst flüchtet sich die Frau des Hauses an den Busen dieses treuen Johann. Wenn sich in den Nöten des Lebens zwischen Gesinde und Herrschaft ein solches Band schlingt, so gleichen sich die Gegensätze aus. Selbst von einem so wenig sentimentalen Manne wie dem schlesischen Barchentfabrikanten wird dem treuen Kutscher das, was er im Augenblicke der Gefahr tat, an den eigenen Kindern vergolten werden. Johanns Sohn wird nicht mehr auf dem Kutscherbocke sitzen, sondern vielleicht an Stelle des Expedienten Pfeiffer in Herrn Dreißigers Kontor. Auch die Familie Strähler, aus der Herr Robert Hauptmann seine Lebensgefährtin holte, hat sich von einer Generation zur anderen im Grafenschloss aus geringem Stande langsam emporgehoben. Aus Dienern des hohen Adels wurden dessen Vertraute und Beamte. Langsam entwickelte sich die Untertänigkeit zum freieren Bürgertum. Gesunden Naturen wird ein solcher Entwicklungsgang heilsam sein. Derbe volkstümliche Kraft verbündet sich dann mit höherer Gesittung. Zum festen Handeln gesellt sich ein zartes Empfinden. Neben anderen Tugenden gedeiht das werktätige Mitleid.

Dies Prachtstücklein naturalistischer Ästhetik ist etwas ausführlicher wiedergegeben worden, damit die Leser selbst entscheiden mögen, ob sich von den modernen Lessingen ohne eine gewisse Bitterkeit sprechen lässt. Über die blödsinnige Unwissenheit, die das „freiere Bürgertum" aus dem Bedientenproletariat aufwachsen lässt, weiter kein Wort, aber Schienthers Lobgesang auf dies Proletariat lässt begreifen, weshalb die naturalistische Ästhetik mit solcher Wucht den unglücklichen Schiller zerstampft, der vor hundert Jahren schrieb: „Sklaverei ist niedrig, aber eine sklavische Gesinnung in der Freiheit ist verächtlich." Hauptmann selbst steht hier, wie in manchen anderen Fällen, hoch über seinen Bewunderern. Er hat den Expedienten Pfeiffer in den „Webern" als das dargestellt, was solche kriechende Subjekte in der Wirklichkeit sind, als einen verächtlichen Schublack. Soweit sich in Hauptmanns Wesen die Spuren seiner Abstammung erkennen lassen, stellen sie sich in Art und Unart ganz anders dar, als Schienther glauben machen will: der feste stetige Wille, die kaltblütige Umsicht in der Wahl der Mittel, die brennende Sehnsucht voranzukommen, sorgsam verdeckt durch ein bescheidenes und zurückhaltendes Äußeres, die sorgliche Vorsicht, ja nicht mit dem kämpfenden Proletariat verwechselt zu werden, und dann doch auch wohl einmal ein helles Aufflammen des niemals ganz zu erstickenden Proletarierbewusstseins – das ist bei alledem etwas anderes, als was nach Schienthers feuriger Schilderung „den Busen des treuen Johann" bewegen mag.

Mit dem „werktätigen Mitleid" aber schlägt Schienther die eine Saite an, die nach der Versicherung der naturalistischen Ästhetiker durch ihre Dichterschule vibriert; die andere, die Übermenschheit nach Nietzsches Muster, wird weiterhin zu behandeln sein. Auch Steiger spricht von dem „allumfassenden Mitleid und der sozialen Entrüstung", „diesen beiden starken Gefühlen, die uns den endlichen Sieg der Gerechtigkeit auf Erden verbürgen". Mit Verlaub Steigers verbürgen diese „Gefühle" gar nichts, es sei denn, dass sie die Dauer der Ungerechtigkeit verbürgen. Das wusste niemand so gut wie der alte Schopenhauer, der die Ewigkeit der spießbürgerlichen Moral eben auf das Mitleid begründete. Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um das ästhetische Mitleiden, das nach der bekannten Erklärung des Aristoteles die eine Seite des tragischen Gefühls ausmachen soll. Was Schienther und Steiger meinen, ist das moralische Mitleid mit den Armen und Elenden, das „werktätige Mitleid", das mit Armensuppen, Wärmstuben, Bettelpfennigen und auch ästhetischen Gefühlen den endlichen Sieg der Gerechtigkeit verbürgen soll. Ich spreche nicht erst darüber, dass damit doch wieder die Moral in die Kunst geschleppt wird, denn wenn man die naturalistische Ästhetik in allen ihren Widersprüchen verfolgen wollte, so ginge man auf eine Wilde-Gänse-Jagd, von der in Jahr und Tag keine Rückkehr zu hoffen wäre. Wohl aber ist festzustellen, dass es gar kein hoffnungsloseres, kläglicheres und unfruchtbareres Kulturprinzip geben kann als jenes „werktätige Mitleid". „Eine gute Kultur macht das Mitleiden sosehr als möglich überflüssig, weil sie dem Leiden sosehr als möglich vorbeugt", sagt Tönnies fein und treffend. So auch dachte der „Moraltrompeter von Säckingen", als er dichtete:


Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.


Hoffentlich haben die neun Musen dem guten Schiller diese Verse verziehen, in denen Albert Lange nicht oder nicht nur die tragische Dialektik der Leidenschaften, sondern einfache, echt philosophische Wahrheit fand: bei dem „werktätigen Mitleid", das im „Busen des treuen Johann" flammt, fände er damit kein Quartier.

Die Jugend seines Helden schildert Schienther als eine Reihe ringender Anläufe. Mit 15 Jahren verließ Hauptmann das Gymnasium, wo er es bis zur Unterquarta gebracht hatte; dann versuchte er sich zwei Jahre als Eleve der Landwirtschaft, zwei weitere Jahre als Kunstschüler, beide Male mit gleichem Misslingen. An der Breslauer Kunstschule fand er aber ein paar Gönner, deren einen der dankbare und gemütvolle Poet später als unheilbaren Süffel dramatisiert hat; auf ihre Empfehlung gestattete der Großherzog von Weimar, dass sich Hauptmann zu Ostern 1882 als Student der Geschichte in Jena immatrikulieren ließ. Indessen, auch damit wollte es nicht glücken und ebenso wenig mit der Bildhauerei, die Hauptmann in Rom versuchte. Er machte nunmehr Schicht mit seinem Sturm und Drange, indem er ein reiches Fräulein freite, 22 Jahre alt, körperlich so unfertig wie geistig; Schienther erzählt, die „unentwickelte Dürftigkeit des jungen langmähnigen Ehegatten" habe am Hochzeitstage einen vorbeiflanierenden Leutnant zum Hohne gereizt, so dass es beinahe zum Handgemenge gekommen wäre.

Ob diese höchst persönlichen Dinge, die Schienther unter Hauptmanns Billigung mit breitem Behagen ausbietet, die Öffentlichkeit so sehr viel angehen, mag dahingestellt bleiben. Es wäre jedenfalls taktlos, sie zum Gegenstande der Kritik zu machen; ich begnüge mich, die kulturhistorische Bedeutung der Tatsache festzustellen, dass ein moderner Künstler seine Sturm- und Drangperiode mit einer reichen Heirat versöhnend abschließt. Das ist neu, aber durchaus nicht unnatürlich, vielmehr dem Geiste eines großkapitalistischen Zeitalters durchaus angemessen. Hauptmann hat durch diesen sozialen Schachzug manchem Altersgenossen, der von Natur ungleich reicher mit dichterischen Gaben ausgestattet war, einen weiten, niemals einzuholenden Vorsprung abgewonnen. Er war der unpraktische Träumer nicht, um mit dem naturalistischen Ästhetiker zu sagen: Erst die geistigen Einflüsse vergangener Kulturen und dann die materiellen Interessen, sondern er sagte sich mit klarem Blick: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Und es ist anzuerkennen, dass er sich nach Sicherung der materiellen Interessen mit allem Fleiße den geistigen Einflüssen vergangener Kulturen hingab. Nach Schienthers Erzählung hat er hintereinander Andersen, Tegner, Wilhelm Jordan, Bürger, Byron, Heine nachgeahmt; noch mit 26 Jahren hat Hauptmann allen Ernstes gereimt: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass meine Träne rinnt zuweilen, wenn ferne das Läuten der Glocke, der Glocke beginnt." Von alledem gibt Schienther ein paar kleine Proben; vollständig in die Öffentlichkeit ist allein Hauptmanns Byron-Kopie gelangt, eine Nachahmung des „Childe Harold". Das „Promethidenlos" erschien 1885 und wurde von der Clique sofort mit schmetternden Posaunenstößen begrüßt. Der eine sagte, es sei die qualmende Feuersäule des Idealismus, während ein anderer meinte, dass es an Größe der Konzeption, Adel und Schwung der Sprache das verkrüppelte Knieholz der üblichen Poetasterei titanenhaft überrage.

Hauptmann selbst war abermals gescheiter als seine Bewunderer und ließ das Gedicht einstampfen, nachdem kaum die Druckerschwärze trocken geworden war. Nach solcher Selbstkritik und da heute auch die feurigsten Verehrer des Dichters vor der nach Form und Inhalt gleich unreifen Reimerei die Waffen strecken, wäre es unbillig und ein allzu wohlfeiles Vergnügen, das „Promethidenlos" kritisch zu zerzausen. Trotz alledem hat Bartels recht, es eine „ehrliche Dichtung" zu nennen. Hauptmanns ungemessenes Selbstbewusstsein, die entsetzliche Trivialität seiner Weltanschauung und namentlich die Muse des „werktätigen Mitleids" treten darin mit greller Nacktheit hervor. Ein Jahr nachdem Hauptmann im Hafen geborgen war, singt er in der Widmung: „In unsrer Zeiten Adern rollt, statt roten Blutes rotes Gold, in unsern Adern nicht." Und im Texte selbst:


Du magst mit Tauben nach Belieben walten,

Doch mein Gesang fliegt keinen Taubenflug

Und deine Fesseln können ihn nicht halten,

Noch du bemeistern meines Geistes Flug.

Nimm weg die Hand von eines Leuen Mähne,

Er schüttelt sie und schaut dich dräuend an,

Nimm weg die Hand, du Mann der milden Träne,

Du Mann des Glückes, du zufriedner Mann.


Und dann wieder ruft er den Armen und Elenden zu, worin Schlenther so glücklich ist, „verzweifelten Entschluss" zu entdecken:


So lasst in eurem Schmutz mich hocken,

Lasst mich mit euch, mit euch im Elend sein.


Mit solchen wohlfeilen Tiraden die Bühne des Lebens überschütten, nachdem man sich selbst einen bequemen Sitz in der Loge gesichert hat, das ist's, was die naturalistische Ästhetik „werktätiges Mitleid" nennt.

Noch vier bis fünf Jahre tastete Hauptmann, immer nach der Schilderung seines offiziösen Biographen, als ein nachahmender Epigone ratlos umher, bis er endlich auf den Mann stieß, der ihm nach Hauptmanns eigenem Worte die „entscheidende Anregung" gab. Es war Arno Holz, ein Altersgenosse Hauptmanns, aber ein ungleich reicher begabter Poet. Hat kaum jemals ein Dichter so dürftig und kläglich begonnen, wie Hauptmann mit dem „Promethidenlose", so kaum jemals ein Dichter so glänzend und glorreich wie Holz mit dem „Buche der Zeit". Ein energischer, fester Charakter, mit aller Glut des geborenen Künstlers um seine Ideale ringend, besitzt Holz freilich nicht die kühle und praktische Umsicht Hauptmanns; er sieht nur seine künstlerischen Ziele, denen er unbeirrt nachtrachtet, mag er auch täglich dicht am zuschnappenden Rachen des Hungertodes vorbeipassieren. Im Winter von 1888 auf 1889 lernten Holz und Hauptmann sich kennen, und trotz aller hämischen Redensarten über Holz, der als freier Mann der Clique natürlich ein Dorn im Auge ist, muss doch Schienther anerkennen, dass Hauptmann, „erfüllt von Arno Holzens Theorie, angespornt von seinem Zuspruche", in die Bahn geworfen wurde, worin er entfalten konnte, was ihm an dichterischem Talente gegeben ist.

Gleich Hauptmanns erstes Drama „Vor Sonnenaufgang" zeigt alle Vorzüge und Schwächen, die seitdem seiner Dramatik eigentümlich geblieben sind. Nicht als ob es ihm an einer Entwicklung gefehlt hätte; durch einen andauernden und höchst rühmenswerten Fleiß hat er seine Vorzüge zu steigern, seine Schwächen zu mindern gewusst; er hat Dramen geschrieben, in denen fast nur seine Vorzüge hervortreten, freilich neben anderen, worin seine Schwächen weit überwiegen; im ganzen und großen aber kann man nur mit aller Achtung auf den energischen Willen blicken, womit er sich durchzusetzen gewusst hat. Nach seiner natürlichen Begabung ist er an dramatischem Talent fast ebenso arm wie an lyrischem Talent; wie wäre es sonst möglich gewesen, dass er bis in sein siebenundzwanzigstes Lebensjahr ratlos umhertappte! Auch in seiner dramatischen Produktion lehnt er sich, zwar nicht immer, wie Bartels meint, aber doch sehr häufig, an Vorbilder an; Bartels weist eingehend die, wie er ganz zutreffend sagt, „Patenstücke" nach, an denen sich die einzelnen Dramen Hauptmanns emporranken, und eine wie weite Reise ist das! Jene großen Würfe, die den großen Dramatiker machen, sind ihm gänzlich versagt, wohl aber ist ihm in hohem Grade eine mikroskopisch feine und kleine Beobachtung der Wirklichkeit eigen, eine Gabe, die er mit unendlichem Fleiße gepflegt hat, und dieser Fleiß hat ihn doch manchmal nahe an die Grenze geführt, wo das Genie beginnt. Allzu oft bleibt er in der brutalen Wirklichkeit stecken, kommt er nicht über den Photographen und Wachsfigurenkneter hinaus, aber wo ihm ein günstiger Stoff und eine günstige Stunde winkten, da hat er eigentümliche Kunstwerke geschaffen, die in der deutschen Literatur dauern werden, sosehr sie der hergebrachten Regeln spotten mögen.

Sein erstes Stück nannte Hauptmann ein „soziales Drama", und daher stammt das Gerede, er habe sofort ein soziales Weltbild, den Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf die Bühne geführt, der sozialen Frage der Zeit die weltbedeutenden Bretter geöffnet. Mit gleichem Rechte könnte man diese Ehrentitel auf das Haupt jenes Jugendschriftstellers häufen – ich entsinne mich nicht mehr, ob es Franz Hoffmann oder Gustav Nieritz war –, der einmal schildert, wie der Gewinn des Großen Loses einen braven Handwerksmeister zum Suff und zur Völlerei verführt. „Vor Sonnenaufgang" spielt in einer Bergwerksgegend, aber Hauptmann denkt gar nicht daran, die Bergleute und ihre Ausbeuter dramatisch gegenüberzustellen. Er schildert den Suff und die Völlerei eines Dorfes, dessen Bauern dadurch zu Reichtum gelangt sind, dass sich unter ihren Äckern Kohlenlager gefunden haben. Wenn man sagt, dieser Reichtum hänge doch auch mit dem Kapitalismus zusammen, so ist das eben nur soweit richtig, als auch die Lotterie mit dem Kapitalismus zusammenhängt. Beides sind Begleiterscheinungen des Kapitalismus, aber sie liegen abseits der kapitalistischen Produktionsweise und den aus ihr entspringenden Klassenkämpfen; ebendeshalb sind sie die Lieblingstummelplätze der spießbürgerlichen Moral, die den Pelz des Bären zwar waschen, aber beileibe nicht nass machen möchte. Und sowenig die versoffenen Bauern, die Hauptmann schildert, „Kapitalisten" sind, sowenig sind seine Helden Loth und Schimmelpfenig „Sozialisten"; es sind vielmehr, will man sie einen Augenblick als mögliche Menschen nehmen, die richtigen Spießer, die um einiger unverdauter Temperenzler- und Vererbungsschrullen willen die Gebote der Ehre und Menschlichkeit mit Füßen treten.

Wohl aber versteht Hauptmann, die ekelhafte Verkommenheit jenes Bauerndorfs, das irgendwo in Schlesien wirklich existiert, mit einer Naturwahrheit zu schildern, die den Mistduft sozusagen durch den ganzen Theaterraum fluten lässt. Mit der Redensart, dass die Kunst nur das Schöne schildern solle, ist dagegen gewiss nichts ausgerichtet, jedoch um so mehr mit der Forderung, dass die Kunst das Grässliche und Niedrige nur um eines erheblichen künstlerischen Zwecks willen darstellen solle. Und dieser Zweck fehlt dem Erstlinge Hauptmanns vollständig; wenn man nicht den platten Abklatsch einer zufälligen Wirklichkeit dafür nehmen will. Gegenüber den Millionen von Bauern, die von der kapitalistischen Produktionsweise unmittelbar in den Abgrund geschleudert werden, gibt es nicht hundert Bauern, die von ihr in der von Hauptmann geschilderten Weise mittelbar zu Reichtum gekommen sind. Es fehlt gänzlich jene Übereinstimmung zwischen Individuum und Gattung, deren Höhegrad nach Kant die ästhetische Formvollkommenheit bestimmt. Deshalb ist „Vor Sonnenaufgang" ästhetisch ebenso unschön und unwahr, wie man es aus gleichem Grunde nicht sowohl ein „soziales", als ein „antisoziales Drama" nennen muss. Sein „Patenstück" ist Tolstois „Macht der Finsternis"; indem Hauptmann dies Muster nachahmte, hat er gar nicht bemerkt, worauf es eigentlich ankam, was ihm beiläufig zum ersten, aber leider nicht zum letzten Male passieren sollte. Die Gräuel, an denen es in Tolstois Drama nicht fehlt, entbehren nicht des erheblichen künstlerischen Zwecks; Tolstoi gibt eben ein typisches Bild des russischen Bauernlebens.

Nur eine einzige Figur in dem ersten Drama Hauptmanns ist künstlerisch aufgefasst, verkörpert eine ganze Gattung in einem durchaus lebendigen Individuum, und das ist der Streber Hoffmann. Loth und Schimmelpfenig sind schließlich abstrakte Schemen; so feige und zugleich so verbohrt handelt selbst der deutsche Spießer nicht. Es ist aber höchst bezeichnend für die naturalistische Kunst, wie Hauptmann diese beiden Puppen lebendig machen will. Er behängt sie mit allerlei Äußerlichkeiten, die er ihm persönlich bekannten Leuten absieht, und meint, dass sie nun leben. Schienther lässt durchblicken, wer zu Schimmelpfenig Modell gestanden hat, was übrigens auch sonst bekannt war; dieses Modell ist ganz unfähig, so verächtlich-zynisch zu handeln wie Schimmelpfenig, aber seine Studienerlebnisse, die Art, wie er die Zigarrenasche abstreift und andere mit dem Gange des Stückes nicht im entferntesten Zusammenhange stehende Beiläufigkeiten werden dem Schimmelpfenig aufgehängt, damit er zu einer lebendigen Gestalt werde. Diese wunderbare Art schöpferischen Gestaltens war freilich aller bisherigen Kunst unbekannt.

Endlich gibt sich in Hauptmanns erstem Stücke auch schon die innere Verwandtschaft zwischen Naturalismus und Romantik kund. Die Heldin des Dramas, die in doch schon reiferen Jahren mitten in einem Pfuhle von Blutschande, Ehebruch und Suff wie eine Blume blüht, so hold und schön und rein, dann aber sich heroisch den Hirschfänger ins Herz stößt, weil der Feigling Loth sie aus Angst vor erblicher Säuferbelastung nicht heiraten will, ist eine sehr romantische Dame: malt er einmal den Schmutz in all seiner Natürlichkeit, so ziert ein wenig Konsequenz auch den Naturalismus.

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