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Über Hauptmanns zweites Stück, „Das Friedensfest", lässt sich nicht mehr sagen, als dass es eine ins Unmotiviert-Grässliche verzerrte Nachahmung Ibsens ist, aber ein eifriges und keineswegs erfolgloses Studium des technischen Bühnenhandwerks bekundet. Gleichfalls eine Nachahmung Ibsens sind die „Einsamen Menschen", das dritte Drama Hauptmanns, immerhin jedoch eine etwas freiere Nachahmung; sie suchen zwei Lieblingsmotive des modernen Naturalismus ineinander zu verflechten.

Das eine dieser Motive ist das „dreieckige Verhältnis", wo ein Hans zwischen zwei Greten oder je nachdem auch eine Grete zwischen zwei Hansen wimmert, das andere aber der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft. Beide Motive humpeln etwas gar sehr weit hinter dem großen Gange der Zeitgeschichte einher; es sind überlebte Spielereien kleiner Literatenkreise, die sich gerne wichtig machen möchten, ohne dass doch etwas Wichtiges hinter ihrem Treiben steckt. Johannes Vockerath, der Held der „Einsamen Menschen", ist, wie Bartels ihn nennt, ein „fürchterlicher Jammerlappen", ein Dekadent vom Scheitel bis zur Sohle, ohne auch nur einen heilen Knochen im Leibe, aber voll kindischer Faseleien, die seine geistige Impotenz nicht sowohl verhüllen als enthüllen. An und für sich ist diese Gestalt gewiss mit scharfem Auge erfasst; in Friedrichshagen, wo die „Einsamen Menschen" spielen, mag sie in mehr als einem Prachtexemplar herumlaufen. Es wäre ein glücklicher Griff gewesen, wenn Hauptmann sie zum Mittelpunkt einer Komödie gemacht hätte. Aber er verlangt, dass wir den unausstehlichen Patron tragisch nehmen sollen, und damit verfällt er einer unfreiwilligen Komik. Der Stoff tragischer Konflikte, den das Leben eines modernen Forschers enthalten mag, liegt weit über Hauptmanns Horizont hinaus, und an solche Probleme sollte er lieber nicht rühren; zum Goethe hat er doch noch eine ziemliche Strecke, etwa eben soweit wie der Doktor Bruno Wille1 zum Doktor Heinrich Faust.

Umso höher schwang sich Hauptmann in den „Webern" auf. Hier bot sich ihm ein Stoff, der nur eingeteilt zu werden brauchte und auch wirklich nur eingeteilt worden ist, um den Rahmen eines Dramas zu schaffen, ein Stoff ohne mannigfaltige und verwickelte Handlung, ein historisch-typischer und doch mit keinem historischen Gedankengehalte beschwerter Stoff. Immer war die Hauptsache, dass der „Weberenkel" dies Drama gedichtet hat, im Sinne des Goethischen Worts, dass den Dichter ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz mache. Hauptmann hat diesem „Werke eben aus eignem Ich was zugegeben", er hat eine Fülle von Gestalten geschaffen, die echt künstlerisch gesehen sind: voll ergreifenden packenden Lebens in jeder Bewegung, in jedem Worte, und doch keine brutale Kopie einer zufälligen Wirklichkeit. Die schulgerechte Ästhetik hat vieles gegen die „Weber" eingewandt, und von ihrem Standpunkt aus auch nicht mit Unrecht. Nur dass ihr Standpunkt eben nicht die entscheidende Instanz in Sachen des Geschmacks ist. Die Frage, was Goethe und Schiller zu diesem Drama gesagt haben würden, ist ebenso unsinnig, als wenn man fragen wollte, weshalb Goethe und Schiller sich ihre Briefe durch die zwischen Jena und Weimar laufende Botenfrau zugeschickt haben, statt die bequemere und schnellere Eisenbahnpost zu benutzen. Die Eisenbahn war zu Goethes und Schillers Zeiten nicht unmöglicher als ein Drama wie die „Weber". Im Übrigen verstößt das Drama gegen den Geist der klassischen Ästhetik viel weniger als hundert Schulmeistertragödien, die nach den Grundsätzen dieser Ästhetik gearbeitet sein wollen.

Leider hat Hauptmann selbst den ästhetischen Nörglern die Flanke preisgegeben, indem er mindestens schweigend duldete, dass sein Advokat die den „Webern" bereiteten Zensurschwierigkeiten durch wahrhaft elende Kniffe zu beseitigen versuchte. Nicht darin fehlte Hauptmann, dass er die sozialdemokratische Tendenz des Dramas bestritt, denn das war sein gutes Recht, und es müssen eigene Narren gewesen sein, die ihm deshalb, wie Steiger erzählt, den Vorwurf der Feigheit gemacht haben sollen. Aber Hauptmann durfte nicht zulassen, dass sein Advokat eine arbeiterfeindliche und ordnungspolizeiliche Tendenz in die „Weber" hinein schwindelte. Das war eine ästhetische Versündigung weit mehr noch als eine politische. Nach den Prinzipien des Naturalismus hätte der Dichter im fünften Akt seines Dramas zeigen müssen, wie die aufständischen Weber vom Büttel ausgepeitscht und dann ins Zuchthaus gesperrt wurden, denn so endete der Weberaufstand in der historischen Wirklichkeit. Dann wäre das Schauspiel freilich im tiefsten Sumpfe der Schauerdramatik versunken, und ganz im Geiste der klassischen Ästhetik zog Hauptmann die ästhetische Schönheit und Wahrheit dem sklavischen Abklatsche des brutalen Lebens vor: sein Drama schließt damit, dass ein seinen Kameraden abtrünniger Weber unter einer Soldatenkugel fällt, während die Soldaten von den aufständischen Webern siegreich zurückgeschlagen werden. Aber wenn Hauptmann mit Fug sagen konnte: Ich habe die Dinge nicht als Sozialdemokrat, sondern als Künstler angesehen, so musste er sein künstlerisches Recht nicht bloß nach links, sondern auch nach rechts wahren, so durfte er dem Oberverwaltungsgerichte nicht durch seinen Advokaten sagen lassen, dass er den „Sieg der Ordnung durch eine Handvoll Soldaten" habe feiern wollen. Das mag ja ganz schlau gewesen sein, nur der Dichter Hauptmann ist dabei sehr schlecht gefahren.

Im fünften Akte des „Florian Geyer" holte er dann nach, was er im fünften Akte der „Weber" versäumt hatte: die betrunkenen Ritter fallen mit Hetzpeitschen über die gefangenen Bauern her, ein Frevel an der Kunst, der erfreulicherweise sogar dem Berliner Premierenpublikum die Eingeweide im Leibe umkehrte. Sonst erwies dies Drama die völlige Unfähigkeit nicht nur Hauptmanns, sondern des modernen Naturalismus überhaupt, einen großen historischen Stoff dramatisch zu gestalten. Steiger besitzt auch die dankenswerte Ehrlichkeit, offen zu sagen: „Der naturalistische Stil hat sich zur Bewältigung großer Geschichtsbilder ohnmächtig erwiesen." Man braucht durchaus nicht erst auf Schiller oder Shakespeare zurückzugehen, sondern nur Schweichels Roman aus dem Bauernkriege mit Hauptmanns „Florian Geyer" zu vergleichen, um zu sehen, was die Alten können und die Jungen eben nicht können. Schweichel hat das faltenreiche Gewebe des Bauernkriegs wirklich zu entfalten gewusst, während Hauptmann hilflos davorsteht, trotz aller „tiefgründigen Studien", die ihm jahrelang von der Clique nachposaunt worden sind. Was sich an Schweichels Roman ästhetisch aussetzen lässt, das mag wohl der Moral geschuldet sein, die ein alter Freiheitskämpfer aus einem großen Kampfe um die Freiheit zieht, während Hauptmann um einer ästhetischen Schrulle willen ein gewaltiges Stück deutscher Geschichte traurig verhunzt.

Nach Schienthers Erzählung ist Hauptmann zum „Florian Geyer" durch Zimmermanns Geschichtswerk in der Bearbeitung von Blos angeregt worden. Lässt man nun alle sonstige „Tiefgründigkeit" wohlwollend auf sich beruhen, und nimmt man an, dass Hauptmann nur jenes, von vielen tausend Arbeitern verstandene Werk aufmerksam gelesen hat, so ist dennoch schwer zu begreifen, wie er so gänzlich hat danebenhauen können. Jedoch löst sich das Rätsel einigermaßen, wenn man liest, was Schienther, Hauptmanns dramaturgischer Mentor, über den historischen Florian Geyer erforscht hat. Nachdem Schienther schon vorher „Bismarcks Realpolitik" als die erste Wurzel des modernen Naturalismus aufgedeckt hat, sagt er über Florian: „Hätte ein Geyer vor dreißig Jahren mit dem preußischen Abgeordnetenhause im Militärkonflikt gelegen, so hätte der treue und gewissenhafte Rechtsfreund die Verfassung nicht gebrochen. Er hätte keiner Indemnität bedurft, aber auch kein Königgrätz, Sedan und Versailles erreicht. Bei Geyer denkt man wehmütig wieder an einen anderen Mitbegründer des neuen Deutschen Reichs, der, um Napoleons gehässiges Wort auf die Deutschen hier liebevoll anzuwenden, ein Ideolog war und doch ein Held des Krieges … Die Zeit bedurfte eines Bismarck, und Geyer war eine Kaiser-Friedrich-Natur, etwa so, wie sie in unserer liberalen Legende fortlebt." Wenn ein Denker des Naturalismus mit solchem Galimathias aufwartet, so darf man an das historische Verständnis seiner Dichter keinen allzu hohen Maßstab legen.

Zum Wesen des modernen Naturalismus gehört diese unglaubliche Beschränktheit seines Gesichtskreises aber durchaus. Die Lessing, Goethe und Schiller meinten, dass ein Dichter der modernen Kulturwelt über ein reiches und vielseitiges Wissen gebieten müsse, und derselben Meinung waren auch die Romantiker; niemand wird den Schlegel und Tieck und Uhland die umfassendsten Kenntnisse abstreiten wollen. Ebenso wenig waren die Platen und Heine, ja selbst die namhaftesten Vertreter des Jungen Deutschlands, wie Gutzkow, ohne die „Bildung ihres Jahrhunderts" denkbar. Man wird überhaupt vergebens nach irgendeiner Dichterschule suchen, die in dieser Beziehung von einer so rührenden Anspruchslosigkeit wäre, die sich so sehr gescheut hätte, drei Schritte vor sich oder um sich oder auch nur hinter sich zu sehen, wie der moderne Naturalismus. Es mag nun auch eine ganz löbliche Vorsicht sein, dass er sich mit seinem gebrechlichen Nachen nicht auf die hohe See hinauswagt, nur sollte er sich dann nicht über den „Idealismus" der Klassiker erhaben fühlen, der das historische Wesen einer vergangenen Zeit wieder zu gebären wusste, auch wenn er sich um die Kinkerlitzchen und Klunkern dieser Zeit nicht mehr bekümmerte, als solchem Krame recht ist.

Vielmehr gerät der moderne Naturalismus auch mit dem getreuen Abkonterfeien der Kinkerlitzchen und Klunkern arg in die Brüche, wenn er nicht das Wesen der Dinge begriffen hat, die er schildern will. Er kommt damit sogar noch unter den Schlitten der epigonenhaft-schulgerechten Jambentragödie, auf die er so stolz herabsieht. Als Gustav Freytag vor vierzig Jahren seine „Fabier" veröffentlichte, sagte ihm die Kritik: Die Anachronismen, deren sich in Shakespeares „Julius Cäsar" so manche finden, hast du ja glücklich vermieden, aber schade, dass du ebenso sorgsam Shakespeares Genie vermieden hast. Es stände gut um Hauptmanns „Florian Geyer", wenn man ihm dasselbe Kompliment machen könnte im Vergleiche mit Schillers „Wallenstein". Was Freytag noch fertigbrachte, bringt Hauptmann nicht mehr fertig; unter den dreihundert Seiten seines historischen Dramas werden sich nicht viele finden, auf denen sich nicht grobe Verstöße gegen das Kostüm der Reformationszeit entdecken lassen, das Wort Kostüm im rein äußerlichen, im Kinkerlitzchen- und Klunkernsinne genommen.

Welch schwerer Missgriff ist es schon, die Personen des Dramas im Chronikenstile, in der Schriftsprache ihrer Zeit sprechen zu lassen, welch doppelt schwerer Missgriff vom Standpunkte des Naturalismus aus, der sich sonst so viel mit seiner „Kunst des Stotterns" weiß und seine modernen Gestalten radebrechen lässt, als spräche heutzutage kein Mensch mehr einen zusammenhängenden Satz! Als ich vor drei Jahren an dieser Stelle mitteilen musste, dass der „Florian Geyer" bei der ersten Aufführung einen gänzlichen Misserfolg gehabt habe, sprach ich die Ansicht aus, dass sich beim behaglichen Lesen des Dramas unter der Lupe viele Einzelschönheiten würden entdecken lassen2; nachdem ich die Lupe angewandt habe, muss ich nunmehr gestehen, dass ich damals meine Pappenheimer noch schlecht gekannt und dem endlosen Gegacker der Clique über die „peinliche Gewissenhaftigkeit" der von Hauptmann gemachten „Spezialstudien" ein ungerechtfertigtes Vertrauen entgegengebracht habe. Es mag hingehen, wenn Hauptmann die Schimpfrede Luthers, den Bauern müssten die Eselsohren mit Büchsensteinen aufgeknäufelt werden, der Burgfrau von Rimpar als eigene Weisheit in den Mund legt; weshalb sollten nicht einmal eine wütende Megäre und ein wütender Pfaff auf dieselbe Rohheit verfallen? Aber wenn ein bäurischer Fanatiker den von Melanchthon dem braven Müntzer nachgelogenen Schwindel vom Auffangen der Büchsenkugeln im Ärmel allen Ernstes ausspricht, so ist das gerade so, als wenn ein Dramatiker nach einigen hundert Jahren einen heutigen Sozialdemokraten sagen ließe, es müsse „geteilt" werden. Nicht minder arg ist es, wenn Hauptmann einen Bürger der Stadt Rothenburg Worte sprechen lässt, die nur im Munde eines Bauern einen historischen Sinn haben. Von dem eng und weit verzweigten Geäder der damaligen sozialen Verwicklungen, das sich in Schweichels Roman vollkommen klar übersehen lässt, hat Hauptmann eben nichts verstanden als den Gegensatz zwischen Bauern und Rittern und den auch nur, wie Florians Gerede über Hutten und Sickingen zeigt, in den allgemeinsten und verschwimmendsten Umrissen.

Seiner praktischen Klugheit macht es nun aber wieder alle Ehre, dass er sich nach dem Misserfolge des „Florian Geyer" weiter keinen Illusionen hingab. Auch lag es dem eklektischen Wesen seines Talents durchaus nicht so fern, dass er sich kopfüber in die Romantik stürzte; hatte er doch schon vor dem „Florian Geyer" mit dem „Hannele" einen kleinen Abstecher ins Romantische gemacht! An dieser „Traumdichtung" war nichts epochemachend, als dass sie nach der Behauptung der naturalistischen Ästhetik epochemachend sein sollte. Wenn Duboc das „Hannele" ein „schauerliches Rührstück" nennt, Bartels es eben noch als Weihnachtsfestspiel gelten lassen will, ein dritter bürgerlicher Kritiker darin eine „unsympathische Mischung von Kirche und Theater, von Pathologie und seraphischer Entzückung" erblickt, so ist mit alledem, in herberer oder milderer Form, die Ansicht ausgesprochen, dass dergleichen „Traumdichtungen" überhaupt nicht ins Reich der dramatischen Kunst gehören, und diese Ansicht hat sich bis zum Erscheinen des „Hannele" in aller Ästhetik einer seltenen Einstimmigkeit zu erfreuen gehabt. Indem Hauptmann das in Fieberphantasien erlöschende letzte Todesröcheln eines armen, von einem viehischen Säufer in den Tod gejagten Kindes dramatisierte, erklomm er zwar einen Gipfel dieser Afterkunst, aber er machte sie dadurch keineswegs zu einer wirklichen Kunst, wie seine Bewunderer mit einem kleinen Denkfehler folgern. Einen ästhetischen Maßstab gibt es für solche durch und durch unkünstlerischen Effektstücke überhaupt nicht, da jeder objektive Bestimmungsgrund des Geschmacks fehlt und somit der subjektive Geschmack den uneingeschränktesten Spielraum hat. Wenn ich mit Duboc das „Hannele" ein „schauerliches Rührstück" nenne, Steiger aber „bewunderungswürdige Kunst" und eine „glänzende Bewährung von Hauptmanns vielgerühmtem Wirklichkeitssinn" darin findet, so lässt sich weder über seinen noch meinen Geschmack streiten; wir müssen uns friedlich-schiedlich auseinandersetzen mit dem freimütigen Geständnis, dass wir Barbaren füreinander seien.

Eher als über „Hannele" ist über die „Versunkene Glocke", die Hauptmann dem „Florian Geyer" folgen ließ, ein ästhetisches Urteil möglich. Hier kann der urkundliche Nachweis geführt werden, und Bartels wie Woerner haben ihn schon zum guten Teile geführt, dass dies Märchendrama aus hundertundein literarischen Reminiszenzen zusammengeklaubt und in bombastisch überladenen, dabei jedoch prosaisch-nüchternen Jamben geschmiedet sei. Ohne Zweifel finden sich einzelne wahre Akzente darin; wenn der Glockengießer Heinrich klagt, dass seine Glocken im Tale klängen, aber nicht auf den Höhen, so ist damit ein ganz treffendes Bild von Hauptmanns eigener Kunst gegeben. Aber als Ganzes ist die „Versunkene Glocke" ein Schulexerzitium der Romantik, und nicht einmal der kräftigen Romantik, wie sie ein Uhland oder ein Kleist vertraten, sondern der epigonenhaften, faden, süßlichen Romantik, im Stile etwa eines Fouqué oder gar eines Redwitz. Man könnte sagen, wenigstens fehle ihr die Frömmelei eines Redwitz, aber Woerner bemerkt ganz richtig, ihre freisinnige Tendenz zeige einige ähnliche Eigenschaften wie die oft so seltsame Religiosität der Romantiker, nämlich Unklarheit und Verschwommenheit bei großer Aufdringlichkeit und einen fühlbaren Mangel an wirklicher Willensstärke. Überhaupt ist, was Bartels und Woerner über die „Versunkene Glocke" sagen, recht lesenswert; ohne unbillig gegen den Dichter zu sein, sind sie doch nicht unehrlich in ihrer Kritik.

Dagegen möchte man den Oberpriestern der naturalistischen Ästhetik, die in der „Versunkenen Glocke" eine konsequente Fortentwicklung ihres großen Prinzips feiern, die verzweifelte Frage vorlegen: Seid ihr ernsthafte Leute, oder was wollt ihr sonst sein? Mag nun das naturalistische Prinzip richtig sein oder nicht, so viel sieht doch jeder Mensch mit fünf gesunden Sinnen, dass, an ihm gemessen, die „Versunkene Glocke" rettungslos zusammenbricht. Nicht für den Künstler, sondern für den Praktiker Hauptmann ist dies Märchendrama ein großer Fortschritt geworden. In den „Webern" war er an die Grenze dessen gestoßen, was sich die hohen Behörden und das verehrliche Publikum bieten ließen, im „Florian Geyer" aber an die Grenze seines künstlerischen Vermögens; so trat er in der „Versunkenen Glocke" einen wohlgeordneten Rückzug oder, wie man im Hinblick auf seine eklektischen Neigungen vielleicht richtiger und zugleich milder sagen muss, einen wohlüberlegten Flankenmarsch an, der ihn nun auch wirklich zum Herrscher der Luxusbühne, zum Lieblinge der Bourgeoisie gemacht hat. Das soll ihm alles von Herzen gegönnt sein; „Dichter lieben nicht zu schweigen, wollen sich der Menge zeigen", sagt schon der kleine Johann Wolfgang in prophetischer Ahnung des großen Gerhart; nichts liegt mir ferner, als hier den „Moralprediger" zu spielen. Nur so viel möchte ich behaupten, dass wer – allerdings im Einverständnis mit dem „Moraltrompeter von Säckingen" – die Kunst nicht als milchende Kuh, sondern als hohe Göttin bewundert, sich nicht just jeden Kreuz- und Quersprung Hauptmanns nach großen Bühnenerfolgen als neue Kunstoffenbarung aufreden zu lassen braucht.

Um noch einen Blick auf Hauptmanns beide Komödien zu werfen, so treten in ihnen seine Vorzüge und Schwächen gleichsam wie Pol und Gegenpol auseinander. Im „Biberpelze" hat er eine Höhe erreicht wie sonst nur in den „Webern"; er gibt ein farbiges und ganz prächtiges Bild einer etwas beschränkten und engen, aber doch immer bedeutsamen Wirklichkeit; alle Figuren, höchstens mit Ausnahme des Doktor Fleischer, in dem Hauptmann sich selbst porträtiert hat, sind künstlerisch lebendig, Individuum und Gattung zugleich. Wenn Bartels und Woerner meinen, die Dummheit des Amtsvorstehers v. Wehrhahn sei doch karikierend übertrieben, so sind sie nicht von ästhetischen Bedenken, sondern von patriotischen Beklemmungen geplagt; hätten sie je mit der politischen Polizei in Ostelbien zu schaffen gehabt, so würden sie anerkennen, dass die v. Tausch der Wirklichkeit womöglich noch dümmer, aber lange nicht so ergötzlich seien, wie die v. Wehrhahn der Komödie; nicht karikiert, sondern idealisiert hat Hauptmann diesen kostbaren Dummkopf, und zwar so wie der Künstler idealisieren muss. Auch ist es unrichtig, Kleists „Zerbrochenen Krug" als „Patenstück" des „Biberpelzes" anzusprechen; es ist nicht mehr da als eine gewisse entfernte Ähnlichkeit, die sich schließlich zwischen allen möglichen Komödien in dieser oder jener Beziehung heraus spintisieren lässt. Der „quellenreiche Strom unendlicher Erfindung", der keineswegs Hauptmanns starke Seite ist, sprudelt im „Biberpelz" stärker als sonst bei ihm, und der „unbefriedigende" Schluss der Komödie ehrt ebenso die künstlerische Aufrichtigkeit wie das künstlerische Verständnis des Dichters.

Um das zu erkennen, braucht man nur den „befriedigenden" Schluss der anderen Komödie Hauptmanns, des „Kollegen Crampton", ins Auge zu fassen, wo ein Gewohnheitstrinker im Handumdrehen gerettet wird. Auch sonst zeigt der „Kollege Crampton" die Schwächen des Dichters so ausschließlich, wie der „Biberpelz" seine Stärken. Der „Kollege Crampton" hat ein „Patenstück": Schienther erzählt, dass Hauptmann, als er Molières „Geizigen" in einem Berliner Theater gesehen hatte, sofort entschlossen gewesen sei, etwas ähnliches zu schaffen. Molière hat nun auch nach einem Vorbild gearbeitet, nach der „Aulularia" des Plautus, aber so wie Goethe nach dem Vorbild Homers und Shakespeares, als genialer Poet: sein „Geiziger" wäre im römischen Altertum so unmöglich gewesen wie heute: er ist die lebenstrotzende Gestalt des Kapitalisten aus der Zeit, wo das „Sparen" ein wirksamer Hebel der kapitalistischen Akkumulation war. An Molières Helden lässt sich eine ganze große Periode der kapitalistischen Produktionsweise studieren. Gewiss nicht, weil Molière darauf ausgegangen wäre, aber er hat mit dem tiefen Blicke des großen Dichters die Welt angeschaut, worin er lebte. Indem Hauptmann ihn nun nachzuahmen versucht, verfehlt er wieder den entscheidenden Punkt; er schildert einen bedeutenden Künstler als ganz gemeinen Trunkenbold. Der Fall ist im wirklichen Leben gewiss möglich, und Hauptmann hat nach einem lebenden Modell gearbeitet, aber so wenig die Trunksucht etwa nur ein Laster der „unteren Volksschichten" ist, so sehr ist es ein krankhafter Ausnahmefall, dass ein geistig hochstehender Mann, gemäß der Auffassung Hauptmanns, sich in der Gosse wälzt.

Nun aber weiter! Nachdem Molière seine klassisch-lebendige Gestalt auf die Beine gestellt hat, tauft er sie gleichmütig Harpagon, mit dem alten römischen Komödiennamen, einem ganz abstrakten Gattungsnamen: harpago ist eine Art Enterhaken, den Plautus bildlich auf einen habgierigen Menschen übertragen hat. Hauptmann aber nennt seinen Helden, da sein Modell zufällig einen englischen Namen trägt, nicht Kollege Müller oder Kollege Schulze, sondern Kollege Crampton. Will man einmal den Unterschied zwischen dem schöpferischen Dichter und dem ängstlich klaubenden Epigonen mit Händen greifen, hier greift man ihn. In engeren Kreisen ist Hauptmann oft getadelt worden, weil er aus fanatischem Naturalismus nicht vor dieser durchsichtigen Anspielung auf einen Mann zurückgeschreckt ist, dem er eine entscheidende Förderung auf seinem Lebenswege zu danken hatte. Aber Schienther meint, dass eine solche Großtat des Naturalismus gar nicht genug bewundert werden könne, und so raunt dieser ebenso takt- wie geistvolle Denker seinen Lesern auch noch den wirklichen Namen des „lieben Zechbruders" zu.

In dem Drum und Dran der konventionellen Liebesgeschichte scheinen sich Molières und Hauptmanns Komödien zu gleichen, nur dass die Staffage, was manchen Kritikern sofort auffiel, bei Hauptmann einen pretiöseren und prätentiöseren Eindruck macht. Schienther ist wiederum so gütig, uns darüber aufzuklären; er sagt: „Dieses Werk ist unerschöpflich reich an kleinen feinen Meisterzügen" und – merkt ihr denn nicht, ihr Dummköpfe, dass der reiche Jüngling, der die arme Tochter des Kollegen Crampton heiratet und dies unglückliche Opfer des Alkoholismus wieder in alle Ehren und Reichtümer einsetzt, auf den Namen Strähler hört, den Mädchennamen, den des Dichters Mutter führte? Ach Gott ja, aber wer kann denn gleich allen schwindelnden Tiefen des modernen Naturalismus bis auf den Grund schauen, und um so dankbarer bewundern wir nun die „glänzende Bewährung" des „Wirklichkeitssinns", womit der Dichter sich selbst inszeniert als edlen Knaben mit dem großen Portemonnaie, der arme Mädchen heiratet und unglückliche Lehrer rettet.

Genug, der dramatische Großmeister des modernen Naturalismus besitzt den Pinsel Mings, und wenn es ihm morgen belieben sollte, irgendeine Birchpfeifferiade vom Stapel zu lassen, so würde die naturalistische Ästhetik in die Knie sinken und verzückt stammeln: Herr, wir danken dir, dass uns vergönnt ist, dies bahnbrechende Wunder der Kunst zu schauen!

1 Dr. Bruno Wille, nach Mehrings schroffem Urteil „ein öder Schwätzer des freigemeindlichen Schlages", war einer der literarisch-ästhetischen Wortführer der Neuen Freien Volksbühne sowie des Friedrichshagener Literatenkreises. Zeitweise näherte er sich der Sozialdemokratie. Um 1890 war er einer der Berliner Führer der halbanarchistischen parteifeindlichen Gruppierung der „Jungen".

2 Siehe Mehrings Aufsatz „Gerhart Hauptmanns ,Florian Geyer'".

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