VIII

VIII [Arno Holz''1]

Eine andere Erscheinung als Gerhart Hauptmann, im Dichten und Leben ein ganzer Kerl ist Arno Holz. Er hat in ziemlich fünfzehn Jahren, ewig ringend mit des Lebens nackter Notdurft, verhältnismäßig wenig geschaffen, doch sowohl sein „Buch der Zeit" wie die gemeinsam mit Johannes Schlaf herausgegebenen „Neuen Gleise", eine Sammlung dramatischer und epischer Skizzen, sind die eigentümlichsten, die eigentlich klassischen Leistungen des deutschen Naturalismus. In der Lyrik hat Holz nur einen Ebenbürtigen, Detlev v. Liliencron, der selbst in der schönen Neidlosigkeit des echten Talents den lyrischen Lorbeer der Gegenwart „mit einem Bravo und Hurra aus innerstem Herzen" an Holz gegeben hat. Beide sind „einsame Menschen", vom „Volke der Dichter und Denker" mit eisiger Ruhe zum Hungertode verdammt, aber fröhlich und wohlgemut ihren dornenreichen Lebensweg daher schreitend, „einsame Menschen", nicht wie jener kindische Faselhans in Hauptmanns Schauspiel, sondern wie Friedrich Hebbel, dessen Bitte an die Muse Holz und Liliencron wiederholen könnten:


Du magst mir jeden Kranz versagen,

Wie ihn die hohen Künstler tragen;

Nur dass, wenn ich gestorben bin,

Ein Denkmal sei, dass Kraft und Sinn

Noch nicht zu Wilden und Barbaren

Aus meiner Zeit entwichen waren.


Von Holz liegt ein neues Bändchen Lyrik vor unter dem Titel: Phantasus. Man würde irren, wenn man aus dem Tieckschen Titel schließen wollte, dass Holz darin einen neuen Ritt ins alte romantische Land unternähme. Er will vielmehr „den großen Weg zur Natur zurück" beschreiten, den „seit der Renaissance die Kunst nicht mehr gegangen" sei und „den nach den allerdings noch nicht überall und völlig überwundenen Eklektizismen einer jahrhundertelangen Epigonenzeit endlich breit wieder gefunden zu haben einer der denkwürdigsten Glückszufälle unseres Zeitalters bleiben" werde. Holz will mit dem Grundprinzip der bisherigen Lyrik brechen, von dem er zugibt, dass es seit Jahrtausenden bestehe, „mit dem Streben nach einer gewissen Musik der Worte als Selbstzweck": er will Reim und Rhythmus im bisherigen Sinne beseitigen; der Rhythmus jedes Gedichts soll nur durch das leben, was durch ihn zum Ausdruck ringt; die Worte sollen ihre „ursprünglichen Werte" behalten.

Gegen Reim und Rhythmus sagt Holz: „Brauche ich denselben Reim, den vor mir schon ein anderer gebraucht hat, so streife ich in neun Fällen von zehn denselben Gedanken … So arm ist unsere Sprache an gleich auslautenden Worten, so wenig liegt dies ,Mittel' in ihr ursprünglich, dass man sicher nicht zu viel behauptet, fünfundsiebzig Prozent ihrer sämtlichen Vokabeln waren für diese Technik von vornherein unverwendbar, existierten für sie gar nicht. Ist mir aber ein Ausdruck verwehrt, so ist es mir in der Kunst gleichzeitig mit ihm auch sein reales Äquivalent." Auch die Strophe verurteilt Holz: „Unser Ohr hört heute feiner. Durch jede Strophe, auch durch die schönste, klingt, sobald sie wiederholt wird, ein geheimer Leierkasten." Endlich will er auch nichts von den freien Rhythmen wissen, deren falsches Pathos die Worte um ihre ursprünglichen Werte bringe. „Diese ursprünglichen Werte den Worten aber gerade zu lassen, und die Worte weder aufzupusten noch zu bronzieren oder mit Watte zu umwickeln, ist das ganze Geheimnis." Man sieht also, dass es sich hier um alles andere eher handelt als um eine Wiederaufwärmung der alten Romantik, die gerade „in Tönen denken" wollte, und trotzdem ist der romantische Titel, den Holz seiner neuesten Lyrik gegeben hat, gut gewählt.

Sein Krieg gegen Reim und Rhythmus erinnert an die „Polymeter" Paul Ernsts, die kürzlich von Strubel in der „Neuen Zeit" besprochen worden sind2. Immerhin unterscheidet sich die Begründung bei Ernst und Holz, und zwar so, wie sich ein romantischer Ästhetiker von einem romantischen Poeten unterscheidet. Ernsts Idee, dass der Lyriker nur die formlose Stimmung darzubieten habe, ist eine echt romantische Grille; so auch sagten die Romantiker, die meistens mehr geistreiche Kenner als schaffende Künstler waren, nicht das Können, sondern das „Tichten und Trachten" mache den Künstler; Raffael wäre auch ohne Hände ein großer Maler geworden, und man könne ein Dichter sein, ohne je einen Vers gemacht zu haben. Holz dagegen ist viel zu sehr Dichter, um auf die dichterische Form zu verzichten; er will sie vielmehr aus unwürdigen Fesseln lösen, sie in ihrer vollkommenen Reinheit darstellen, ohne zu bemerken, dass er sie dabei ganz verflüchtigt. So gleicht er jenen romantischen Dichtern, von denen Goethe sagte, sie seien „sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen" und handelten wie Ritter, die ihren Dank außerhalb der Schranken suchten. Goethe selbst hat zwar auch einmal gesagt, das eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde sei dasjenige, was vom Dichter übrigbleibe, wenn er in Prosa übersetzt werde, aber er spricht da nur vom „Anfange jugendlicher Bildung" und unterbreitet in der umständlichen Weise seines Alters „das Vorgesagte unseren würdigen Pädagogen zur Betrachtung", während er sein Poetengewissen zugleich kurz und bündig durch den Satz salviert: „Ich ehre den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird." Damit ist schon alles Nötige über das neue Prinzip der Lyrik gesagt, worauf Ernst und Holz verfallen sind.

Allerdings nach Arno Holz gehört Goethe ja zu der „jahrhundertelangen Epigonenzeit", allein man muss aufrichtig bedauern, dass Holz als Ästhetiker der unausstehlichen Manier der naturalistischen Ästhetik verfallen ist, mit großspurigen Redensarten über Dinge abzusprechen, von denen sie wirklich nichts versteht. Darin ist der bürgerliche Naturalismus sogar der feudalen Romantik bedeutend über, die doch wesentlich bescheidener war, obgleich sie wesentlich mehr wusste. Man braucht bloß „Reim und Rhythmus" in einem Atemzuge verdonnern zu hören, um daran zu zweifeln, ob den Himmelsstürmern, die ein neues Weltalter der poetischen Technik eröffnen wollen, deren bisherige Weltalter überhaupt bekannt sind. Goethe sagt sehr fein, er ehre den Rhythmus wie den Reim, womit er andeutet, dass es dabei auf sehr verschiedene Dinge ankomme, und das wusste sogar Samuel Gotthold Lange, Pastor in Laublingen, dem Lessing das berühmte Vademecum gewidmet hat. In seinen „Horazischen Oden" erklärte er dem Reime, aber nicht dem Rhythmus den Krieg und sang als halber Vorläufer der neuesten Lyrik:


Vom Reim entfesselt, eilt mein sichrer Fuß

Auf Flaccus' Bahn. Ich lache glücklich kühn

Der finstern Klüfte und der steilen Jähe

Und auch des rasenden Geschreis der Reimer.


Holz meint, ursprünglich habe das „Mittel" der gleich auslautenden Worte gar nicht in der deutschen Sprache gelegen. Das ist auch ganz richtig; ursprünglich hatte die deutsche Dichtung den Stabreim, den Wilhelm Jordan und Richard Wagner zwar ohne Glück, aber, wenn auf das „Ursprüngliche" zurückgegangen werden soll, mit vollkommener Konsequenz zu erneuern versucht haben. Dann wich der Stabreim dem romanischen Reime, der, aus der Verkünstelung des leoninischen Verses durch Zerbrechung seines metrischen Stockes entstanden, das Reimpaar und die lyrische Strophe gebar. Xanthippus-Sandvoß sagt darüber: „Das war Schade und Vorteil zugleich, aber der Vorteil überwog, solange der deutsche Vers sich auf die Hebungen beschränkte, auf sie und auf die bald fehlenden, bald vorhandenen Senkungen die freie musikalische Fülle fünffach abgestufter Töne verteilte, die ihrerseits nicht starr, sondern gleichsam flüssig über Hebung und Senkung dahin tanzten." So entstand der mannigfach bewegte Vers unserer mittelhochdeutschen Dichtung, worin nach einer treffenden Unterscheidung, die Goethe einmal macht, das musikalische Element der Sprache weitaus das rhythmische Element überwog. Ganz im Gegensatze zu Holz, der mit der Opferung des Rhythmus wieder an die Natur der Renaissance anknüpfen will, sagt ein wohlunterrichteter Germanist, wie Xanthippus-Sandvoß: „Die jetzt allgemeine Täuschung, es gebe in unserer Sprache Jamben, Trochäen, Daktylen, Anapäste und wie das metrische Zeug sonst heißt, vermochte erst spät Einfluss zu gewinnen, eigentlich erst durch die Italiener der Renaissance und die ihnen nachahmenden Deutschen, voran Tscherning und Opitz." Mit Klopstock gewann das rhythmische Prinzip der Silbenmessung die Oberhand, obgleich Goethe, ein unvergleichlich großer Sprachschöpfer und Sprachmeister, sich gegen die „zugemessenen Rhythmen" als gegen „hohle Masken ohne Blut und Sinn" sträubte und immer mit dem alten Reimvers auf vertrautem Fuße blieb; wie wunderbar hat er ihn im „Faust" gehandhabt, dem größten Denkmal seines Weltruhms!

Man mag die historische Entwicklung unserer dichterischen Technik, die hier nur in allgemeinsten Umrissen angedeutet werden konnte, unnatürlich nennen, indem man etwa sagt, dass der „natürliche Genius" der deutschen Sprache unzweifelhaft zweimal vergewaltigt worden sei. Das wäre auch ganz einleuchtend, wenn nur mit Begriffen, wie natürlich und unnatürlich, in historischen Dingen etwas bewiesen oder widerlegt werden könnte. Die historische Entwicklung einer Sprache und ihrer dichterischen Technik hängt mit der gesamten nationalen Entwicklung unlöslich zusammen; dabei wirken eherne Gesetze, von denen man wohl nachweisen kann, weshalb sie sich so vollzogen haben, aber nicht, wie sie sich anders hätten vollziehen können. Die Silbenmessung, wie sie sich seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, namentlich aber mit der klassischen Literatur in die deutsche Sprache einbürgerte, widersprach durchaus ihrem „natürlichen Genius", will sagen, ihrer bisherigen historischen Entwicklung, aber sie ist ein gewaltiger Hebel der deutschen und mittelbar auch der europäischen Kultur geworden. Mit ihr steht und fällt unsere klassische Literatur, deren Bedeutung für das moderne Geistesleben bis auf die glorreichen Tage der naturalistischen Ästhetik noch von keinem vernünftigen Menschen bestritten worden ist. Was die deutsche Sprache dem rhythmischen Prinzip an Feinheit und Geschmeidigkeit, an Fülle und Kraft verdankt, ist überhaupt gar nicht zu ermessen; nannte doch selbst Hebbel, den die modernen Naturalisten ja so halbwegs anerkennen, den Hexameter den „deutschesten" Vers.

Auf der anderen Seite ist dieser große Gewinn nicht ohne große Verluste erreicht worden. Wenn Platen einmal von der englischen Sprache singt:


Kein voller Akzent, und ein Sprachwirrwarr, und stets einsilbige Wörtlein,

Nie könnt' ich damit anapästischen Schwung in die raschen Tetrameter zaubern,


so kann man in gewissem Sinne wohl sagen, dass der „anapästische Schwung der raschen Tetrameter" ein verteufelt kostspieliger Luxus gewesen sei. Hätten ihre ökonomischen Lebensbedingungen den Deutschen gestattet, sich so früh wie die Engländer und die Franzosen zu einem nationalen Körper zusammenzuschließen, so hätte sich die deutsche Sprache auch schon früh gegen fremde Kultureinflüsse abgeschlossen, so wäre sie niemals die klassische Übersetzersprache geworden. Über diesen inneren Zusammenhang schrieb A. W. Schlegel, der unter unseren meisterhaften Übersetzern mit in erster Reihe steht, einmal folgenden Dialog nieder:

Franzose: Die Deutschen sind Allerweltsübersetzer. Wir übersetzen entweder gar nicht oder nach unserem Geschmack. Deutscher: Das heißt, ihr paraphrasiert und travestiert. Franzose: Wir betrachten einen ausländischen Schriftsteller wie einen Fremden in der Gesellschaft, der sich nach unserer Sitte kleiden und betragen muss, wenn er gefallen soll. Deutscher: Welche Beschränkung ist es, sich nur Einheimisches gefallen zu lassen! Franzose: Die Wirkung der Eigentümlichkeit und der Bildung. Hellenisierten die Griechen nicht auch alles? Deutscher: Bei euch eine Wirkung einseitiger Eigentümlichkeit und konventioneller Bildung. Uns ist aber Bildsamkeit eigentümliche Poesie.

So scheint der Deutsche den letzten Trumpf auszuspielen, aber Schlegel fügt hinzu: „Hüte dich, Deutscher, diese schöne Eigentümlichkeit zu übertreiben. Grenzenlose Bildsamkeit wäre Charakterlosigkeit." Dies Haupt der romantischen Ästhetik verriet eine Einsicht in die historischen Zusammenhänge zwischen der poetischen Technik und der nationalen Entwicklung, die der naturalistischen Ästhetik ganz abhanden gekommen zu sein scheint.

Jede poetische Technik ist eng mit den gesamten Lebensverhältnissen der Nation verflochten, worin sie herrscht; sie kann sowenig aufdekretiert wie wegdekretiert werden; sie entsteht und verfällt mit dem historischen Wechsel der Dinge. So ist es dem altdeutschen Stabreime, so dem mittelhochdeutschen Reimverse geschehen; die Lyrik der Minnesänger ertrank in der Überfülle der Formen und entartete in geschmacklose Künstelei, ganz wie es einst der skaldischen Stabreimdichtung gegangen war. Ein gleiches Schicksal ist nun auch oft dem rhythmischen Prinzip unserer klassischen Literatur prophezeit worden; schon die Romantiker haben dagegen rebelliert, ohne doch mit ihren zahllosen Versuchen einer neuen poetischen Technik mehr als verschollene Fingerübungen zu liefern; was von der romantischen Dichtung lebendig geblieben ist, Kleists Dramen, Schlegels Shakespeare, Uhlands Gedichte, bewegt sich durchaus in den Geleisen der klassischen Technik; höchstens dass Uhland sie, nicht mit Goethes genialem Griffe, jedoch mit kluger Überlegung und mit künstlerischem Takte, durch Anklänge an die mittelhochdeutsche Dichtung dämpfte und mäßigte. Als dann aber die Romantik unter dem wieder erwachten Selbstbewusstsein der bürgerlichen Klasse zusammenbrach, kam in der Lyrik der Platen, Heine, Herwegh, Freiligrath, Prutz, Geibel die poetische Technik der klassischen Literatur zu neuer Blüte, wobei Heine, mehr mit Goethes lyrischem Instinkte als mit Uhlands methodischer Behutsamkeit, aus dem im Volksliede niemals völlig versiegten Borne des alten Reimverses zu schöpfen wusste.

In dieser modernen Lyrik wurde das rhythmische Prinzip sogar strenger durchgeführt als zur Zeit der Klassiker; es braucht nur an Platens pindarische Maße, an Freiligraths Wiederbelebung des Alexandriners erinnert zu werden, den die Lessing, Goethe und Schiller doch so entschieden abgelehnt hatten. Gerade hieraus ist das „Epigonentum" dieser Lyrik oft gefolgert worden, und hieraus auch nicht ganz mit Unrecht. Wie töricht immer die Konrektorenweisheit von dem „Epigonentum" der Platen und Heine, der Herwegh und Freiligrath schwatzte, weil diese Dichter das angeblich „Allgemein-Menschliche" der Klassiker verlassen hätten, um sich in den „Frondienst vergänglicher Tageserscheinungen" zu begeben, so ließ sich eher auf sie oder doch manche von ihnen anwenden, was Goethe einmal über die „Reinlichkeit" des „Dilettanten" gesagt hat, über die „Akkuratesse und alle letzten Bedingungen der Form", die ebenso gut die Unform begleiten könnten. Trotzdem kann man auch noch heute nicht sagen, dass sich diese poetische Technik ganz überlebt habe; mindestens ein sehr beweiskräftiges Zeugnis gibt es für ihre noch vorhandene Lebensfähigkeit, und das ist die frühere Lyrik des Dichters Holz, die den heutigen Ästhetiker Holz mit aller wünschenswerten Gründlichkeit widerlegt. Im „Buche der Zeit" erweist sich Holz als ein Meister des Reims und des Rhythmus im bisherigen Sinne und dabei doch als ein durchaus origineller Lyriker; dabei ist noch zu beachten, dass er sich an Rhythmikern wie Geibel und Schack herangebildet hat, von denen Schack das rhythmische Prinzip so fanatisch übertrieb, dass er die Sangbarkeit des Liedes geradezu für den Ruin aller lyrischen Kunst erklärte.

Nun kann man freilich sagen, dass eine oder auch ein paar Schwalben noch keinen Sommer machen, dass die poetische Technik, die von den Klassikern vererbt sei, unheilbare Spuren des Verfalls zeige, dass sie unaufhaltsam verwittere wie das Bürgertum, mit dessen historischem Aufschwung und Verfalle sie unzertrennlich verflochten sei. Etwas Wahres ist schon an dem, was Holz über den „geheimen Leierkasten" sagt: das „Ausgeleierte" dieser Technik ist ein verhängnisvolles Zeichen von Greisenhaftigkeit. Sagten die romantischen Ästhetiker sehr mit Unrecht, dass man ein Dichter sein könne, ohne je einen Vers gemacht zu haben, so lässt sich heute mit allzu großem Rechte sagen, dass unzählige Leute Verse und sogar ganz leidliche Verse machen können, ohne dass sie deshalb den Anspruch erheben dürften, Dichter zu sein. Nur hüte man sich, das Kind mit dem Bade zu verschütten! Xanthippus-Sandvoß schreibt sehr richtig: „Verse sind keine Gedichte; man kann sehr schöne Verse machen und braucht eben gar kein Dichter zu sein, aber man kann kein Dichter sein, ohne in Kraft des künstlerischen Instinkts und unermüdlich ringenden Bildens, wenn nicht zur Einsicht (das wäre Sache der Wissenschaft), so doch zur Übung des schönen Verses zu gelangen." Er will auch dem Verfalle der poetischen Technik steuern, den „Mehltau der lateinischen Silbenmessung" abstreifen, „freie Bahn" schaffen für die auf Betonung, nicht auf Zeitmessung beruhenden Verse, aber er begnügt sich, auf die Wege eines Goethe und eines Uhland zu verweisen; die lyrische Größe des „frivolen Juden" Heine zu erkennen, hindern ihn seine antisemitischen Scheuklappen. Mit solchen Ratschlägen ist es ein eigen Ding: sie brauchen nicht gegeben zu werden, wenn die Goethe und Uhland und Heine da sind, und wenn sie gegeben werden müssen, pflegen die Goethe und Uhland und Heine nicht dazu sein: immerhin zeigt Xanthippus-Sandvoß die Vor- und Umsicht eines Mannes, der mit den historischen Entwicklungsgesetzen der Sprache vertraut ist. Dagegen ist es sehr unhistorisch und ganz phantastisch, aus souveräner Machtvollkommenheit ein neues Weltalter der Lyrik verkünden zu wollen. Das läuft auf die reine Formspielerei hinaus – trotz oder auch wegen des angeblich radikalen Bruches mit allen überlieferten Formen der Lyrik.

Trotz oder auch wegen – denn die ganze, so anspruchsvoll auftretende Theorie der Holz und Ernst ist nicht einmal so neu, geschweige denn so wahr, wie sie sein soll. Um nur unsere größten Lyriker zu erwähnen, so haben Goethe und Heine manches Mal auf Reim und Rhythmus im bisherigen Sinne verzichtet; ja sogar als revolutionierendes Prinzip der Lyrik, als Grundlage einer neuen amerikanischen Kunst ist jene Theorie schon vor vierzig Jahren von Walt Whitman angerufen worden. Jedoch wussten sich die Goethe und Heine zu sagen, dass, wenn der Rhythmus nur durch das leben soll, was in ihm zum Ausdrucke ringt, dies Ringende danach sein muss; sie haben nur dann darauf verzichtet, die lyrische Stimmung durch Reim und Rhythmus künstlerisch zu binden, wenn diese Stimmung von einer gewissen schweren Wucht war, die sicher in sich selbst beruhte. Man vergleiche Goethes „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst" oder „Wunderlichstes Buch der Bücher ist das Buch der Liebe" und Heines „Hoch am Himmel stand die Sonne, von weißen Wolken umwogt" oder „Thalatta! Thalatta! Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer!" und Walt Whitmans „Jahr in Waffen, Jahr du des Kampfes! Keine süßlichen Reime, keine schmachtenden Verse für dich, schreckliches Jahr!" – man vergleiche das alles mit Arno Holzens „Ich liege noch im Bett und habe eben Kaffee getrunken" oder „Im Tiergarten, auf einer Bank, sitz' ich und rauche", und man wird den klaffenden Unterschied sofort erkennen. Eben weil diese sogenannte Umwälzung der Lyrik nur eine Formspielerei ist, erweitert und vertieft sie den lyrischen Gesichtskreis nicht, sondern verschnürt und verschnörkelt ihn. Vergleicht man auch nur Holz mit Holz, so brandet im „Buche der Zeit" die Hochflut des modernen Lebens durch die angeblich ganz versandeten Kanäle des Reims und des Rhythmus, während im „Phantasus" das meiste ins Kleine, Niedliche, Zierliche und selbst Spielerische gerät.

Doch ist der „Phantasus" immer die Schöpfung eines Dichters. Holz hat sich auch sehr gehütet, das zierliche Bändchen mit seinem ästhetischen Krame zu belasten; den hat er in eine Katakombe des literarischen, politischen und sozialen Verfalls abgeschoben, in die „Zukunft", wo er mit dem übrigen vermodern mag. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der fünfzig Gedichte, die Holz im „Phantasus" gesammelt hat, ist gleichwohl wert, in seiner Lebensernte mitgezählt zu werden. Überhaupt entspringt die kritische Abweisung seiner ästhetischen Theorien, die hier unternommen werden musste, nur der aufrichtigsten Sympathie für den Dichter und den Mann; sie hat nicht den entferntesten Anteil an jenem elenden Cliquentreiben, das den Dichter Hauptmann über alles Maß hinaufzuschrauben sucht, um den Dichter Holz unter alles Maß hinunter zu schrauben. Gewiss ist Holz kein feiner Kompromissler; er hat die, wie Schienther mit ernster Rüge sagt, „gefährliche, nahezu selbstmörderische Neigung", einen „gescheiten Gedanken" bis zur Superklugheit fortzutreiben und ihn schließlich im „Aberwitze, dem letzten Ziele aller Einseitigkeit, verstocken" zu lassen. Ach ja, dieser schreckliche „Aberwitz" der „Einseitigkeit"! Dieser unglückliche Holz, der den Naturalismus für einen „gescheiten Gedanken" hält und sich daran klammert, statt hin und her zu hopsen, um ein Liebling der „vielseitigen" Clique zu werden! Sollte Holz wirklich, wie Bartels meint, von den „literarischen Wortführern" als komische Person betrachtet werden, so würde man diesen „literarischen Wortführern" eine unverdiente Ehre erweisen, wenn man sie selbst nur als komische Personen taxieren wollte. In Wirklichkeit ist der Fall Holz ein tragischer Fall: ein großes und reiches Talent „vermisst" sich, aus eigener Kraft das Schicksal zu bändigen, das über seine Klasse den rettungslosen Verfall verhängt. Im letzten Gedichte des „Phantasus" fragt Holz:


Eine schluchzende Sehnsucht mein Frühling,

Ein heißes Ringen mein Sommer -

Wie wird mein Herbst sein?

Ein spätes Garbengold?

Ein Nebelsee?


Die Kritik, die diesen aufrechten Dichter gerecht zu beurteilen sucht, die sein „heißes Ringen" ehrt und liebt, kann darauf sowenig antworten wie der Dichter selbst; sie vermag nur warnende Signale aufzustecken an den Wegen, die in den Nebel führen.

Das abschreckendste Signal aber wird hoffentlich für den Dichter die Nachfolge, die er gefunden hat. Georg Stolzenberg, der seinen Gedichtband „Neues Leben" seinem Vorbilde Holz gewidmet hat, versetzt dem neuen lyrischen Prinzip einen vernichtenden Streich. Gleich das zweite

Gedicht lautet:


Heut früh sang ich drei Liebeslieder

über den schmelzenden Schnee

in die weiche Luft.

Mittags war ich so hungrig;

fast fielen mir die Träume in die Erbsen.

Ich stopfte.

Jetzt scheint der Mond.

Aus meinem Herzen

schreien dreihundert Kater.


Das ist die unverfälschte Bierzeitung, und so geht es durch das Bändchen fort, nicht immer ganz so „stimmungsvoll", aber selten viel genießbarer. Da bekommt man doch einen gewissen Respekt vor jenen altfränkischen Leuten, die an der alten poetischen Technik, abgeleiert wie sie sein mag, deshalb festhalten wollen, weil sie einen gewissen Schutz gegen den allzu blutigen Dilettantismus gewähre.

Eine erste Talentprobe ist Erich Schlaikjers „Schönheitswanderer", eine Sammlung von Novellen und Skizzen, deren eine – Berliner Tage – zuerst an dieser Stelle veröffentlicht worden ist. Wie als Novellist, so ist Schlaikjer auch als Kritiker den Lesern der „Neuen Zeit" kein Unbekannter mehr. Der Titel der Sammlung ist der letzten Novelle entnommen, wo Schlaikjer so etwas wie ein Selbstbekenntnis ablegt: der Wanderer, der die Schönheit zu suchen auszieht, findet den harten Männerkampf und die unerbittliche Arbeit, über der erst wie ein matter roter Schimmer der festliche Kerzenglanz liegt, den die Schönheit einst den Beladenen anzünden wird. Auch Schlaikjer hat der pessimistischen Schwachheit des modernen Naturalismus wohl einmal gehuldigt, aber der frische, kräftige, sonnige Zug seines Talents und Temperaments reißt sich durch: an der deutsch-skandinavischen Grenzscheide geboren, wendet sich der Dichter von dem imposanten und weiten, aber mit düsterem Schwarz ausgeschlagenen Saale der Ibsenschen Dichtung zu dem Feste des Lebens, das ihm die mächtige Halle der Schillerschen Dramatik eröffnet. Er sagt so schön wie wahr: „Der Idealismus Schillers, den gewisse Moderne als schwach-köpfige Beschränktheit begrinsen, konnte festliche Kerzen entzünden, weil in ihm der Glaube war, der Glaube des Aufwärtssteigenden. Wir aber steigen schweigend abwärts. Wir tragen eine tote Zeit zu Grabe. Und erst den stummen Hügel erklettert der rosenfingerige Morgen." In einer heiteren Humoreske verspottet Schlaikjer die Temperenzlerschrullen, die sich als allerneuester Sozialismus gebärden möchten, und in dem einleitenden Gedichte preist er mit herzhaftem Worte, was ein braves und gescheites Weib dem Kämpfer unserer Tage sein kann, auch hier in erfrischendem Gegensatze zu dem weinerlichen Dusel des „dreieckigen Verhältnisses", das ästhetisch und historisch nicht minder rückständig ist als die dumpfe und schläfrige Ehe des Philisters.

1 Um diesen Teil der „Ästhetischen Streifzüge" entspann sich in der „Neuen Zeit" eine längere Diskussion, in die Mehring jedoch nicht direkt eingriff. Siehe dazu Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band: Arno Holz: „Meine" neue Lyrik, S. 16-22. Max Bruns: Ein Wort zu Holzens neuer Form, S. 174-177. Arno Holz: Noch einmal „meine" neue Lyrik, S. 494-498. Holz hat das Wesen der Kritik, die Mehring, in tiefer Sorge um Holz' großes Talent, an ihm übte, nicht im Mindesten verstanden. Auf Mehrings Kritik an seiner „neuen Lyrik" antwortete er tief enttäuscht: „Und so drollig das auch ist, aber gerade derjenige von unseren Historikern, der dieses neue Prinzip als solches vor allen hätte zuerst erkennen sollen, der ihm Ehrenpforten bauen und ihm seine Sätze entgegenschicken sollte wie weißgekleidete Jungfrauen, bekämpft es! … Das sind die kleinen Witze, die sich mit uns armen Würmern die Weltgeschichte erlaubt." (Ebenda, S. 18.)

2 Mehring meint Heinrich Ströbels Aufsatz „Eine Umwälzung der Lyrik?" (In: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Zweiter Band, S. 561-568.)

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