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X [Naturalismus und proletarischer Klassenkampf]

Jede gründliche Prüfung des modernen Naturalismus führt auf die feudale Romantik zurück; das haben Bartels und Woerner in ihren Schriften erfahren wie ich in diesen Untersuchungen, ja auch Steigers ehrlicher Enthusiasmus muss dahin zurückschwenken.

Als kluger Feldherr sucht er sich im Voraus zu decken, indem er sagt, die vielgeschmähte Romantik habe doch auch ihre großen ästhetischen Verdienste gehabt. Das gebe ich nicht nur zu, sondern ich erkenne auch an, dass in gewissem Sinne eine Ehrenrettung der Romantik ein durchaus nützliches Werk sein würde. Der Rückstoß des feudalen Ostens auf den bürgerlichen Westen war eine große historische Bewegung, die nicht mit einigen Schlagworten abgetan werden kann. Aber woher kommt es, dass die Romantik in so tiefem Schatten steht, woher kommt die Sitte oder meinetwegen auch Unsitte, über sie mit einigen verächtlichen Redensarten abzusprechen? Einfach daher, dass – um nur von Deutschland zu sprechen – seit der Mitte der zwanziger Jahre alle guten Köpfe den heftigsten, rücksichts- und schonungslosesten Kampf gegen die Romantik geführt haben und dass diesem Kampfe alle historischen Fortschritte des deutschen Geisteslebens zu danken sind.

So gut wie die feudale Romantik ihre historische Existenzberechtigung hatte, so gut hat sie auch der bürgerliche Naturalismus. Nicht darum streite ich mit Steiger, sondern nur darum, in welcher historischen Perspektive er steht. Sagt man: der moderne Naturalismus war ein neuer Aufschwung der bürgerlichen Literatur, ein kräftiger Aufstieg aus dem Sumpfe, worin diese Literatur während der siebziger Jahre versunken war, so sagt man nur die schlichte Wahrheit. Die Hauptmann und Holz sind von ganz anderem Schlage, als die Lindau und Wiehert waren; ebenso waren einst die Schlegel und Tieck von ganz anderem Schlage als die Kotzebue und Nicolai. Man müsste von allem Geschmacke verlassen sein, um das zu bestreiten. Ganz anders aber steht die Sache, wenn der moderne Naturalismus sich als neues Weltprinzip der Kunst auftun, wenn er unsere klassische Literatur zum alten Eisen werfen, wenn er über Schiller und Lessing mit verächtlichem Mitleid daher fahren will. Da muss man widersprechen, nicht um der klassischen Literatur, nicht um der Schiller und Lessing willen, die diese Püffe ebenso heiter überstehen werden, wie sie die Püffe der Romantiker überstanden haben, sondern um der schlichten Wahrheit willen, um rechtzeitig einer Verwirrung des ästhetischen Geschmacks vorzubeugen, von der namentlich nicht zu wünschen wäre, dass sie in die arbeitenden Klassen dränge.

Über die komischen Eltern, die Schienther dem modernen Naturalismus andichtet, „Bismarcks Realpolitik" und der Himmel weiß wen sonst noch, braucht nicht weiter gesprochen zu werden. Für den, der die historische Entwicklung der letzten Jahrzehnte wirklich kennt, liegt seine Abstammung klar genug vor. In dem großen Krache der siebziger Jahre schien mit der ökonomischen auch die geistige Kraft der deutschen Bourgeoisie erloschen zu sein; als ein Mann wie Lindau den Literatursultan der deutschen Reichshauptstadt spielte und auf den Berliner Bühnen nur noch der geschundene Raubritter in den verschiedensten, aber immer gleich barbarisch-geschmacklosen Fassungen aufgeführt wurde, da schien der bürgerlichen Literatur ihr letztes Stündlein geschlagen zu haben. Aber eine große Weltperiode stirbt niemals so schnell ab, wie ihre Erben zu hoffen pflegen und vielleicht auch, um sie mit dem gehörigen Nachdruck berennen zu können, hoffen müssen; gerade die Heftigkeit des Angriffs rafft noch einmal alle Kräfte des Widerstandes zusammen; als Schiller seine „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" schrieb, ahnte er auch nicht, dass der absolutistisch-feudale „Naturstaat", dem er das Horoskop des nahen Unterganges stellte, eine fröhliche Urständ feiern würde. So auch geht es mit dem Kapitalismus nicht so reißend bergab, wie der trotzige Kampfesmut des revolutionären Proletariats in den siebziger Jahren und noch lange nachher glaubte. Diese Tatsache ist an und für sich nicht zu bestreiten, so töricht es sein mag, aus ihr zu folgern, dass die langsamere Auflösung überhaupt keine Auflösung mehr sei.

In den achtziger Jahren erholte sich die bürgerliche Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade ökonomisch und demgemäß auch geistig. Auf den verschiedensten Gebieten der wissenschaftlichen Literatur erwachte neues Leben; in der ökonomischen Literatur erschien eine Reihe von Schriften, die mit verhältnismäßig scharfem und tiefem Blick in das Gefüge der modernen Gesellschaft drangen, in der schönen Literatur erschien der Naturalismus. Eine unaufhaltsam absterbende Gesellschaft sammelte ihre ganze Kraft, um sich am Leben zu erhalten, und es war gewiss die stärkste Kraft, die sie überhaupt noch aufzubieten hatte: eine ungleich stärkere Kraft, als sie im Taumel ihres noch unbedrohten Übermuts aufzubieten für nötig hielt, aber eine lange nicht mehr so starke Kraft, um noch abzuwenden, was nach den ehernen Gesetzen der Geschichte nicht mehr abgewandt werden kann. Hierin wurzelt die innere Verwandtschaft des bürgerlichen Naturalismus mit der feudalen Romantik, die in dem Auflösungsprozess der feudalen Gesellschaft die gleiche Stellung einnahm; hierin liegt der Grund, weshalb diese beiden Literaturperioden des historischen Verfalls bei aller äußeren Unähnlichkeit doch den gleichen Charakter aufweisen, der je länger je mehr sich auch in den äußeren Gesichtszügen abspiegelt, wie neben vielem anderem in letzter Zeit das Überwuchern der Märchendramen gezeigt hat.

Vom Standpunkte dieser historischen Auffassung aus kann man wie den Stärken, so auch den Schwächen des modernen Naturalismus durchaus gerecht werden. Man versteht dann, weshalb er einen so unglaublich engen Gesichtskreis hat, denn seinem Schifflein fehlten Kompass und Segel und Steuer, um das hohe Meer der Geschichte zu befahren. Man versteht dann, weshalb er sich an die sklavische Nachahmung der Natur klammert, denn er muss ratlos vor jedem gesellschaftlichen Problem stehen. Ja man mag selbst seine Freude an den grässlichen und hässlichen, den niedrigen und widrigen Abfällen der bürgerlichen Gesellschaft als einen Protest anerkennen, den er in seinem dunklen Drange dem öden Geldprotzentum, dem Todfeinde jeder echten Kunst, ins Gesicht wirft. Alles das kann man historisch vollkommen würdigen. Jedoch muss der Protest einsetzen, wenn die verkümmerten Lebensbedingungen, unter denen die Kunst in einer absterbenden Gesellschaft überhaupt nur bestehen kann, als die Lebensmöglichkeiten einer noch nie dagewesenen Kunst angepriesen, wenn die Abwendung von den großen Fragen des historischen Kulturfortschritts als die unerlässliche Voraussetzung der „reinen Kunst" gefeiert, wenn die platte Nachahmung der Natur, die noch jeder große schöpferische Künstler verschmäht hat, als weltumwälzendes Kunstprinzip verkündet, wenn die modernen Proletarier der ästhetischen Rohheit geziehen werden, weil sie in der Kunst nicht Schmutz und Staub, sondern nach Schlaikjers treffendem Ausdruck „festlichen Kerzenglanz" sehen wollen, gemäß der natürlichen, das heißt historisch gegebenen Stimmung einer Klasse, die ihres Sieges sicher und ihrer Zukunft froh ist.

Allerdings wird dem modernen Naturalismus ja auch ein sozialistischer Zug nachgerühmt, allein was an dieser Behauptung wahr ist, bestätigt eben auch nur seine innere Verwandtschaft mit der Romantik. Den ideologischen Literarhistorikern hat es schon manches Kopfzerbrechen verursacht, dass die Romantiker mittelalterlich-reaktionär und doch bis zu einem gewissen Grade freisinnig waren; vom historisch-materialistischen Standpunkt ergibt es sich sozusagen von selbst, dass eine feudalromantische Dichterschule in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts nicht ohne einen tüchtigen Zuschuss bürgerlicher Kultur bestehen konnte. Das war schon deshalb eine unbedingte Notwendigkeit, weil die feudale Welt unter dem Angriff des Bürgertums ihre Kraft zusammennahm und sich gegen den überlegenen Feind mit den Waffen verteidigte, die sie von ihm entlehnte; ungefähr so, wie sich die Rothäute mit Feuergewehren gegen die Weißen wehrten, was ihr hoffnungsloses Absterben verzögerte, aber nicht aufhielt. Man braucht das Verhältnis zwischen der feudalen Romantik und dem bürgerlichen Emanzipationskampfe nur auf die heutigen Zustände zu übertragen, um sofort zu erkennen, was es mit dem sozialistischen Zuge des bürgerlichen Naturalismus auf sich hat. Die bürgerlichen Naturalisten sind sozialistisch gesinnt, wie die feudalen Romantiker bürgerlich gesinnt waren, nicht mehr und nicht weniger; bei ihren zahllosen Experimentierereien halten sie sich mit heiliger Scheu jeder künstlerischen Darstellung fern, die sich auch nur von fern mit dem proletarischen Emanzipationskampfe berühren könnte.

Das ist ihr Verhängnis, und die oft geäußerte, früher auch wohl von mir in diesen Blättern ausgesprochene Hoffnung, dass sie sich mehr und mehr zum künstlerischen Verständnis der modernen Arbeiterbewegung emporarbeiten würde, zerrinnt um so gründlicher, je eindringender man diese Dinge untersucht. Aber was von dem modernen Naturalismus abgezogen werden muss, wenn man ihn historisch betrachtet, das kommt seinen Trägern wieder persönlich zugute. Es wäre durchaus ungerecht, ihrer bornierten Stellung zum proletarischen Klassenkampf Ängstlichkeit, Berechnung, Eigennutz oder ähnliche verwerfliche Beweggründe unterzuschieben; sie bleiben darin sich selber treu, und mehr kann man von ihnen nicht verlangen. Die Kluft, die zwischen ihnen und dem modernen Proletariat besteht, lässt sich nicht überbrücken, und selbst wenn sie über ihren Schatten springen, selbst wenn sie sich mit der Arbeiterklasse befreunden wollten, so würde das Ende vom Liede doch die bekannte Klage über den Undank der Arbeiter sein. Es ist sinnlos, den modernen Proletariern ästhetische Rückständigkeit oder dergleichen vorzuwerfen, weil sie an unserer klassischen Literatur, einer Literatur der Aufsteigenden, größeren Geschmack finden als am modernen Naturalismus, einer Literatur der Absteigenden; es ist womöglich noch sinnloser, was der tiefsinnige Geschichtsphilosoph Paul Barth ausgeheckt hat, dass nämlich in der modernen Arbeiterbewegung kein Ideal lebe, weil sie noch kein echtes Kunstwerk geschaffen habe, aber so viel ist richtig, dass in einer Klasse, deren Erkenntnis- und Begehrungsvermögen so andauernd und so stark angespannt ist wie in der modernen Arbeiterklasse, die ästhetische Betrachtung der Dinge verhältnismäßig in den Hintergrund treten muss. Es heißt eben auch hier: Unter den Waffen schweigen die Musen.

Mit anderen Worten: wenn die absteigende Bürgerklasse keine große Kunst mehr schaffen kann, so kann die aufsteigende Arbeiterklasse noch keine große Kunst schaffen, mag auch immer in den Tiefen ihrer Seele eine heiße Sehnsucht nach der Kunst leben. Zeugnis des sind die Freien Volksbühnen, die immer wieder auftauchen, obgleich die überschwänglichen Illusionen, womit sie einst gegründet wurden, längst an der rauen Wirklichkeit zerschellt sind1. Schon rein äußerlich zeigt sich auf den ersten Blick, wie wenig das Proletariat daran denken darf, sich unter den heutigen Verhältnissen das Theater zu erobern, das in den bürgerlichen Emanzipationskampf so überaus fördernd und wirksam eingegriffen hat. Die bürgerliche Bühne hat ja längst den letzten trügerischen Schein abgestreift, als käme es ihr auf Kultur- und Kunst- und nicht vielmehr auf Geldinteressen an. Was sind denn die großen modernen Theater anderes als kapitalistische Aktienunternehmungen, die nicht sowohl künstlerisch geleitet als ökonomisch bewirtschaftet werden? Solch ein Theater braucht in Berlin über zweitausend Mark Tageseinnahmen, um dem in ihm angelegten Kapital die nötigen Profite abzuwerfen, und das ist der Gesichtspunkt, der allen künstlerischen Interessen weit voransteht. Nichts verkehrter, als über die ästhetische Geschmacklosigkeit der kapitalistischen Beamten zu klagen, die für die künstlerische Leitung der Bourgeoistheater eingesetzt sind; so viel Geschmack und am Ende auch so viel Gewissen haben diese Angestellten des großen Kapitals schon, um lieber Shakespeare und Schiller aufzuführen als den erbärmlichen Schund, der die Nerven des Börsenpöbels kitzelt. Aber sie sind eben auch versklavte Menschen und dürfen sich glücklich preisen, wenn ihnen in diesem und jenem Ausnahmefall ein leidliches Kompromiss zwischen den Geboten des Geschmacks und den Profitinteressen des Kapitals gelingt.

Wie aber sollen unter solchen Verhältnissen die Freien Volksbühnen eine Wiedergeburt der dramatischen Kunst anbahnen können? Es ist ganz unmöglich, obgleich man, wie unmöglich es ist, vielleicht erst begreift, wenn man die Quälerei einmal am eigenen Leibe durchgemacht hat. Dennoch ist ein entschiedenes Bedürfnis nach ihnen im modernen Proletariat da, und insoweit sie ihm überhaupt den Genuss dramatischer Kunstwerke ermöglichen, haben sie auch ihr unleugbares Verdienst, sind sie ein bescheidener, aber doch nicht unwirksamer Hebel, den Geschmack der Arbeiter zu läutern, damit ihre Kulturentwicklung zu fördern und so in letzter Weise auch ihren Emanzipationskampf zu stärken. Nur muss hierbei die richtige Grenze innegehalten werden: träten die Freien Volksbühnen den großen Zielen der modernen Arbeiterbewegung hindernd in den Weg, vergäßen sie ihren proletarischen Ursprung, ließen sie sich mit kapitalistischen und offiziösen Unternehmungen vom Schlage des Schiller-Theaters, die unter dem Geschwafel von der „reinen Kunst" die unterdrückten Klassen beduseln wollen, in eine charakterlose Verbindung ein, so wäre es besser, sie wären nicht da.

Je unmöglicher sich aber aus dem proletarischen Klassenkampfe ein neues Zeitalter der Kunst entwickeln kann, um so sicherer ist es, dass der Sieg des Proletariats eine neue Weltwende der Kunst herbeiführen wird, eine edlere, größere, herrlichere als Menschenaugen je gesehen haben. Besteht das ästhetische Wohlgefallen in der freien und ruhigen Betrachtung der Dinge, so wird es sich am höchsten und reinsten entfalten, wenn die „beschämenden Spuren der Dienstbarkeit" verschwunden sein werden, die „unserer verstümmelten Natur" durch die Sklavenarbeit einiger Jahrtausende eingedrückt worden sind, wenn das menschliche Geschlecht „den freien Wuchs seiner Menschheit entfesseln kann". Schon um dieses tiefen Prophetenworts willen wollen wir uns unseren Schiller nicht verschimpfieren lassen. Mag die Bourgeoisie in ihrer greisenhaften Anmaßung sich einbilden, dass, weil sie sterben muss, auch die Kunst sterben wird, wir leben der Zuversicht, der alle großen Künstler gelebt haben, der Zuversicht, dass der letzte Dichter erst mit dem letzten Menschen das Erdenhaus verlassen wird, der Zuversicht, die der große Lyriker der mittelhochdeutschen Dichtung, die Walther von der Vogelweide in die schlichten Worte gekleidet hat:

Kumt sanges tac, man hoeret singen unde sagen.

1 Mehring spielt hier auf die Selbstauflösung der Freien Volksbühne Berlin an, die sich nach der Spaltung vom Oktober 1892 unter der Leitung Mehrings kräftig entwickelt hatte. „Die Förderung des proletarischen Emanzipationskampfes auf künstlerischem und literarischem Gebiete: das und nichts anderes ist die Aufgabe der Freien Volksbühne" – unter dieser Zielsetzung wuchs die Freie Volksbühne in Berlin auf mehr als 8000 Mitglieder an. Daraufhin entschieden die preußische Polizeibehörde und das Oberverwaltungsgericht, dass eine derartig große Organisation wie jedes andere Theater seine zur Aufführung gelangenden Stücke der Zensur vorzulegen habe. Als offensichtlich wurde, dass eine andere Entscheidung nicht durchgesetzt werden konnte, zogen es die Arbeiter unter Mehrings Leitung vor, 1895 lieber die Volksbühne aufzulösen, als sich ins Joch der preußischen Polizeizensur zu beugen.

1897 trat der Verein unter veränderten Satzungen unter dem Vorsitz Conrad Schmidts wieder zusammen und unterlag in der Folgezeit immer stärker revisionistischen Einflüssen.

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