Franz Mehring 19130418 Ein Nachzügler

Franz Mehring: Ein Nachzügler

18. April 1913

Die Neue Zeit, 31. Jg. 1912/13, Zweiter Band, S. 101-105. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 231-236]

Das Jahr 1912 sah die deutsche Bourgeoisie im Glanze ihrer literarischen Bildung, sie feierte mit dem üblichen Tamtam und Trara die fünfzigsten Geburtstage ihrer bewundertsten Dichterlein, und es gedieh dabei manch lieblicher Humbug. Am lieblichsten trieb es die geschäftige Clique des Herrn Gerhart Hauptmann, worüber in einem unserer letzten Hefte von kundiger Hand berichtet worden ist, und er selbst hat jetzt den Schlussstein in das Gebäude seines kapitalistischen Ruhmes gefügt, indem er, der Träger des Nobelpreises, die Töchter seiner Muse, wie ein Parteiblatt sich kräftig ausdrückt, ins Filmbordell verschacherte.

Nun meldet sich aber noch ein Nachzügler, der am 26. dieses Monats seinen fünfzigsten Geburtstag feiert, und ihm wollen wir gern die gebührenden Ehren erweisen, so abgeschmackt uns im allgemeinen die Verlegertricks erscheinen, die sich als Huldigungen zu den fünfzigsten Geburtstagen von Dichtern drapieren. Mit Arno Holz sind keine Geschäfte zu machen, und er selbst hat seine Muse nie zur Vettel erniedrigt, die sich heischend an den kapitalistischen Moloch drängt. Das soll ihm unvergessen bleiben, zumal da er an dichterischer Begabung allen Geburtstagskindern des vorigen Jahres überlegen ist. Wenn einer, so hatte er das Zeug dazu, der „Täufer des kommenden Jahrhunderts" zu werden, wie er es in einem seiner jugendlichen Gedichte verheißen hat.

Geworden ist er es freilich nicht, und wenn man fragen wollte, weshalb er es nicht geworden sei, so gäbe es ein langes und trauriges Kapitel. Und am wenigsten würde man es erfahren aus dem Buche des Herrn Robert Reß, das eben unter dem Titel: Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung. Ein Mahn- und Weckruf an das deutsche Volk (verlegt bei Karl Reißner, Dresden 1913) erschienen ist. Eine geschmack- und sinnlosere Lobhudelei lässt sich nicht wohl denken; nach Herrn Reß ist Arno Holz der größte Dichter aller Völker und Zeiten, und jede Zeile, die er geschrieben hat, ist in Erz gegraben. Wir hoffen, dass Arno Holz vor dem Erscheinen dieses Buches nichts von den Absichten des Herrn Reß gewusst hat; er hat sich wohl einmal gerühmt, nicht an Selbstunterschätzung zu leiden, und das beansprucht auch niemand von ihm, aber Größenwahn steht doch auf einem anderen Blatte.*

Überblickt man das Lebenswerk dieses Dichters, so entdeckt man unschwer das Verhängnis seines Lebens, den Mangel an „großem historischem Sinn", an der Weltanschauung, die den großen Dichter macht, sei es nun die große Anschauung der Welt oder auch nur die Anschauung der großen Welt. Gleich in seinen Anfängen schwankte Holz zwischen Geibel und – Johannes Scherr, dem er die erste Auflage seines „Buches der Zeit" gewidmet hat, jenes wundervollen Liederbuchs, das seinen Namen am längsten erhalten wird. Es ist sehr begreiflich, dass sich ein zwanzigjähriger Jüngling für Scherr begeistert, aber es ist bedenklich, wenn ein echter Dichter nicht über die Entrüstung hinauskommt, die eine unvollkommene Welt in jedem Biedermann erregen muss. Die Entwicklung, die das „Buch der Zeit" zu verheißen schien, ist ausgeblieben; Holz hat sich nicht an die Bourgeoisie verkauft, aber er selbst hat nicht erfüllt, wozu er vor dreißig Jahren die Männer seiner Zeit aufforderte:


Drum ihr, ihr Männer, die ihr's seid,

Zertrümmert eure Trugidole

Und gebt sie weiter, die Parole:

Glückauf, glückauf, du junge Zeit!


Es scheint, dass ihm gewiss nicht der Wille, aber die Fähigkeit fehlt, die tieferen Zusammenhänge der „jungen Zeit" zu verstehen. Das ist nun noch kein Unglück für einen revolutionären Dichter; es ist jüngst erst an dieser Stelle darauf hingewiesen worden, dass Freiligrath auch schwerlich das Kommunistische Manifest verstanden hat. Aber ein so ganz unbewusst schaffender Dichter ist Holz doch nicht; er hat einen unglücklichen Hang zu theoretisieren und zu spintisieren, der ihn je länger je mehr dazu verleitet hat, sich dem wirklichen Leben abzuwenden und seinen revolutionären Drang an den dichterischen Formen auszulassen, das heißt sie zu zerbrechen und dafür neue Formen zu ersinnen, die sich alsbald, da sie nur in seinem Hirn, aber nicht im nationalen Geiste wurzeln, als reine Schrullen auswachsen.

So vollbrachte Holz vor etwa fünfzehn Jahren eine „Revolution" der Lyrik, indem er dem Reim und der Strophe den Krieg bis aufs Messer ankündigte. Manches, was er darüber sagte, ließ sich immerhin hören, und in den ersten Proben seiner „neuen Lyrik", die er 1896 als ein Heftchen unter dem Titel „Phantasus" veröffentlichte, fanden sich sehr schöne Gedichte. So etwa diese:


Vor meinem Fenster

singt ein Vogel.

Still hör' ich zu; mein Herz vergeht.

Er singt,

was ich als Kind besaß

und dann – vergessen.


Über die Welt hin ziehen die Wolken.

Grün durch die Wälder

fließt ihr Licht.

Herz, vergiss!

In stiller Sonne

weht linderndster Zauber,

unter wehenden Bäumen blüht tausend Trost.

Vergiss, vergiss!

Aus fernem Grund pfeift, horch, ein Vogel …

Er singt sein Lied.

Das Lied vom Glück!

Vom Glück.


Aber schon ein Jahr später ist die Schrulle da. Aus einem zweiten Heftchen „Phantasus" seien hier nur – um den Verdacht einer willkürlichen Auswahl zu vermeiden – das erste und das letzte Gedicht mitgeteilt:


Sieben Millionen Jahre vor meiner Geburt

war ich eine Schwertlilie.

Meine Wurzeln

saugten sich

in einen Stern.

Auf seinen dunklen Wassern

schwamm

meine blaue Riesenblüte.

In rote Fixsternwälder, die verbluten,

peitsch' ich mein Flügelross

durch!


Hinter zerfetzten Planetensystemen, hinter vergletscherten Ursonnen,' hinter Wüsten aus Nacht und Nichts

wachsen schimmernd neue Welten – Trillionen Krokusblüten!


Kaum aber hatte diese „Revolution" der Lyrik begonnen, als sich Arno Holz in „alten Schweinslederscharteken" vergrub, um im Stile des siebzehnten Jahrhunderts zu dichten. „Des berühmbten Schaffers Dafnis salbst verfärtigte, sämbtliche Fress-, Sauff- und Venuslieder usw." Es ist eine glänzend gelungene Bravourleistung, eine Arbeit von Jahren, aber höchstens ein Kunststück, kein Kunstwerk. Und es war doch die reine Kinderei, wenn die Bewunderer des Dichters seinen Kritikern zuriefen: Aha, das hattet ihr nicht erwartet, dass dieser Verächter des Reims und der Strophe euch so kommen würde, aber das ist die Art des Genies! Holz selbst wollte mit dieser Nachahmung seine Methode, ein Stück Leben künstlerisch so treu wie nur irgend möglich zu geben, auf die Vergangenheit angewandt haben.

Im besten Falle hat er dadurch sein Formtalent in so verblüffender Weise dargetan wie einst in hinreißender Weise im „Buche der Zeit". „Ein Stück Leben" wirklich in der Kunst lebendig zu machen, ist ihm, wenigstens in halbwegs großem Stile, bisher nicht gelungen. Als er vor fünfzehn Jahren sein Riesenwerk ankündigte: „Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen", meinte Ströbel an dieser Stelle, das werde wohl eine geraume Zeit dauern, denn erst müsse Holz doch die Zeit kennen, die er dramatisch darstellen wolle, und diese Prophezeiung hat sich leider bewährt. Die beiden Dramen, die bisher aus dem Riesenwerk erschienen sind, die „Sozialaristokraten" wie die „Sonnenfinsternis", zeigen klar, dass Holz von der Welt nichts kennt als einen kleinen, einen winzig kleinen Ausschnitt Berliner Künstler- und Literatenlebens. Nun kündigt Herr Reß allerdings eine Riesentragödie von acht Stunden Spielzeit, mit 4782 Regiebemerkungen an, die die Phänomene der modernen Naturwissenschaften behandelt, und danach noch zwei Tragödien, drei Komödien, vier Tragikomödien, die alle in ihren Grundideen bereits konzipiert und festgesteckt seien. Aber er nimmt in seinem Buche den Mund gar zu voll, als dass ihm aufs Wort zu glauben wäre.

Nicht als ob wir nicht wünschten, dass er recht hätte. Holz ist in der „Neuen Zeit" oft und stets mit Achtung genannt worden; von dem Vorwurf des „Totschweigens", mit dem Herr Reß jede Seite fast um sich wirft, trifft uns nicht einmal ein Atom. Aber an dem törichten Treiben der Handvoll Korybanten, die des Dichters beklagenswertes Geschick nicht zum geringsten verschuldet haben, mögen wir uns nicht beteiligen. Wir haben immer die tiefste Achtung für des Dichters herb-stolze Haltung gegenüber den verfaulten Schichten der Bourgeoisie gehabt; wir verstehen auch, wie Holz dadurch in ein hochmütiges Absonderungsgelüste, ein exklusives Ästhetentum getrieben werden kann, aber wir können nur wiederholen, was Ströbel in der Besprechung der „Sonnenfinsternis“ sagte, dass ein Künstler nur dann Großes schaffen konnte, wenn er im Volke lebt, für das Volk denkt und dichtet.

Ob es für Holz zu spät ist, umzukehren, wollen wir nicht untersuchen; zu seinem fünfzigsten Geburtstag können wir nur wünschen, dass er sich noch in zwölfter Stunde auf die hellen Fanfaren seiner Jugend besinne.

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*

Die vorstehenden Zeilen waren bereits gesetzt, als Arno Holz die Hoffnung, dass ihm die Lobhudeleien des Herrn Reß unwillkommen sein würden, bitter enttäuschte. Er selbst versendet an dreihundert deutsche Zeitungen einen Aufruf, worin er aus dem „schmackhaften Kuchenteig" seines Bewunderers die süßesten Rosinen herausklaubt.

Dafür fügt er ein „privates Zeugnis", worin ihm für sein neuestes, noch nicht veröffentlichtes Werk folgendermaßen gehuldigt wird: „Es möge Dir genügen, wenn ich zerknirscht, zerknittert, gemartert und völlig geschlagen mich heute mehr denn je als eine Null und ein Nichts, als eine krabbelnde Made, als den letzten Fetzen eines abgetrennten Staubtuchlappens fühle." Verfasser dieses Hymnus ist Herr Oskar Jerschke, mit dem gemeinsam Arno Holz ehedem den „Traumulus" geschrieben hat, der über alle deutschen Bühnen ging und die erhabenen Redewendungen von dem misshandelten Genie in ein eigentümliches Licht stellt.

Immerhin – das mag Arno Holz mit sich selbst abmachen. Aber – wenn er sich an der Hand seines Reß auf die Spende beruft, die einst von der Schwelle des alternden Freiligrath die Schattengestalt der Sorge verbannte – des „bescheiden Kleinen", wie Holz sagt, gemessen an ihm, „einem unter jedem Gesichtspunkt und in jeder Beziehung ungleich Größeren", so sollte er nicht den Namen eines Dichters unnützlich führen, der immer ein Mann war, der immer in den großen Kämpfen der Zeit tapfer gestritten hat und zehnmal lieber verhungert wäre, ehe er auch nur einmal die Hand mit einer bittenden Gebärde ausgestreckt hätte. Und das Beste, was Holz als Dichter geleistet hat, ist doch nur, dass er in seinen jungen Jahren sich anschickte, der begabteste Nachfahre Freiligraths zu werden.

Von diesem großen Namen mag Holz also gefälligst die Hände lassen. Mit den sonstigen Unglaublichkeiten seines Aufrufs „an die endliche Einsicht seines Volkes" wollen wir nicht erst rechten; sie richten sich selbst. Wir beklagen aufrichtig, dass Holz preisgegeben hat, was ihm trotz aller Schrullen und Verstiegenheiten doch immer noch die aufrichtigste Sympathie sichern konnte: jenen herben Stolz, der dem kapitalistischen Geßlerhut die Reverenz versagte. Er hat es freilich schon vor siebzehn Jahren geduldet, dass ausgerechnet Herr Maximilian Harden öffentlich den Klingelbeutel für ihn schwang, und schon damals urteilten wir: „Es lohnt sich nicht, auch nur ein ernstes Wort über die kindische Vorstellung zu verlieren, dass ein echter und starker Künstler durch Spenden bürgerlicher Barmherzigkeit für große Ziele gerettet werden könne." Aber Holz selbst hielt sich damals zurück und sträubte sich gegen jedes Almosen.

Nun aber hat er doch den Weg verschmäht, auf den wir ihn damals mit den Worten riefen: „Die junge Zeit allein kann den Dichter retten, der ihr einmal mit genialem Verständnis ins Auge geschaut hat. Erst wenn er alle ,Trugidole' einer unaufhaltsam verkommenden Gesellschaft zertrümmert hat, wird er frei, erst dann mag er sich zu den Täufern des kommenden Jahrhunderts zählen, und erst dann kann er einen Boden finden, in dem er starke und tiefe Wurzeln zu schlagen vermag. Auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft ist sein Fall unheilbar." Unheilbar wie der Fall Hauptmann; jedes dieser Lichtlein ist aus der gleichen Ursache erloschen, wenn auch an den entgegengesetzten Enden des kapitalistischen Sumpfes.

* Dem Buche ist ein Aufruf „an die gesamte deutsche Presse" beigelegt, worin nicht zu einer „Bettelei", für die der Dichter zu hoch stehe, sondern zu einer „großen nationalen Huldigung" aufgefordert wird. Zur Entgegennahme der Beiträge hat sich die Leitung des „Kunstwart", Dresden-Blasewitz, unter dem Vermerk: Arno-Holz-Spende bereit erklärt. Die Namen der Spender will Herr Reß in einem neuen Buche verewigen, „um so einer kommenden Forschung, die ganz zweifellos revidieren werde, wie das Deutschland dieser Tage im vorliegenden Falle handelte und dachte, die historisch einzig verlässliche Unterlage zu liefern".

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