Franz Mehring 19120412 Freiligrath und Marx in ihrem Briefwechsel

Franz Mehring: Freiligrath und Marx in ihrem Briefwechsel

12. April 1912

[Ergänzungshefte zur Neuen Zeit, Nr. 12, Ausgegeben am 12. April 1912. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 522-597]

Der Dichter steht auf einer höhern Warte, Als auf den Zinnen der Partei.

Ferd. Freiligrath

Unter Partei verstand ich die Partei im großen historischen Sinne.

Karl Marx

Der hundertste Geburtstag Ferdinand Freiligraths wurde im Juni 1910 nicht so gefeiert, wie es der nationalen Bedeutung des Dichters entsprochen hätte. Der bürgerlichen Welt liegen seine revolutionären Gedichte heute, wo sich das in ihnen besungene Proletariat zu einer so stattlichen Phalanx entwickelt hat, schwerer im Magen als vor vierzig Jahren, wo sie dem Dichter einen sorgenfreien Lebensabend schuf, und sie selbst glaubt nicht recht daran, wenn sie ihr bängliches Gefühl damit beschwichtigen will, dass Freiligrath durch seine Lieder von 1870 sich mit der neureichsdeutschen Herrlichkeit versöhnt habe.

Aber auch die proletarische Welt, sowenig sie an diese Mär glaubt, stand doch auch unter dem Eindruck, dass irgend etwas mit Freiligrath nicht recht in Ordnung sei. Hatte er doch sein letztes Lebensjahrzehnt in stiller Entfremdung von den Freunden gelebt, mit denen gemeinsam er einst in glorreichen Tagen den Vorkampf der Arbeiterklasse geführt hatte! Wenn in einem der sozialdemokratischen Nachrufe zu Freiligraths hundertstem Geburtstag gesagt wurde, er sei ein ehrlicher, überzeugter Demokrat gewesen, nicht mehr, aber auch nicht weniger als Berthold Auerbach und Gottfried Kinkel, so war das ein sehr zweifelhaftes Kompliment. Denn mit der „Ehrlichkeit" und der „Überzeugung" dieser „Demokraten" sah es recht eigentümlich aus, und namentlich Auerbach war nach 1870 der richtige Nationalliberale, wie er im Buche steht.

Eine große Schuld an den täuschenden Lichtern, die um Freiligraths Gestalt spielen, trägt das Buch, das Wilhelm Buchner vor dreißig Jahren unter dem Titel: „Ferdinand Freiligrath. Ein Dichterleben in Briefen" in zwei starken Bänden herausgegeben hat. Ursprünglich hatte die Familie Freiligraths an Walesrode das Ersuchen gerichtet, die Biographie des Dichters zu schreiben, und Walesrode wäre in der Tat der berufene Mann für diese Aufgabe gewesen. Aber seine Kränklichkeit und sein vorgeschrittenes Alter hinderten ihn, sie zu übernehmen, und so ging die Witwe Freiligraths auf den Vorschlag Buchners ein, ihn damit zu betrauen. Er konnte sich darauf berufen, dass sein Vater zu den ältesten, obgleich keineswegs zu den treuesten oder weisesten Freunden des Dichters gehört habe, und er brachte gewiss auch guten Willen und lobenswerten Fleiß für die Arbeit mit. Allein ihm fehlte ganz und gar der freie und große Blick, der ihn befähigt hätte, dem Dichter des „Löwenritts" und des „Birkenbaums" und der „Trompete von Gravelotte" in gleichem Maße gerecht zu werden. Als landläufiger Reichspatriot suchte er alle revolutionären Elemente in Freiligraths Wesen abzutönen oder gar zu vertuschen; so stellt er zum Beispiel die Beziehungen Freiligraths zum Bunde der Kommunisten so dar, als sei der Dichter halb ahnungs- und bewusstlos in eine Gesellschaft „dunkler Ehrenmänner" geraten, während Buchner die behagliche Freude seines Helden an einem feinen Tropfen und anderen guten Gaben Gottes mit viel zu satten Farben malt. Diese Methode war freilich nicht neu, und Freiligrath hat sie schon am eigenen Leibe empfunden; über ein „gefühlsduseliges Feuilleton", das ihm „einer der jüngsten deutschen Lyriker" gewidmet hatte – wir kommen auf diesen Verehrer noch zurück –, schrieb er am 10. Februar 1858 an Marx: „Zum Dank, dass ich dem Edlen einen vortrefflichen Punsch gebraut, bricht er mir erst die Zähne aus und steckt mir hernach ein Stück Schinken ins Maul." Jedoch an eine abschließende Biographie muss man höhere Anforderungen stellen als an ein beiläufiges Reisefeuilleton, und solchen Anforderungen genügt das Werk Buchners in keiner Weise.

So schien es mir denn ratsam und wünschenswert, die Beziehungen zwischen Freiligrath und Marx einer urkundlichen Prüfung zu unterziehen, an der Hand ihres bisher unbekannten Briefwechsels. Freilich sind nur noch Trümmer davon vorhanden: von Freiligrath etwa hundert Briefe an Marx, von Marx gar nur etwa ein Dutzend Briefe an Freiligrath, aus einem brieflichen Verkehr von nahezu zwanzig Jahren. Doch ist der Verlust tatsächlich nicht so bedeutend, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint.

In jenen zwanzig Jahren sind beide Männer nur etwa zwei Jahre – vom Sommer 1849 bis Sommer 1851, wo Marx in Paris und London, Freiligrath in Düsseldorf und Köln lebte – räumlich so weit getrennt gewesen, dass sie sich auf den schriftlichen Verkehr beschränken mussten; von 1851 bis 1868, in welchem Jahre der Briefwechsel endet, lebten sie beide in London, wo der persönliche Umgang so überwog, dass die Briefe eben nur ein Hilfsmittel des Verkehrs waren. Die Briefe Freiligraths, die in so ungleich größerer Zahl vorliegen, sind meist flüchtige Zettel, geschrieben von Haus zu Haus, um ein Stelldichein zu verabreden, einen Besuch anzukündigen oder abzusagen, über Krankheiten der Kinder zu berichten und namentlich um kleine Geldtransaktionen zu vermitteln, in denen der geschäftskundige Freiligrath dem immer von nagenden Sorgen bedrängten Freunde ein allemal bereiter Helfer war. Unwichtig wie der Inhalt dieser Briefe, ist er zum Teil auch unverständlich durch die Vorliebe Freiligraths für gemütliche Spitznamen und Wortspiele: wenn er von dem „Oberhaupt der Synagoge" oder von dem „Dunklen" schreibt oder eine „Schlummerkarte für den Tempel des großen Pan" besorgen will, so lässt sich wohl leicht erkennen;, dass er Marx meint als den leitenden Kopf des Kommunistenbundes oder Lassalle als Herausgeber Heraklits des Dunkeln oder Panizzi, der als Vorsteher des Britischen Museums die Eintrittskarten für dessen Lesesaal zu vergeben hatte. Aber wenn dann auch ein „Lappländer" oder eine„höhere Hebamme" und ähnlich benamste Gestalten in Freiligraths Briefen auftauchen, so lässt sich kaum noch feststellen, auf wen aus der wimmelnden Schar der deutschen Flüchtlinge damit angespielt wird, und wenn es sich feststellen ließe, so würde es kaum der Mühe wert sein.

Für die Nachwelt hat nur der Teil des Briefwechsels lebhaftes Interesse, der uns beide Männer in ihres Wesens Wesenheit näher kennen lehrt, und dieser Teil ist glücklicherweise, wenn nicht ganz vollständig, so doch vollständig genug erhalten, um uns einen erschöpfenden Einblick in ihre Beziehungen zu gestatten. Und wie so oft, wirft die ganze historische Wahrheit auf beide Männer ein ungleich günstigeres Licht als die halbe Wahrheit, die bisher bekannt war: sowohl in dem, was sie verband, als auch in dem, was sie trennte.

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