Franz Mehring 18960107 Gerhart Hauptmanns „Florian Geyer"

Franz Mehring: Gerhart Hauptmanns „Florian Geyer"

7. Januar 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 495-497. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 298-302]

Von den neuen Theaterstücken, die seit vergangenem Herbste über die hiesigen Bühnen in den Orkus gewandert sind, verdiente keines an dieser Stelle auch nur die geringste Erwähnung. Erst Gerhart Hauptmanns „Bühnenspiel" aus dem deutschen Bauernkriege, das am 4. d. M. zum ersten Male im Deutschen Theater aufgeführt wurde, hat den Bann der entsetzlichen Geistesöde gebrochen, der über der bürgerlichen Dramatik der deutschen Gegenwart waltet. Es hat auf den Brettern zwar auch einen entschiedenen Misserfolg gehabt, einen Misserfolg, der weder durch das lärmende Getöse der wohlwollenden Claque verschleiert noch durch den skandalösen Spektakel der feindseligen Cliquen verstärkt werden konnte. In der „Stadt der Intelligenz" muss nun einmal der „gebildete" Pöbel alles, was über seinen unglaublich niedrigen Geisteshorizont hinausgeht, zum Gegenstand wütender Katzbalgereien machen, aber es versteht sich, dass damit nichts für und nichts wider Hauptmanns Stück entschieden worden ist. Tatsächlich beruhte der theatralische Misserfolg des „Florian Geyer" darauf, dass dies „Bühnenspiel" kein Drama ist.

Es ist kein Drama, obgleich der „Florian Geyer" genau nach demselben Schema gearbeitet ist wie die „Weber". Hier wie dort hält sich Hauptmann streng an den geschichtlichen Verlauf der Dinge, und die dramatische Handlung löst sich in eine Fülle von Episoden auf. Wenn man die historische Studie über Florian Geyer liest, die Wilhelm Blos vor langen Jahren einmal in der „Neuen Zeit" veröffentlicht hat, so hält man das tatsächliche Gerippe des Theaterstücks in der Hand1. Hauptmann hat sich mit großem Fleiß in die Geschichte des deutschen Bauernkriegs versenkt und mit ehrlichem Bemühen, sie in ihrem inneren Zusammenhange zu erkennen. Er macht kein Hehl aus dem feigen und verräterischen Spiel, das Luther, Götz von Berlichingen und der hohenzollernsche Markgraf Kasimir mit den aufständischen Bauern getrieben haben; es gereicht dem Dichter durchaus zur Ehre, dass die verschiedenen Schattierungen der bürgerlichen Presse vor Wut bersten über die poetische Gerechtigkeit, womit er ihren verschiedenen Idolen aus dem sechzehnten Jahrhundert gerecht geworden ist.

Bei gleicher Behandlungsweise des Stoffs steht aber die Wirkung, welche die „Weber" und der „Florian Geyer" von der Bühne her ausüben, in vollkommenem Gegensatze. Diese Wirkung ist bei den „Webern" ebenso stark wie beim „Florian Geyer" schwach. Man hat die Verschiedenheit aus dem rückwärts gewandten Gesichte der revolutionären Bauern erklären wollen, wohl in Anknüpfung an die bekannte Auffassung Lassalles, wonach die Bauernkriege im Grunde eine reaktionäre Bewegung gewesen seien. Indessen ganz abgesehen von allem, was sich gegen diese Auffassung einwenden lässt, so war das Gesicht der Revolutionäre in dem Hungeraufstande der schlesischen Weber mindestens ebenso sehr rückwärts gewandt wie im Bauernkriege. Gerade im Gegenteile: weil der Bauernkrieg eine unendlich viel kompliziertere, sich tausendfach mit einer großen Weltwende der menschlichen Zivilisation verflechtende Bewegung war, ist Hauptmann daran gescheitert, ihn dramatisch in derselben Weise zu bewältigen wie den Aufstand der schlesischen Weber.

Konnte der Dichter nun aber die um so gewaltigeren Massen des Bauernkrieges in den engen Rahmen eines Theaterabends nicht in dramatische Bewegung setzen, so war es ein ganz richtiger Gedanke, seinem Trauerspiele einen Helden zu geben, an dem es bekanntlich den „Webern" fehlt. Und der Held selbst ward in dem tapfern Ritter, der in unerschütterlicher Treue an der Spitze der aufständischen Bauern gekämpft hat, auch mit feinem Instinkte herausgegriffen. Je weniger uns die Geschichte von Florian Geyer zu erzählen weiß, um so mehr war es dem Dichter erlaubt und geboten, sein Charakterbild in historisch und poetisch glaubwürdiger Weise zu gestalten. Indessen diese Aufgabe hat Hauptmann nicht lösen können oder nicht lösen wollen. Was er an eigener Zutat seinem Helden gibt, verdunkelt dessen Gesichtszüge mehr, als es sie erhebt. Hauptmann macht Florian Geyer zu einem Geistesgefährten Sickingens und Huttens; er lässt ihn mit Hutten zu den Füßen des Humanisten Mutian in Gotha sitzen. Aber Mutian, der den Bauernkrieg noch erlebte, schimpfte über das „rohe Landvolk, ohne Sitten, Gesetz und Religion" ganz im Stile Luthers, und hätten Sickingen und Hutten das Jahr 1525 erlebt, so würde ihr Platz sicher nicht auf Seiten der aufständischen Bauern gewesen sein. Es hat seinen ganz guten Sinn, wenn Florian Geyer die bauernfeindlichen Ritter damit verhöhnt, dass sie ihre eigenen Führer Sickingen und Hutten feige im Stiche gelassen hätten, aber wenn er zu seinem letzten Kampfe mit den Worten auszieht: „Lebt wohl, liebe Brüder, es müsste Wunders zugehen, wenn wir uns sollten wieder begegnen. Tut mir Bescheid: Ulrich von Huttens Gedächtnis! Des Sickingen Gedächtnis! Sein Sohn ist ein Hundsfott, hat sich zu den Bündischen geschlagen", so wird Florian Geyer zu einem vollkommenen Konfusionarius gestempelt. Sickingens Sohn handelte durchaus im Geiste seines Vaters, wenn er sich zu dem Adel gegen die Bauern hielt.

Eine dichterische Zutat von ebenso zweifelhaftem Werte scheint es zu sein, dass Florian Geyer in der Schlacht von Pavia auf französischer Seite gekämpft haben soll, dass die ihm verfeindeten Ritter ihn in etwas sehr modernem Stile sozusagen als Französling verdächtigen und dass er selbst in eben jener Scheidestunde auf die Frage eines seiner Getreuen, ob „französische Stüber und Sonnenkronen das Beste getan hätten bei dem bäurischen Handel", zweideutig antwortet: „Bruder, es sind niemalen subtilere Praktiken im Gange gewest und wahr ist's, der Wind wehte stark von West. Sollen wir aber nit unsere Segel spannen, wo wir gen Osten wollen schiffen, allein, weil der Wind von Frankreich wehet… Wer nach den neu entdeckten Inseln fahren will, nutzet die Winde, wo sie wehen. Er kann mitnichten immer geradaus schiffen, nur dass er sich selbst glauben hält und dem Ziele treu bleibe." Worauf Florian Geyer nach Wein ruft und nach seinem Lagermädel, beiläufig eine sehr missglückte Nachahmung des Käthchen von Heilbronn. Wir vermögen nicht zu erkennen, ob mit diesem wiederholt im Stücke anklingenden Motiv des Franzosengoldes irgendeine geheime Schuld des Helden angedeutet werden soll, aber wir brauchen nicht zu sagen, wie deplatziert, historisch und poetisch deplatziert dieser Zug sein würde.

Es ist der Grundfehler des Stücks, dass Hauptmann mit seinem Helden dramatisch nichts anzufangen weiß. So wenig die Geschichte von Florian Geyer berichtet, so ist er in ihr doch noch eine ganz andere Heldengestalt als in Hauptmanns Drama. Dort sehen wir ihn handeln, und hier hören wir ihn nur reden. In der Mitte jedes Aktes tritt er auf, um sehr glaubhaft, aber auch sehr undramatisch auseinanderzusetzen, wie trefflich er den Bauern zu raten wisse und wie schlecht sie auf seinen Rat zu hören verständen. Aus diesem lahmen Spiele ergibt sich nun aber noch ein viel lahmeres Gegenspiel: um dem Helden sein Recht zu geben, müssen die Bauernführer sich von ihrer schlechtesten Seite als kurzsichtige, zänkische Tölpel zeigen; Hauptmann verschmäht selbst nicht, einem von ihnen den Schwindel in den Mund zu legen, den der Schleicher Melanchthon dem braven Müntzer nachgelogen hat: den Schwindel von dem Auffangen der Büchsenkugeln im Ärmel. Die Bauern selbst erscheinen überhaupt erst im fünften Akt, in der kläglichsten Verfassung, als Gefangene der siegreichen Ritter, welche sie mit Hundepeitschen bearbeiten. Von den ergreifenden und erschütternden, den heroischen und tragischen Seiten des Bauernkrieges ist in dem Drama nichts zu spüren, es sei denn, dass sie in den vielen Reden über alle möglichen Dinge einmal gestreift werden.

Die Vorzüge des Dramas liegen auf rein literarischem Gebiete. Die episodischen Gestalten, deren es ein halbes Hundert gibt, sind ungemein fleißig und sauber ausgearbeitet. Die Buchausgabe des Dramas, die nahezu zwanzig Bogen umfasst, ist gewissermaßen eine Studienmappe voll historischer Charakterköpfe, die fein und geistreich gezeichnet und meist auch gut getroffen sind. Das lässt sich unter der gelehrten Lupe mit behaglicher Muße studieren und auch bewundern.2 Aber diese intimen Reize sind nichts für das grobe Lampenlicht der Bühne, um so weniger, als der unerbittliche Rotstift des Regisseurs sie durch Zusammenstreichen des Dialogs von vornherein verwischen und verwüsten muss. Da bleibt nichts übrig als sehr viel Gerede, untermischt mit ebenso viel Blechgerassel, Glockengeläute und anderen Geräuschen. Und hieraus erklärt es sich auch, weshalb Hauptmanns Drama die Klippe der polizeilichen Zensur leidlich unbeschädigt passiert hat. Den braven Lektor des Alexanderplatzes wird das ihm eingereichte Bühnenexemplar stark Wildenbruchisch angemutet haben.

Übrigens tut auch Hauptmanns dramaturgischer Mentor, Herr Paul Schienther, das Seinige, um auf diese falsche Fährte zu leiten. In der „Vossischen Zeitung" veröffentlicht er „Geschichtliches über Florian Geyer", was jedem Kenner des Reformationszeitalters heftige Krämpfe zu verursachen geeignet ist, und er reist auch sonst mit der Entdeckung im Lande umher, dass Hauptmann in Florian Geyer eine Art nationalliberalen Kaiserherolds und Kulturpaukers habe schildern wollen. Dann allerdings hätte es seine guten oder vielmehr schlechten Gründe, dass die aufständischen Bauern ihrem adeligen Führer gegenüber so sehr schlecht wegkommen. Jedoch zwingt das Drama selbst keineswegs zu dieser Annahme, und wir haben zu große Achtung vor Hauptmanns Genie und Fleiß, um ihm eine solche Absicht unterzustellen. Die Konjektur entspringt nur dem persönlichen Bedürfnisse des Herrn Paul Schienther, das ihn früher schon zu den wunderlichsten Sprüngen veranlasst hat: das Bedürfnis, den ästhetischen Revoluzzer zu spielen und dennoch in der kapitalistischen Presse möglich zu bleiben.

Jedennoch enthält das Misslingen des „Florian Geyer" eine große Lehre für den Dichter. Die Wiedergeburt des deutschen Dramas liegt nicht in der Umwälzung der dramatischen Form oder doch nur insoweit darin, als diese Umwälzung Mittel zum Zwecke ist. Die Missachtung der überkommenen dramatischen Formen ist ein großer Fortschritt, wenn durch sie ein neuer Inhalt des Dramas erobert werden kann und soll, aber sie wird von Übel, wenn sie um ihrer selbst willen da sein will, wenn sie die realistische Wiedergabe zufälliger Äußerlichkeiten über die geistige Widerspiegelung des historischen Prozesses stellt. Es ist eine bittere, aber nicht unverdiente Ironie des Schicksals, dass Hauptmanns „Florian Geyer" bei all seinem Naturalismus auf der Bühne bedenklich an die rasselnden Ritterstücke erinnert, in denen mit Recht die Urbilder dramatischer Unnatur erblickt werden.

1 Gemeint ist Wilhelm Blos: Florian Geyer. Lebens- und Charakterbild aus dem großen Bauernkrieg. (In: Die Neue Zeit, 4. Jg. 1886, S. 58-65, 108-116, 165-174.)

2 In den „Ästhetischen Streifzügen" (November 1898 – Januar 1899) revidierte Mehring dieses Urteil.

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