Franz Mehring 18940300 Sudermanns „Sodoms Ende“

Franz Mehring: Sudermanns „Sodoms Ende“

März 1894

[Die Volksbühne, 2. Jg. 1893/94, Heft 7, S. 3-7. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 241-244]

Unter den drei Dramen Sudermanns ist „Sodoms Ende" das sozial ausgreifendste. Es schildert mit krassen, aber nicht unwahren Farben Berlin W, die oberste Schicht der kapitalistischen Welt, jene verfaulte Gesellschaft, die in den Schmuckkästlein der Tiergarten-Villen haust und unter goldschimmernder Oberfläche so viel geistige Nichtigkeit, so viel sittliche Verkommenheit birgt. Diese Barczinowski, diese Schönlein, diese Meyer, diese Süßkind leben und weben so, wie Sudermann sie schildert. Sie feiern ihre lärmenden Feste, sie verschlemmen an einem Abend, was der Fleiß von tausend Proletarierhänden in einem Jahre geschaffen hat, sie rollen auf Gummirädern durch die Straßen der Weltstadt und lächeln mit müder Verachtung, wenn der Huf ihrer Gäule der im heißen Kampf ums Dasein dahin hastenden Menge den Schmutz auf die Kleider spritzt. Opfer der kapitalistischen Gesellschaft auch sie, wie jene anderen Opfer, die in den Verbrecherkellern des Lumpenproletariats hausen. Die einen gehören zu den andern, wie der Pol zum Gegenpol gehört; getrennt durch tausend Sprossen der gesellschaftlichen Stufenleiter, hängen sie untrennbar zusammen. Sie ergänzen sich gegenseitig; das Band, das sie verknüpft, ist die gleiche innere Verlumpung. Höchstens ist diese Verlumpung unter den seidenen Hüllen des Börsenpöbels noch abstoßender und ekelhafter als sie immer unter den Lumpen des Lumpenproletariats erscheinen mag.

Die Tragik in einer aller Tragik so baren Welt schafft Sudermann durch das Schicksal eines genialen Künstlers, der unter den Pöbel in Seidenhüten geraten ist und an ihm verkommt. Doch handelt es sich dabei um ein durchaus künstlerisches Schaffen. Wir wissen nicht, ob der Dichter, als er „Sodoms Ende" schrieb, das düstere Schicksal des Malers Stauffer-Bern gekannt hat1. Jedenfalls sind die Briefe und Tagebücher dieses unglücklichen Künstlers erst veröffentlicht worden, als „Sodoms Ende" längst erschienen war, aber sie bestätigen mit furchtbarer Klarheit, dass Willy Janikow, der Held von Sudermanns Schauspiel, gelebt hat. Und nach den inneren Gesetzen der kapitalistischen Gesellschaft muss man annehmen, dass seinesgleichen auch noch lebt. Es ist nicht wahr, es ist ein von kapitalistischen Klopffechtern, mögen sie nun Treitschke oder Brahm oder Eugen Richter oder wie sonst heißen, erfundenes Märchen, dass die Kunst ohne den Luxus dieser Gesellschaft nicht leben kann. Jahrtausende ehe es einen Kapitalismus gab, hat die Kunst die herrlichsten Meisterwerke geschaffen, und wenn sie auch in der kapitalistischen Epoche ihre glänzenden Zeiten gehabt hat, so doch nur dann und so lange, als der Kapitalismus jugendkräftig und revolutionär war, als er seinerseits überlebten Produktionsweisen einen Krieg auf Leben und Tod machte. Sobald er selbst in das Stadium des Niedergangs trat, riss er auch die auf seinem Boden blühende Kunst mit ins Verderben. Wer sich nicht selbst verblenden will, kann heute den Untergang der Kunst am Kapitalismus mit Händen greifen.

Im Gegensatz zu den kapitalistischen Klopffechtern bekennt sich Sudermann in „Sodoms Ende" ehrlich zu dieser Tatsache; ergreifend und erschütternd wie sie ist vom Standpunkte der Kunst und der Künstler aus, weiß er ihr einen ergreifenden und erschütternden Ausdruck zu geben. Das gibt seinem Schauspiele eine hohe soziale Bedeutung. Eher könnte man zweifeln, ob dieser sozialen Bedeutung die dichterische Bedeutung von „Sodoms Ende" entspräche, und in der Tat muss man sagen, dass „Sodoms Ende" unter Sudermanns Dramen wie das sozial ausgreifendste, so das dramatisch schwächste ist. Tragische Dichtungen, deren Held ein Denker oder Dichter oder Künstler oder überhaupt ein innerlich schaffender Mensch ist, leiden von vornherein an einer eigentümlichen Schwierigkeit; ihnen fehlt das tatkräftige, das spannende Element, sie ermüden und verschleppen leicht. Das Denken, Dichten, Malen, Meißeln, überhaupt das innerliche Schaffen lässt sich nicht in dramatische Tat umsetzen; an solchen Helden erblicken wir immer die schwächliche und unterliegende, nie die starke und kämpfende Seite. Dass Willy Janikow in bejammernswerter Schwäche der kapitalistischen Gesellschaft unterliegt, sehen wir durch fünf lange Akte; dass er ein bedeutender Künstler ist, ein mächtiges Talent, das Großes geschaffen hat und noch Größeres verspricht, müssen wir auf die einfache Versicherung des Dichters annehmen. Wir glauben ihm gern, aber die dramatische Wirkung wird dadurch geschwächt, dass er diese Seite des Helden, die uns allein ein tieferes Interesse an seinem Tun und Leiden einflößen kann, nicht in dramatische Tat umzusetzen vermag. Es ist eine Schwäche, die nicht dem einzelnen Dichter zur Last fällt, sondern die aus den eben entwickelten inneren Gründen allen Künstlerdramen anzuhaften pflegt.

Namentlich der fünfte Akt von „Sodoms Ende" leidet darunter. Es ist tragische Wahrheit darin, dass der verkommene Künstler an der Leiche seines unschuldigen Opfers noch einmal im letzten Aufflackern seines in Schmach und Schuld versinkenden Lebens von wildem Schaffensdrange ergriffen wird und dann tot unter seiner Staffelei zusammenbricht. Aber künstlerisch ist der Blutsturz Willy Janikows, bei dem der Zuschauer wieder voraussetzen muss, dass er den Tod herbeiführt, doch nicht weniger ein Gott aus der Zaubermaschine als der Schlagfluss des alten Obersten in der „Heimat" oder der märchenhafte Kaffeekönig in der „Ehre". So leichten Kaufs lässt die Bourgeoisie ihre Opfer nicht los; das hat Stauffers Schicksal mit entsetzlicher Deutlichkeit gezeigt. Aber, wie gesagt, der Tadel trifft in diesem Falle weniger den Dichter als den Stoff, den er gewählt hat. Die Bühne hat ihre bestimmten Grenzen in Raum und Zeit; sie kann den Verlumpungsprozess eines genialen Künstlers nicht durch seine hundert Stadien verfolgen; bei allen Künstlerdramen bleibt ein unkünstlerischer Rest, mit dem man vorliebnehmen muss und, wenn sonst ein würdiger Gegenstand gewählt und würdig behandelt ist, auch vorliebnehmen kann.

Die Gestalten, die uns Sudermann aus Berlin W vorführt, sind von unheimlicher Lebenswahrheit, wie krass er mitunter die Farben aufgetragen zu haben scheint. So gänzlich entnervt, eine so schlappe Masse, der alle Knochen verfault sind, ist dieser Millionärs-Mob tatsächlich. Am besten ist dem Dichter wohl der Schriftsteller Weiße gelungen. Derartige Größen der kapitalistischen Literatur haben wir seit 1870 in Scharen umherwimmeln sehen. Sie leben auch heute noch in Scharen und sind dadurch nicht besser, sondern eher schlechter geworden, dass sie ihr bisschen zynischen Witz abgestreift und dafür den kollerigen Nietzsche-Dusel angezogen haben. Nächst Weiße ist Adah Barczinowski am besten herausgekommen, die reiche Löwin, die Prostituierte der großbürgerlichen Ehe, auch sie der verächtliche Gegenpol der armen Dirne, die gepeitscht vom Hunger beim Scheine der Gaslaterne ihre Liebhaber sucht. Die sentimentalen Töne, die Adah gelegentlich anschlägt, gehören zu ihrem horizontalen Gewerbe; es ist der hohle Widerklang ausgehöhlter Gestalten.

Nicht ebenso glücklich hat Sudermann die kleinbürgerlichen Gegenspieler getroffen. Das hängt tief mit dem inneren Wesen dieses Dramatikers zusammen. Er empfindet mit aufrichtigem Abscheu die erstickende, schwüle Atmosphäre von Berlin W, aber er weiß nicht, dass der Weg der Rettung unmittelbar nach Berlin O führt, dass, wer von der großbürgerlichen Welt genesen will, sich in die proletarische Welt retten muss. Statt dessen sucht er die kleinbürgerliche Welt auf, deren engherzige Beschränktheit sich seinem dichterischen Fluge sofort wie ein Bleigewicht anhängt. Da er aber schlechterdings nicht über ihre Grenzen hinauswill, so treibt er sich mit zorniger Ungeduld in diesen Grenzen umher, und aus den Gestalten, die ihm zu Idealen erwachsen sollen, werden tatsächlich Zerrbilder. Man braucht nicht für die kleinbürgerliche Welt zu schwärmen, um zu erkennen, dass solche Trottel wie der Schulamtskandidat Kramer in ihr doch unmöglich sind. Nicht viel besser steht es um den alten Janikow, und sehr gegen die Absicht des Dichters drängt sich die Empfindung auf, dass ein ursprünglicher Künstler lieber noch in der großbürgerlichen Welt verlumpt, als in dieser kleinbürgerlichen Welt abstirbt, trotz aller moralischen Gemeinplätze, womit der Philister Riemann das Gegenteil beweisen möchte.

Wir unterschätzen weder das Talent Sudermanns noch sein redliches Streben. Aber ihm wie allen seinesgleichen droht das gleiche Verhängnis. Man wird heutzutage kein großer Dramatiker mehr, wenn man die Welt des Proletariats nicht kennt und versteht.

1 Näheres über das Schicksal Stauffer-Berns in dem Artikel „Unsere Voltaire".

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