Franz Mehring 18930100 „Andere Zeiten“

Franz Mehring: „Andere Zeiten“

Schauspiel von Paul Bader

Januar 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 3, S. 3-8. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 463-467]

Wie Hermann Fabers „Freier Wille"1 ist auch Paul Baders Schauspiel das Werk eines dramatischen Anfängers. Gemeinsam ist beiden jungen Dichtern das ernste Ringen mit den sozialen Problemen der Gegenwart. Sie schleichen nicht gleich manchen Matadoren der modischen sozialen Theaterschriftstellerei um den heißen Brei herum; sie gleichen nicht scheuen Kätzlein, die ihre Pfoten gern wärmen, aber beileibe nicht verbrennen möchten. Sie spielen nicht mit sozialen Schlagworten, sondern sie schildern die sozialen Zustände, wie sie sind, in herber Wahrhaftigkeit.

Beide Schauspiele sind völlig unabhängig voneinander entstanden. Ihre Verfasser kennen einander nicht, und wenn Hermann Faber das – erst als Manuskript gedruckte – Schauspiel von Paul Bader noch gar nicht gesehen hat, so hat Paul Bader, wie wir wissen, das Schauspiel von Hermann Faber erst gelesen, nachdem es an der Freien Volksbühne aufgeführt worden war, lange nachdem er sein eigenes Stück unserem Ausschuss eingereicht hatte. Wir heben diesen sonst gleichgültigen Umstand hervor, weil vielleicht manchem unserer Mitglieder eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden Schauspielen auffällt; namentlich erinnern „Andere Zeiten" in ihrem ersten Aufzug ein wenig an den „Freien Willen". Es wäre vollkommen unrichtig, daraus zu schließen, dass die beiden jungen Dichter irgendetwas voneinander entlehnt hätten. Die Ähnlichkeit, soweit sie überhaupt vorhanden ist, erklärt sich daraus, dass Faber und Bader auf demselben Schauplatze ihre sozialen Studien gemacht haben, in Frankfurt a. M., jenem großen süddeutschen Handelsplatz und Kapitalmarkt, dessen ökonomische Entwicklung schon vor einem halben Jahrhundert so reif und selbst überreif geworden war, dass der kosmopolitische Nachtwächter von ihm sang:


Wahrlich, hier kann wieder gelten

Jenes Afrikaners Schelten:

Feiles Nest, wenn nur zur Stunden

Sich ein Käufer eingefunden!


In solchen alten Brutnestern des Kapitalismus sind die Klassengegensätze viel schärfer und schroffer ausgeprägt als in jüngeren Handels- und Industrieplätzen. Wenn hier die Grenzen der Bourgeoisie und des Proletariats noch mannigfach verschwimmen, so sind sie dort schon klar ausgeprägt. Über den klaffenden Abgrund führt keine Brücke mehr; ja, jeder Versuch, in ehrlicher oder unehrlicher Absicht eine solche Brücke zu schlagen, lässt nur erkennen, wie weit die Ränder der Kluft voneinander entfernt sind, auch da, wo sie scheinbar noch am nächsten zusammenliegen. In Fabers wie in Baders Schauspiele sind die Träger des Kapitalismus fortgeschrittene Biedermänner, die immer einen ganzen Sack voll schöner Redensarten über Freiheit, Menschenwürde, Unabhängigkeit der Überzeugung und dergleichen mehr bei der Hand haben, aber in ihrem Handeln sich, unbekümmert um all diese herrlichen Dinge, nur von ihrem kapitalistischen Interesse leiten lassen. Diese Ähnlichkeit gereicht den beiden Schauspielen aber nur zur Ehre, denn sie beweist, dass ihre Verfasser die Zustände, die sie schildern, genau studiert haben und ehrlich wiedergeben.

Allein weit größer als die Ähnlichkeiten sind die Unterschiede zwischen den Dramen von Faber und Bader. Fabers Schauspiel bewegt sich noch ganz und gar in bürgerlichen Kreisen; er schildert die Unterjochung des geistigen und künstlerischen Proletariats durch den Kapitalismus; er sieht noch nicht den rettenden Ausweg aus dem traurigen Wirrsal. Bader dagegen lässt eine Reihe lebenswahrer Gestalten von hüben und drüben in dem großen Kampfe der Zeit aufeinanderplatzen; er bringt zum ersten Male das Proletariat auf die Bühne, nicht das Lumpenproletariat aus dem Bordell und der Schnapskneipe, wie es manch angeblich „naturalistischer" Dichterling sonst wohl schon – und mitunter treffend genug – gezeichnet hat, sondern das wirkliche Proletariat, das Proletariat, das sich nicht in trostlosem Pessimismus verzehrt oder in unsauberen Vergnügungen betäubt, sondern das in hoffnungsfrohem Optimismus trotz alledem arbeitet und kämpft und sich regt um „der Menschheit große Gegenstände". Bader sieht nicht bloß die versinkende, sondern auch die aufsteigende Welt; er zuerst unter dem Geschlecht unserer jungen Dichter schafft Spiel und Gegenspiel nach den weiten Gesichtspunkten, die dem sozialen Drama, das wirklich diesen Namen verdienen will, in unserer bewegten Zeit zukommen.

Wir sagten schon, dass Baders Schauspiel ein Erstlingswerk sei, und so, wie es dem Ausschuss eingereicht wurde, litt es an dem Fehler aller oder wenigstens aller tüchtigen Erstlingswerke: der junge Dichter ging allzu verschwenderisch mit seinem Reichtum um, und die Einheitlichkeit der dramatischen Handlung wurde etwas gestört durch die Überfülle der Motive. Dadurch gewann das Schauspiel aber auch einen Umfang, der seine Darstellung auf der Freien Volksbühne ohne beträchtliche Kürzungen unmöglich machte. Es ergab sich somit die leidige Notwendigkeit zu kürzen, eine Notwendigkeit, die gewöhnlich noch peinlicher für den ist, der kürzen soll, als für den, der gekürzt wird. Bei der strengen Folgerichtigkeit, womit die einzelnen Charaktere vom Dichter entworfen und ausgeführt sind, erwies es sich bald als unmöglich, durch eine Reihe von Streichungen im Dialog die Spielzeit des Dramas auf die Stundenzahl zusammenzudrängen, die der Freien Volksbühne zur Verfügung steht; es blieb nichts übrig, als im Einverständnis mit dem Verfasser eine Liebesepisode ganz herauszubrechen, die, an sich fesselnd genug und auch von sozialem Gehalte getränkt, doch nur in mehr mittelbarem Zusammenhange mit der Handlung des Schauspiels stand und auch mehr flüchtig gezeichnet als bis auf den Grund erschöpft war. Aber freilich: aus einem durchdachten Dichtwerke lässt sich nicht einmal eine Episode lösen ohne mannigfache Beeinträchtigung des Ganzen; diese und jene leisen Übergänge werden zerstört; manches erscheint gröber, schroffer, unvermittelter als in der ursprünglichen Anlage. Und um den Dichter nicht für etwas leiden zu lassen, was er nicht selbst verschuldet hat, sei diese Kürzung hier ausdrücklich erwähnt. Wenigstens insofern aber hoffen wir, dass aus der Not eine Tugend entstanden ist, als die Mitglieder der Freien Volksbühne in dem Zusammenstoße größerer und mächtigerer Interessen die Konflikte der individuellen Geschlechtsliebe nicht vermissen werden. Die bürgerliche Dramatik hat sich auch darin überlebt, dass die Liebe der Geschlechter ihr ständiger Drehzapfen ist, dass sich Lust- und Trauerspiele nach Lessings derbem Ausdruck hauptsächlich dadurch unterscheiden, ob der Kerl das Mensch kriegt oder nicht.

Die Komposition von Baders Schauspiel ist einfach und natürlich. Aus dem ökonomischen Klassenkampfe, wie wir ihn alle Tage sehen, entspinnt sich der politische Kampf der Parteien, wie er an den Entscheidungstagen des allgemeinen Stimmrechts in seine dramatisch bewegteste Erscheinungsform tritt. Nicht zwar, als ob das Drama ein Tendenzstück sein sollte oder auch nur wider die Absicht des Dichters geworden wäre. Der Zeitungsverleger Sanders ist kein Zerrbild, kein Ungeheuer, „wie's in schwülen Dichtertagen das Gehirn des Dichters schafft"; er ist auch keine brutale Photographie eines zufälligen Individuums, sondern ein lebendiger Mensch, wie ihn die kapitalistische Entwicklung schafft, und fast noch mehr Opfer als Träger des Kapitalismus. Der einzige Zug, welcher mit der im besten Sinne des Wortes naturalistischen Handlung in einem gewissen Widerspruch zu stehen und ein letzter Nachklang der bürgerlichen Romantik zu sein scheint, die nahe Blutsverwandtschaft zwischen den feindlichen Trägern des dramatischen Konflikts, verstärkt gerade die innere Naturwahrheit dieser beiden Gestalten. Sanders und Oppelmann sind sich nach Charakter und Geist so ähnlich, wie Vater und Sohn sich zu ähneln pflegen; was sie dennoch so unähnlich macht, was sie als verkörperte Gegensätze in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüberstellt, das ist jenes tragische Gesetz, das bisher über allem menschlichen Schicksal gewaltet hat: jeder wird das, wozu ihn seine Klasse macht. Jeder, oder doch fast jeder, denn die einzelnen Ideologen, die sich jeweilig über ihren Klassenstandpunkt erheben – und der Dichter selbst zeichnet einen solchen in dem Redakteur Wegner –, bleiben immer weiße Raben. Ungleich verächtlicher als Sanders ist sein siebengescheiter Tintenkuli Bach; ein schielender Knirps, frech und dabei doch feige, mit feiler Feder in dem Schwindel geübt, unter der gleißenden Maske angeblich „politischer Freiheiten" die soziale Unterdrückung zu verherrlichen.

Der zweite Redakteur Wegner ist, wie schon erwähnt, ein bürgerlicher Ideologe, der durch das ernste Studium der Arbeiterzustände zu der Erkenntnis gediehen ist, dass jede politische Freiheit ohne den festen Unterbau der sozialen Freiheit ein tönend Erz und eine klingende Schelle ist. Er zieht aus seiner neu gewonnenen Überzeugung die richtige Konsequenz und geht zur proletarischen Bewegung über, nicht ganz ohne einige Vorbehalte, was von dem Dichter wiederum fein beobachtet ist. Es ist eben ungeheuer schwer auch für aufrichtige und nachdenkende Menschen, ihre Klassenvorurteile bis auf den Grund abzustreifen. So sehr sie Herz und Verstand auf die Seite des Proletariats treiben, ein bisschen möchten sie doch gern gekrönt bleiben, und sie nehmen für geistige Überlegenheit, was tatsächlich nur die letzten Spinnweben des Klassenhochmuts sind. In gewissem Gegensatze zu Wegner, der aus ideellen Beweggründen seine Klasse verlässt, steht der Faktor Dienstbier, der sich gegen den klingenden Lohn materieller Vorteile seinen Klasseninteressen abwendig machen lässt und mit dieser schnöden Preisgabe seines besseren Selbst moralisch gänzlich verkommt, bis er dann im Walten einer gerechten Nemesis aus einem verächtlichen Werkzeuge eine noch verächtlichere Geißel seines Herrn wird.

Es erübrigt endlich ein Wort über die Proletariergruppe des Schauspiels, den Schriftsetzer Oppelmann und seine Mutter, den Schriftsetzer Schmidt, den Metallarbeiter Heuer. Doch kann dies Wort glücklicherweise kurz sein. Wer diese prächtigen Gestalten sieht, erkennt auf den ersten Blick, dass sie frisch aus dem Leben gegriffen sind, dass sie alles Leid und alle Lust des modernen Proletariats atmen. In der rührend-schlichten Gestalt der Frau Oppelmann klingt die tiefe Wehmut eines schnöde zerbrochenen Frauenlebens wider, aber die Männer sind voll grimmen Humors, und mit hellem Blick schauen sie in die Zukunft. Sie blasen nicht pessimistische Trübsal; sie hämmern mit kräftiger Faust den Bau einer glücklichen Welt. Und in leuchtendem Gegensatze zu der schmucklosen Bescheidenheit, mit der sie, wie rechte Männer, von ihren Personen denken, steht das unerschütterliche Vertrauen auf ihre Sache.

Um dieser Gestalten willen allein schon gehört Baders Schauspiel auf die Freie Volksbühne. Es hat unzweifelhaft auch seine Mängel und Schwächen; wie jede Erstlingsarbeit leidet es an manchen Unbeholfenheiten und Ungelenkigkeiten, und leider hat ihm aus dem schon angegebenen Grunde auch der Regiestift einiges Leid zufügen müssen. Aber alles dies wird weit überwogen dadurch, dass der junge Dichter zum ersten Male das arbeitende und kämpfende Proletariat auf die Bretter gestellt hat, die die Welt bedeuten, und dafür gebührt ihm von der Freien Volksbühne ein herzliches Glückauf!

1 Siehe dazu die Rezension vom November 1892.

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