Franz Mehring 19040629 Ein vormärzlicher Literat

Franz Mehring: Ein vormärzlicher Literat

29. Juni 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 417-420. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 385-389]

Etwas abgenutzter belletristischer Pomp, etwas nachaffektierte Weltverachtung – die bei Hegel eine Kühnheit war, bei Herrn Jordan eine wohlfeile plattgetretene Albernheit wird – kurz, etwas Glocke und etwas Kanone, Schall und Rauch in schlechte Sätze gebracht, und dazu eine namenlose Verwirrung und Unwissenheit über die gewöhnlichen geschichtlichen Verhältnisse"1 – mit diesen Worten kennzeichnete einst die „Neue Rheinische Zeitung" das parlamentarische Auftreten Wilhelm Jordans in derselben Paulskirche, in der dem nunmehr verstorbenen Dichter die Leichenfeier gerüstet worden ist.

Es gehört ein auffallendes Maß an historischer Geschmack- und Taktlosigkeit dazu, die Ehrung eines toten Mannes darin zu sehen, dass man ihn über den Ort zu Grabe trägt, wo er die schwerste Schuld seines Lebens auf sich geladen hat. Man kann mit Fug sagen, dass Wilhelm Jordan diese Schuld lange überlebt habe und dass man der Geschichte überlassen könne, sie zu richten, ohne gerade an seinem offenen Grabe darüber eine lange Moralpredigt zu halten. Aber dann soll man auch nicht von der umgekehrten Seite her der Geschichte in ihr Richteramt greifen und die Gespenster heraufbeschwören, deren klapperndes Gebein man vergebens unter schönrednerischen Schlagworten zu verbergen sucht.

Den Verrat, den Jordan in der deutschen Nationalversammlung von 1848 beging, indem er sich als Redner der Linken plötzlich auf die Seite der preußischen Helden schlug, die mit Feuer und Schwert in der Provinz Posen wüteten, sucht man heute in einen Akt patriotischer Entsagung und Erhebung umzufälschen. Es wird gesagt, Jordan als geborener Ostpreuße habe die polnische Rasse und ihre ganze Unverbesserlichkeit gekannt, und es zeuge von einer ehrenhaften Selbständigkeit des Urteils, dass er um des Vaterlandes willen die öde Parteischablone zerbrochen habe. Man kennt ja zur Genüge diese Redewendungen, mit denen alles und jedes Renegatentum beschönigt werden kann und beschönigt wird. Nun braucht noch gar nicht einmal betont zu werden, dass Jordan begeisterte Polenlieder verfasst und Lelewels „Geschichte Polens" mit einer polenschwärmenden Vorrede übersetzt hatte. Rein objektiv schon musste sich jedes Mitglied der Linken in der Paulskirche darüber klar sein, dass, wenn die deutsche Revolution sich nicht zu einem Bündnis mit der polnischen Revolution entschließen konnte, ihr eigenes Schicksal besiegelt war und sie nunmehr, ohne die polnische Hilfe, die den Zaren lahmlegte, eine Beute des Zaren werden musste, wie sie es denn auch geworden ist. Ein Mann wie Robert Blum, der die Polenfrage in ihren tieferen historischen Zusammenhängen keineswegs zu erfassen wusste, aber echt revolutionären Instinkt besaß, erkannte sofort, was Jordans Abfall gerade in dieser Frage bedeutete, und beantragte seinen sofortigen Ausschluss aus der Partei der Linken, was leider in übel angebrachter Vertuschungssucht abgelehnt wurde. Jordan selbst war ehrlicher und ging freiwillig zu der borussischen Erbkaiserpartei über; er brachte es dann bis zum Rat in dem imaginären Reichsministerium für die Marine und rettete aus den Trümmern der Revolution wenigstens sein Gehalt, das ihm die preußische Regierung bis zu seinem Lebensende gezahlt hat.

Jedoch die Geschichte lässt ihrer nicht spotten, und zur Zeit, wo für Jordan eine theatralisch-unwahre Leichenfeier in der Paulskirche stattfand, feierte sie sein wahres Gedächtnisfest im preußischen Abgeordnetenhause, in der Beratung jenes schnöden Gesetzes, das die Polen auf ihrem eigenen Grund und Boden vogelfrei, ihre verfassungsmäßig verbürgte Ansiedlungsfreiheit von dem souveränen Belieben der preußischen Bürokratie abhängig macht.2 Das ist die bittere Frucht aus dem Samen, den einst Jordan in der Paulskirche gestreut hat. Statt der wohlfeilen Tiraden, die der bürgerliche Liberalismus heute gegen die Bedrängung der polnischen Reichs- und Staatsangehörigen schleudert, sollte er an seine Brust schlagen und reumütig bekennen: Mein ist die Schuld oder doch der größte Teil der Schuld.

Jordan sagte in der Paulskirche: „Mag man immerhin der Geschichte recht geben, die, auf ihrem von der Notwendigkeit vorgezeichneten Gange, ein Volkstum, das nicht mehr stark genug ist, sich zu erhalten unter ebenbürtigen Nationen, mit ehernem Fuße stets unerbittlich zertritt, so wäre es doch unmenschlich und barbarisch, sich gegen alle Teilnahme zu verschließen beim Anblick der langen Passion eines solchen Volkes, und ich bin weit entfernt von einer solchen Gefühllosigkeit. Ein anderes aber ist es, ergriffen zu sein von einem Trauerspiel, und ein anderes, dies Trauerspiel gleichsam rückgängig machen zu wollen. Eben nur die eiserne Notwendigkeit, welcher der Held unterliegt, macht sein Geschick zur wahren Tragödie, und in den Gang dieses Schicksals eingreifen, aus menschlicher Teilnahme das umrollende Rad der Geschichte aufhalten und noch einmal zurückdrehen zu wollen, das hieße sich selbst der Gefahr preisgeben, von ihm zermalmt zu werden. Polen bloß deshalb herstellen zu wollen, weil sein Untergang mit gerechter Trauer erfüllt, das nenne ich eine schwachsinnige Sentimentalität." Genau dasselbe sagt heute Herr v. Hammerstein zur Verteidigung des empörenden Ansiedlungsgesetzes, nur dass der preußische Junker den „abgenutzten belletristischen Pomp" verschmäht, woraus wir ihm beiläufig nicht den geringsten Vorwurf machen. In der Politik ist er nichts anderes als „schwachsinnige Sentimentalität", von der sich völlig frei gemacht zu haben der junkerlichen Politik ein entschiedenes Übergewicht über die liberale Politik gibt.

Soviel zur Kritik der unwürdigen Schaustellung, die mit dem toten Jordan in der Paulskirche getrieben worden ist. Sonst aber liegen seine politischen Verfehlungen weit genug zurück, um ohne Eifer und Zorn über sie zu sprechen und dem Toten die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dass sie die Sünden seiner Klasse viel mehr als seine eigenen Sünden gewesen sind. Jordan war ein vormärzlicher Literat und ist es all sein Lebtag geblieben. Kein Dichter wie Herwegh oder Freiligrath und kein Denker wie Feuerbach und Marx, aber doch ein Stück von einem Dichter und auch ein Stück von einem Denker, in unausgegorener Mischung, wie es ihrer so viele gab, zur Zeit, wo das Dichten und Denken handwerksmäßig geworden war und neue schöpferische Antriebe nur vom Gebiete der politischen Aktion und der ökonomischen Produktion kommen konnten, von Gebieten, auf denen sich mit allen philosophischen und politischen Anläufen niemals zurechtzufinden das eigentliche Wesen des vormärzlichen Literaten ausmacht. Man könnte sagen, in Jordan sei der letzte Vertreter dieser Art, der noch wie eine Ruine in unsere Zeit geragt hatte, ins Grab gestiegen, wenn sie nicht doch noch einen allerletzten Vertreter hätte, Herrn Rudolf Gottschall in Leipzig, der den Typus wohl noch schärfer, aber allerdings auch noch unerfreulicher ausprägt als Jordan.3

Die Gedichte, durch die Jordans Name in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zuerst bekannt wurde, weniger ihres ästhetischen Wertes wegen, als weil ihnen die vormärzliche Zensur ein wohlfeiles Märtyrertum bereitete, sind heute völlig vergessen. Dem Namen nach wenigstens ist sein „Demiurgus" bekannt, ein „tiefsinniges Mysterium", wie er genannt zu werden pflegt. Diese „moderne Theodizee", die nicht weniger als drei Bände umfasst, erschien um die Mitte der fünfziger Jahre und zeigte durch ihr bloßes Dasein, wie vollkommen Jordan damals schon der nationalen Entwicklung abgestorben war. Die deutsche Bourgeoisie hatte in jener Zeit ganz andere Interessen und lebte in einer ganz anderen Gedankenwelt, als dass ihr so ein episch-dramatisch-metaphysisches Ungeheuer hätte imponieren können, bei aller im Grunde philisterhaften Tendenz, Denn wenn es das Verhängnis des vormärzlichen Literaten war, niemals aus der Philisterhaut herausschlüpfen zu können, so war es nicht minder sein Verhängnis, sich anstellen zu müssen, als wolle er Himmel und Erde umwälzen. Das „tiefsinnige Mysterium" Jordans beruht auf dem höchst bornierten und der Bourgeoisie wohlgefälligen „Gedanken", dass wir in der besten aller Welten leben und gerade die Laster der einzelnen das Wohl der Gesamtheit verursachen, aber diese liebliche Vorstellung wurde mit einem Wust von gelehrten Umschweifen ausgepatscht, den der deutsche Patriot nicht mehr verdauen konnte, da er nun zu begreifen anfing, dass Zeit Geld sei. Die Poeten, die ihn nach Julian Schmidts Rate bei seiner „Arbeit" aufsuchen wollten, mussten sich viel kürzer und verständlicher zu fassen verstehen, wenn er sie lesen sollte.

Besser traf Jordan den Geschmack seines Publikums, mit der epischen Nachdichtung der Nibelungen, die er selbst auf Reisen in drei Weltteilen als wandernder Rhapsode vortrug, doch war es mehr ein äußerlicher Modeerfolg, der diesem Werke keine dauernde und wirkliche Popularität verschafft hat. Der Mangel jeder Gestaltungskraft unterschied den vormärzlichen Literaten vom wirklichen Dichter; man greift den Unterschied mit Händen, wenn man Hebbels „Nibelungen" mit Jordans „Nibelungen" vergleicht. Aber Jordan kam mit diesem Werke gerade ums Jahr 1870 heraus, und so fanden die patriotischen Kraftmeiereien, die er in die alte Heldensage hineintrug, einen fruchtbaren Boden:


Das nennen dann Milde und Menschenliebe

Die blöden Simpel und können's nicht sehen,

Dass die siegende Sanftmut zuletzt in ein Siechhaus

Die Erde verkehrt -


Auch dem Darwinismus, soweit er Modesache war, wusste Jordan ganz geschickt seinen Pegasus vorzuspannen; König Gunther begründet seine Werbung um Brunhild mit den Worten:


Die besondere Satzung der Söhne Dankrats

Bestimmt auch die Stärke, das Maß der Gestaltung

Der künftigen Mutter königlicher Männer.

Ein zierlich geputztes zaghaftes Püppchen

Mit sanftem Gesicht und schwächlichen Sehnen

Ist mir verboten zur Bettgenossin.

Denn Zuwachs durch Zuchtwahl für alle Zeiten

Lautet die Losung, nach der wir leben.


Die Versetzung des alten Epos mit solchen modischen Pikanterien hat den „Nibelungen" Jordans einen großen Augenblickserfolg verschafft; geborene Dichter pflegen sich freilich auf solchen Wegen nicht ertappen zu lassen.

Was Jordan sonst an Dramen und Romanen veröffentlicht hat – und dessen ist sehr viel –, ist schon vor dem Tode seines Verfassers gestorben. Der alte Herr erlebte dann noch das Herzeleid, dass seit der Mitte der achtziger Jahre wieder eine wirkliche Dichtung in Deutschland aufkam, und gegen sie hat er gewettert wie ein Berserker aus den Tagen der Nibelungen. Sein Grabredner in der Paulskirche war so von allem Geschmack und Takt verlassen, dass er den Fehderuf auf den Sarg legte, den Jordan gegen die Hauptmann und Genossen erlassen hatte:


Eh' das Volk vom Höllendampfe

Blind wird gegen Himmelslichter -

Fliege jedes Schwert zum Kampfe

Gegen alle Unsaldichter.


Die Ästhetiker des Naturalismus haben ihm solche Ausfälle mit Zinseszinsen heimgezahlt, und Jordan hat es ihnen allzu leicht gemacht. Immerhin hatten die vormärzlichen Literaten und hatte namentlich Jordan eins voraus, sowohl vor den Dichtern der fünfziger wie der achtziger und neunziger Jahre, nämlich einen gewissen Universalismus der Lebens- und Weltanschauung, ohne den es bei alledem keinen großen Dichter gibt.

Aber freilich, mit ihm allein ist's auch nicht getan, und die Unsterblichkeit ist keinem vormärzlichen Literaten beschieden gewesen oder beschieden.

2 Mehring meint das 1904 erlassene sogenannte Ansiedlungs-Baugesetz. Danach durften Wohngebäude auf parzellierten Grundstücken nur noch mit Genehmigung der Regierung errichtet werden. Diese Genehmigung wurde polnischen Siedlern grundsätzlich verweigert, so dass sie gezwungen waren, ihre Grundstücke zu verkaufen oder in Zigeunerwagen usw. auf ihrem eigenen Land zu kampieren.

3 Siehe dazu „Zensurschnitzel aus Hamburgs Brand“ (Januar 1895).

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