Franz Mehring 19060307 Ferdinand Freiligrath

Franz Mehring: Ferdinand Freiligrath

7. März 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 769-773. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 517-521]

Der Gedenktag des 18. März steht diesmal unter dem Zeichen seines Dichters; an dem Tage, dem sein berühmtestes und gewaltigstes Lied galt, hat Ferdinand Freiligrath vor einem Menschenalter seine Augen für immer geschlossen.

Er ist heute vergessen von der Bourgeoisie, die ihn in ihren noch halbwegs kräftigen Tagen als „den größten Volksdichter" feierte und selbst eine goldene Spende für ihn hatte, als Not und Sorge an die Türe des alternden Mannes pochten. Aber auch im Proletariat genießt er vielleicht nicht alle Ehren, die ihm gebühren. Dem dekadenten und müden Zuge, der durch die ganze sogenannte Moderne geht, ist es gelungen, die „Tendenzpoesie" eines Freiligrath und eines Herwegh in eine Art Schatten zu drängen, als ob Gottfried Keller, den die Modernen ja sonst auf den Schild zu heben pflegen, nicht schon gesagt hätte: „Es ist eine Lüge, was die literarischen Schlafmützen behaupten, dass die Angelegenheiten des Tages keinen bleibenden poetischen Wert hätten." Wenn „neuere Kunstrichter", wie es in einer modischen Literaturgeschichte heißt, überhaupt bestreiten, dass Freiligrath ein Dichter gewesen sei, so rebelliert nicht ein angeblich ästhetisches Urteil gegen eine angeblich prosaische Rhetorik, sondern eine nervöse Schwäche gegen eine überquellende Kraftnatur.

Eine Kraftnatur war Freiligrath in jenem echten und ursprünglichen Sinne, dass sich ihm das tiefste und weichste Empfinden unlöslich verschmolz mit dem Stolz und der Würde des Mannes, dem schon ein Joch von Spinnweben den unbeugsamen Nacken wundscheuerte. Wie er sich einmal in einem Brief an Karl Marx einen „Nationalökonomen" nur „mit dem Gemüt" nennt, so ist ihm aus dem tiefsten Mitleiden der revolutionärste Trotz entstanden; „das Verbrechen, die Not, die Menschlichkeit, die Menschheit: in dieser Folge ist ihm emporgewachsen das Bewusstsein der Zeit und ihres Forderns", wie Guido Weiß in seinem Nekrolog auf Freiligrath schrieb. Und es ist nur dieselbe Einheit im scheinbaren Widerspruch, wenn dieser Dichter, der mit seiner engsten Heimat so verwachsen war, dass der Greis nur noch den einen Wunsch hegte, auf den Höhen des Teutoburger Waldes begraben zu werden, wo einst seine Wiege gestanden hatte, als Jüngling damit begann, sein trunkenes Auge durch die fernsten und fremdesten Zonen schweifen zu lassen.

In harmonischem Aufgang ist Freiligrath der Dichter gewesen für die Knaben, für die Jünglinge, für die Männer, und gleichen Schrittes hat sich der brausende zum feurigen und endlich zum feinen Wein gezeitigt, das Flackern zum Lodern, das Lodern zum Leuchten. Immer aber kündete sein tönendes Wort die Siege der deutschen Kultur. In demselben Jahre, das die erste deutsche Eisenbahn sah, erschienen Freiligraths erste Gedichte, die in brennender Farbenpracht das Gebiet des Welthandels entrollten. Wohl durfte Freiligrath später sagen: „Meine erste Phase, die Wüsten- und Löwenpoesie, war im Grunde auch revolutionär; es war die allerentschiedenste Opposition gegen die zahme Dichtung und die zahme Sozietät." Und beweiskräftiger noch als des Dichters eigenes Zeugnis war der Jubelruf, womit ihn ein Veteran der Romantik begrüßte, von der die sogenannte Moderne doch nur eine schwächliche Wiedergeburt ist: Clemens Brentano, dessen geborene Künstlerseele sich durch allen romantischen Dunst und Nebel rang, als er von Freiligrath schrieb: dieser gehöre nicht zu denen, die mit ihren eigenen Schmerzen krebsten, wie der Bauer mit der Leiche seiner Frau; es sei treulos, eitel, buhlerisch, seine eigenen Erlebnisse vor der Welt zu prostituieren. Ein zweischneidiges Wort gewiss gegenüber der genialen Natur eines Goethe, aber ein treffendes Wort gegenüber den Dekadenten aller Romantik und ein dreimal treffendes Wort aus dem Munde eines Romantikers, der wirklich ein Dichter war.

Eben der revolutionäre Charakter der „Wüsten- und Löwenpoesie" erklärt den ungeheuren Eindruck, den sie am Ende der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts hervorrief. Es war, als ob in einem dunklen Krankenzimmer voll verpesteter Luft die Fensterläden aufgerissen wurden und eine lachende weite Welt vor den Augen des Kranken lag. Aber freilich war dieser revolutionäre Charakter dem Dichter wie seinen zahllosen Bewunderern noch unbewusst; der neue preußische König spendete dem Sänger des „Löwenritts" eine kleine Jahrespension, um ihm ein sorgenfreies Schaffen zu ermöglichen, und Freiligrath hatte an den lieblichen Ufern des Rheines ein fröhliches Poetendasein. Selbst als Herwegh schon seine Triumphreise durch Deutschland gehalten hatte, hat Freiligrath seine Stimme in das hässliche Katzenkonzert gemischt, das diese tragikomische Episode abschloss. Was ihn daran abstieß, war freilich seiner innersten Natur gemäß, und insofern war er in seinem Recht; er hat es selbst stets seinem, gegen Herwegh gerichteten Worte gehalten: Renommieren verdirbt das Renommee. Aber er durfte nicht über einen Dichter spotten, den preußische Gendarmen über die schwarz-weißen Pfähle hinaustrieben, und nirgends ist er dafür ärger gezaust worden als in der „Rheinischen Zeitung", die Karl Marx herausgab. Jedoch es zeigt wieder den grundehrlichen Charakter Freiligraths, dass er durch all den beißenden Hohn nicht verbittert wurde, sondern in steter Entwicklung die revolutionären Keime reifen ließ, die schon in seinen Jugendgedichten schlummerten, bis er sich ans Herz der Heimat werfen konnte, ein anderer und doch derselbe.

Diese Kerneiche geriet nur langsam in Brand, aber sie brannte dafür um so heller und leuchtender. Herwegh hatte längst ausgesungen, als Freiligrath in der Mitte der vierziger Jahre begann. An revolutionärer Gestaltungskraft übertraf er weit alle seine Vorläufer, wenn er auch nicht immer so melodisch sang wie Herwegh und in seiner knorrigen Art gelegentlich hart an die Karikatur streifte: sang Herwegh „ein Lied, um dich zu preisen, du Nibelungenhort, du Brot und Stein der Weisen, du freies Wort", so zeigte Freiligrath den Zensor im Irrenhause, wie die gemordeten Gedanken auf ihn einstürmen:


Lautlos, wie Ähren – sankt ihr hin,

Legionenweis – ha, welch ein Mähen!

Nie kam mir damals in den Sinn,

Ihr könntet wieder auferstehen!

Hu – ob ihr's könnt! Im Palast hier

Erfuhr ich's, drin ich gern sonst wohne,

Seit ihn für treue Dienste mir

Anwies als Eigentum die Krone!


Ein prächtiger Bau! Doch ganz und gar

Ein Spukhaus eben, will mich dünken!

Weh – eine zorn'ge Leichenschar,

Stürmt ihr heran, mein Blut zu trinken!

Anstürmt ihr, abgehetzt und bleich,

Doch auf der Stirne Mut und Klarheit!

Zwei hohe Weiber führen euch,

Die Freiheit, glaub' ich, und die Wahrheit!


Mit dichterischem Scharfblick hat Freiligrath das Los so vieler Zensoren und der Staatsanwälte geschildert, die das Henkeramt der Zensoren wieder aufleben lassen.

Gefördert wurde seine künstlerische Gestaltungskraft, die seinen Revolutionsliedern die prosaische Rhetorik fernhält, nicht zum wenigsten durch seine nahe Freundschaft mit Karl Marx. Sie hatten sich schnell gefunden, als Freiligrath sein „Glaubensbekenntnis", seine erste revolutionäre Gedichtsammlung, herausgegeben hatte. Später gehörte Freiligrath zu den Redakteuren der „Neuen Rheinischen Zeitung", der er das prächtige Abschiedslied gesungen hat. Im engen geistigen Verkehr mit einem politischen Kopfe, dem jede Leitartikelsprache ein Gräuel war, lief Freiligrath nicht die jedem politischen Dichter freilich drohende Gefahr, je in den gereimten Leitartikel zu verfallen. In einer ganzen Anzahl von Gedichten Freiligraths sind die Spuren des Geistes von Marx unmittelbar nachzuweisen, ja einzelne sind heute nur noch völlig verständlich, wenn man die gleichzeitigen Aufsätze von Marx kennt. Nicht als ob wir deshalb in den Augen der deutschen Patrioten den Dichterruhm Freiligraths schmälern, einen Strahl davon auf Marx leiten wollten! Nur von solchen Gedichten Freiligraths, die vor zehn Jahren ein preußischer Kriegsminister und ihm nach sämtliche Philister „hirnverbrannte Erzeugnisse" schimpften, beanspruchen wir einen Anteil für Marx.

Schon vor der Revolution von 1848 war Freiligrath durch „seiner Lieder Schwert westwärts getrieben" worden, erst nach der Schweiz, dann nach London. Die Revolutionsjahre verlebte er am Rhein, aber nach dem Siege der Gegenrevolution musste er wieder ins Exil schreiten, gerade noch im letzten Augenblick, ehe ihn Stiebers Meineidskünste1 in den Kölner Kommunistenprozess verwickelten. Er ging wieder nach London, wo er fast zwei Jahrzehnte in der harten Tagesfron eines Bankhauses gearbeitet hat. Wie immer, verschmähte er auch jetzt jede Pose; er verspottete die eitlen Prahlereien der Kinkel und Genossen:


Doch nun ade – dir und dem Löwenturm!

Ich bin nur Bär! Bär brumm' ich durch die Massen,

Und gleiße nicht mit meinem „Dichterruhm",

Dem schön zerwetterten, durch Londons Gassen;

Den „Flüchtling", meinst du, könnt' ich doch als Blume

Der Passion im Knopfloch prangen lassen?

Ich dächte gar! Was bin ich diesem Volke?

Hinschreit' ich ruhig unter meiner Wolke.


Und stähle mich in diesem mutigen Leben,

In das aufs Neue mich mein Schicksal warf;

Das unerbittlich mich in frisches Streben

Und Tun hinein spornt, hart und rau und scharf!

Das meine Träume, meine Lieder eben

So wenig kennt, als ihrer je bedarf:

Das, achtlos meiner „Lorbeern", an mir rüttelt,

Und mich – entwurzelt? – nein, nur fester schüttelt!


Ein stolzes und wahres Bekenntnis, aber was den Mann ehrte, das zehrte doch an dem Dichter, dem die „Heimat der Guten", das Exil, keine zweite Heimat werden konnte. Dazu war er zu eng mit dem deutschen Leben verwachsen, und da er nun des geliebten Weibes Heimweh sah, da er der Kinderschar den Weihnachtsbaum auf fremder Erde anzünden musste, rann ihm der Quell der Dichtung selten und spärlich. An dem gereiften Manne erfüllte sich das Wort, das dem Jüngling als eitler Weltschmerz ausgelegt worden war: Der Dichtung Flamm' ist allezeit ein Fluch!

Es kam Schlimmeres, als das Bankhaus aufgelöst wurde, worin Freiligrath gearbeitet hatte. Der fast sechzigjährige Mann stand vor dem Nichts. Es soll der Bourgeoisie unvergessen sein, dass sie nun eine Ehrenschuld tilgte, die das damalige Proletariat noch nicht tilgen konnte, allein mit uneigennütziger Hand zu spenden, ist ihr nun einmal nicht gegeben. Fortan musste der Dichter, der nach Stuttgart übergesiedelt war, ins südliche Deutschland, wo er ein wenig freiere Luft atmete als nördlich des Mains, in die verstimmte Harfe greifen, sobald die Berliner Philister ein Gedicht begehrten für ihren Wohltätigkeitssport, oder die Leipziger Philister gar für die abgeschmackte Narretei ihres nachgemachten Karnevals.

Doch einen letzten Sonnenblick hat ihm sein Genius noch gegönnt, als er den namenlosen Toten der französischen Schlachtfelder sein Lied sang, wie einst den namenlosen Toten der Berliner Barrikaden:


Und nun kam die Nacht, und wir ritten hindann,

Rundum die Wachtfeuer lohten;

Die Rosse schnoben, der Regen rann -

Und wir dachten der Toten, der Toten!


Wo des Todes bleicher Purpur sich breitete, hat diesen farbenfrohesten aller deutschen Dichter am tiefsten die Seele ergriffen, und auch das gehört zu seines Wesens Wesenheit…

Zu seinem dreißigsten Todestag aber seien seine Lieder den deutschen Arbeitern ans Herz gelegt. Für den proletarischen Emanzipationskampf sind sie jünger und moderner als alles, was. die Jungen und Modernen geschaffen haben oder schaffen.

1 Siehe auch ;Sozialistische Lyrik' (1914).

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