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Es folgte nunmehr eine Reihe stiller Jahre, in denen nicht nur Freiligrath, sondern auch Marx jeder aktiven politischen Tätigkeit entsagte. Aus ihnen sind nur verhältnismäßig wenige Briefe Freiligraths erhalten und von Marx überhaupt keine.

Einzelne Spuren ihres freundschaftlichen Verkehrs finden sich in den Briefen Freiligraths an bürgerliche Freunde, die Buchner mitteilt. So schrieb Freiligrath im August 1853 an Theodor Eichmann, Marxens Kinder seien bei den seinigen zu Besuch gewesen, und er habe ihnen zur Belustigung einen Luftballon steigen lassen. Es hätten sich eine Unzahl Menschen dazu eingefunden, „aber die acht Flüchtlingskinder waren mit ihrem Ballon die Helden des Abends. Ein ansehnliches Regiment! Und wie haben sie Hurraaaah! geschrien!" Und im Mai 1855 schrieb er an Heinrich Köster: „Die armen Marx haben am Karfreitag ihren einzigen Knaben verloren – ein so trauriger, entsetzlicher Verlust, dass ich gar nicht sagen kann, wie tief der Fall mir ans Herz gegriffen hat. Am Ostermontag haben wir das liebe Kind begraben – ach, was für Leid gibt es!"

Im Herbst dieses Jahres starb Roland Daniels im siebenunddreißigsten Lebensjahr. Er war im Kölner Kommunistenprozess zwar freigesprochen worden, aber in der anderthalbjährigen Untersuchungshaft hatte er sich den Keim der Schwindsucht geholt. In einem noch vorhandenen erschütternden Briefe an Marx teilte Frau Daniels den Londoner Freunden den Tod ihres Gatten mit; Marx schickte den Brief an Freiligrath, der ihn am 6. Oktober 1855 mit folgenden Begleitzeilen zurücksandte:

Frau Daniels ist eine vortreffliche Frau. Diese schlichte, einfache, verständige Darstellung ist wärmer und ergreifender, als der prunkhafteste Phrasenschwall hätte sein können. Ich bin traurig und niedergeschlagen vom Lesen. Er ist gestorben – sagt sich so leichthin, aber wenn man näher zusieht, wie es denn kam, dass einer gestorben ist – wenn man dem Tode hinter die Kulissen sieht –, so schnürt sich einem die Brust doch zusammen! Und nun ein Freund und ein Mann wie dieser! Und solch ein Hinmorden! Es ist entsetzlich!

Dass Dein eigener Verlust Dich noch immer nicht loslässt, geht mir unendlich nahe. Da lässt sich nichts tun und nichts raten. Ich begreife und ich ehre Deinen Schmerz – aber suche ihn zu bemeistern, damit er Deiner nicht Meister wird. Du begehst damit keinen Verrat am Gedächtnis Deines lieben Kindes."

In diesem Jahre hatte Freiligrath die Kommisstelle aufgegeben, die er drei Jahre lang in dem Seidenwarengeschäft eines Herrn Oxford bekleidet hatte, wegen allzu unbilliger Forderungen, die dieser geriebene Geschäftsmann an seine Arbeitskraft gestellt hatte. Etwa ein Jahr lang lebte er von seiner literarischen Tätigkeit, die er als Flüchtling nie ganz aufgegeben hatte. In den ersten Jahren hatte er eine englische und eine deutsche Anthologie herausgegeben, von denen die erste großen Anklang fand; nun übersetzte er Longfellows „Hiawatha" in seiner meisterhaften Weise, doch fanden diese „indianischen Schnurren" – wie er sie nannte, als er den Töchtern von Marx ein Exemplar stiftete – in Deutschland nicht entfernt den Beifall, den sie in Amerika gefunden hatten. Außer seiner englischen Anthologie war es wesentlich die erste Gedichtsammlung Freiligraths, die in immer neuen Auflagen erschien und ihm nennenswerte Honorare eintrug; auch als Berichterstatter über deutsche Literatur für das „Athenäum", eine angesehene englische Wochenschrift, gewann er eine Erwerbsquelle. Aber alles das genügte nicht, um ihn und seine Familie dauernd zu unterhalten, und man spürt heute noch, wie ihm eine Last vom Herzen fiel, als er am 5. Juli 1856 an Marx melden konnte:

Ich schreibe Dir aus der Threadneedle Street, weil ich (nun wirst Du Dich amüsieren) seit Anfang dieser Woche Manager der hiesigen Sukkursale eines kontinentalen Credit mobilier (das ist verdolmetscht: Vermöbel-Kredits) geworden bin. Das Gehalt ist gut, schon jetzt bedeutend besser als bei Oxford, mit Zusicherung des Steigens schon im zweiten Jahre usw. usw. Wenn nur der tremendous crash (große Krach) nicht allzu bald kommt und sämtliche mobiliers und fonciers mit sich zusammenbrechen lässt, so kann ich es noch bis zum Bankier bringen. Einstweilen bin ich froh, was Festes unter den Füßen zu haben. Die Sache ist zudem ganz interessant."

Die Bank, die den Dichter zum Geschäftsführer ihrer Londoner Agentur machte, war die in Genf domilizierte Banque Generale Suisse. An ihrer Spitze stand Fazy, der Führer der demokratischen Partei in Genf; auch der ungarische Revolutionsgeneral Klapka saß in ihrer Direktion. Süddeutsche Demokraten hatten dem Dichter diese Stellung vermittelt, die ihn auf nahezu ein Jahrzehnt verhältnismäßig sorgenfrei stellte. Sein Gehalt von 300 Pfund wurde schon im nächsten Jahre auf 350 Pfund (7000 Mark) erhöht; zusammen mit seinen literarischen Nebeneinnahmen hatte er jetzt auch für Londoner Verhältnisse ein ausreichendes Einkommen. Es machte ihn jedoch nur um so hilfsbereiter für Exilgenossen, die härter mit der Not des Lebens zu ringen hatten, namentlich auch für Marx, dem Freiligrath in seiner nunmehrigen Stellung manche finanzielle Gefälligkeit erweisen konnte. So wenn er Zahlungen für Marx flüssig machte, schon ehe sie fällig waren, namentlich die Honorare der „New-York Daily Tribüne", die sich oft genug als saumselige Zahlerin erwies. Von diesen kleinen Geschäften und mancherlei Familienangelegenheiten handeln die Briefe Freiligraths, soweit sie bis zum Ende des Jahres 1858 vorhanden sind.

Wenn nun beide Freunde in diesen Jahren sich von politischer Agitation frei hielten, so blieb doch Marx durch seine Studien und namentlich durch seine Korrespondenz für die „New-York Daily Tribüne" in mehr oder minder engem Zusammenhang mit der Politik, während Freiligrath in seinen spärlichen Mußestunden sich der Dichtung widmete und mit den bürgerlich-literarischen Kreisen in mehr oder minder enge Fühlung geriet. Selbst mit Kinkel kam er, wenn nicht in freundschaftlichen, so doch in geselligen Verkehr; sie trafen sich an dritten Orten, und Freiligrath war viel zu gutmütig, um nicht in die Hand einzuschlagen, die Kinkel ihm bot. Auch von Deutschland her wagten jetzt junge Talente mit dem berühmten Poeten wieder anzuknüpfen; hatte ihn im Jahre 1852 noch sein alter Freund Künzel, mit dem gemeinsam er ehedem in Darmstadt eine englisch-deutsche Zeitschrift hatte herausgeben wollen, in auffallender Weise geschnitten, als Künzel mit einer deutschen Schauspielergesellschaft Vorstellungen in London gab, so waren ein halb Dutzend Jahre später die Erinnerungen an die Revolutionsjahre so weit verblasst, dass sich auch patriotische Jünglinge in die Nähe des verrufenen Kommunisten wagten.

Dabei hielt Freiligrath aber seine politische Ehre und Würde durchaus aufrecht. Als im Herbst 1858 der Prinzregent in Preußen zur selbständigen Regierung kam, taten sich so ziemlich alle deutschen Dichter und Dichterlinge zusammen, um ihm einen von Christian Schad herausgegebenen Musenalmanach zu widmen, auch Kinkel war darunter mit vier Gedichten; der einzige, der fehlte, war Freiligrath. Er ließ sich nicht bewegen, etwas für den, wie er spottete, „Schädlichen" zu stiften. Höchst bezeichnend war sein Verhältnis zu jenem jungen Lyriker, der ihn in London aufgesucht und dann in einem gutgemeinten Feuilleton verherrlicht hatte. Dieser junge Lyriker war Julius Rodenberg, der heutige Herausgeber der „Deutschen Rundschau". Er hegte gewiss eine aufrichtige Bewunderung für Freiligrath und wurde von diesem freundlich empfangen, aber er selbst hat mit dankenswerter Aufrichtigkeit erzählt, wie wenig sich Freiligrath durch freundschaftlich-literarische Beziehungen in seinen revolutionären Gesinnungen beirren ließ.

Als Rodenberg im Frühjahr 1859 nach Berlin übersiedelte, hielt er sich meilenweit von dem ihm „sehr unsympathischen Lassalle" fern, schloss aber um so innigere Freundschaft mit George Hesekiel, einem Redakteur und, was mehr sagen will, dem Poeten der „Kreuz-Zeitung", der in zungenbrecherischen Reimen die Wappen und sonstigen Kinkerlitzchen des ostelbischen Junkertums besang. Beide Freunde beschlossen, dass Hesekiel seine gesammelten Reime dem „einzig großen Dichter der Gegenwart", nämlich Freiligrath, widmen sollte, und Rodenberg meldete ihren Entschluss im Dezember 1860 nach London. Freiligraths unverwüstliche Gutherzigkeit ließ es auch jetzt nicht an einigen höflichen Redewendungen fehlen, aber dann kam der gepfefferte Bescheid:

Mein Entschluss (die Widmung abzulehnen) erklärt sich einfach aus dem Faktum, dass Herr Hesekiel einer von den Redakteuren der ,Kreuz-Zeitung' ist, während ich Revolutionär bin und jetzt schon wieder ins zehnte Jahr als Flüchtling im Ausland lebe. Wir dürfen uns gegenseitig nicht in eine falsche Position bringen. Und das würde geschehen, wenn ich die Widmung von Herrn Hesekiels Gedichten annehmen wollte. Sie teilen mir als Motto des Buches mit: Ich trage eure Farben, aber nicht eure Livree! Das, mit Herrn Hesekiels Erlaubnis, ist eine falsche Antithese! Die Fahne, die er meint, und die Livree, die er meint, zeigen dieselben Farben. Und sind die Farben, die er trägt, nicht die seinen, so ist es gleichgültig, ob er sie in der Hand oder auf dem Rücken trägt."

Und als Rodenberg dann wieder zu einem Besuch nach London kam, empfing ihn der „Wüstenkönig" mit einem Löwengebrüll, das den Unglücklichen nach seinem eigenen Zeugnis völlig „zerschmetterte". Nachdem sich das Gewitter ausgetobt hatte, war Freiligrath wieder der alte gute Kerl und schlug vor, die Sache zu vergessen. Jedoch noch ein Menschenalter später schrieb Rodenberg in seinen Erinnerungen an Freiligrath: „Ja, wenn sich so etwas vergessen ließe!"

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