Franz Mehring 18961215 Marcel-Theophil

Franz Mehring: Marcel-Theophil

15. Dezember 1896

[Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 436-439. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 504-509]

Der Blödsinn hat eine ansteckende Kraft. Kaum hat Herr Kanner in Wien das Märchen von dem „Interesse des Dietzschen Verlags" erfunden, als Herr Grunow in Leipzig es ihm nachbetete, und nun kommen schon als neue Gläubige Herr Marcel Herwegh in Paris und Herr Theophil Zolling in Berlin.1 Der erste Ausbruch ihres Fanatismus war freilich nicht darnach angetan, dass wir eine Diskussion mit ihnen anknüpfen konnten. Die beiden braven Männer beschuldigten die Sozialdemokratische Partei, dem von Lassalle heftig angegriffenen Bernstein die Herausgabe von Lassalles Schriften anvertraut zu haben, und sie knüpften daran die liebliche Insinuation, Bernstein werde wohl die ihn kompromittierenden Stellen weggepfuscht haben. Sie verwechselten den sozialdemokratischen Neffen E. Bernstein mit dem fortschrittlichen Oheim A. Bernstein. An Herrn Theophil Zolling war dieser riesige Blunder um so erstaunlicher, als er selbst Herausgeber einer „liberalen" Zeitschrift, nämlich der „Gegenwart", ist. A. Bernstein, der, was immer Lassalle mit ihm gehabt haben mag, sich jedenfalls in einer fast vierzigjährigen Tätigkeit Verdienste um die liberale Sache erworben hat, an welche die „Gegenwart" in ihrer Landauschen wie in ihrer Zollingschen Ära auch nicht fern heranreicht, könnte sich im Grabe umdrehen, wenn er diesen Dank vom Hause Österreich erführe. Sähe er seine kläglichen Epigonen, er ginge vielleicht doch zu der von ihm so heftig befehdeten Sozialdemokratie über. Genug aber: mit solchen Unterstellungen ließ sich nicht streiten. Dagegen kommen Marcel-Theophil in einem neuen Artikel der „Gegenwart" mit einigem nicht ganz so kindischem, aber dafür desto boshafterem Schwindel angezogen, und hiefür können sie mit Fug eine Abfertigung beanspruchen.

Sie behaupten also, das Andenken Georg Herweghs werde „aus dem Verlage des sozialdemokratischen Reichstagsmitglieds Dietz" verunglimpft, weil dieser Verlag nicht den literarischen Nachlass Herweghs in die Hände bekommen habe. Es sind drei Punkte, mit denen Marcel-Theophil operieren. Der erste Punkt betrifft mich. Ich soll Georg Herwegh beschimpft haben, weil ich in einem Aufsatz über ihn, in dem ich historisch untersuche, weshalb sein Ende nicht so glanzvoll gewesen sei wie sein Anfang, gesagt habe: „Selbst sein bestes Gedicht aus späteren Tagen, das ,Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein', ist eine keineswegs talentlose, aber doch allzu sklavische Nachahmung eines bekannten Gedichts von Shelley." Marcel-Theophil behaupten ihrerseits, „beide Gedichte seien sich innig verwandt, aus einem Geiste geboren, im Grundgedanken und besonders in der Form identisch, den paarweise gereimten Trochäen-Vierfüßlern". Das ist doch nichts anderes als meine Ansicht, aus klarem Deutsch in einen mystischen Wortschwall übersetzt. Um überhaupt etwas heraus zu tüfteln, drehen Marcel-Theophil mir die Worte im Munde herum und behaupten, ich hätte schlechthin von einer sklavischen Nachahmung gesprochen, was ästhetisch ein Irrtum und politisch echt sozialdemokratische Undankbarkeit sei. Was ich wirklich gesagt habe, ist eben angeführt worden, und meine Worte zu verdrehen ist ästhetisch eine Albernheit, moralisch aber echt liberale Perfidie.

Da sie selbst von diesem Resultat ihrer Mühen nicht recht befriedigt sind, so berufen sich Marcel-Theophil mit hellem Jubel auf den „Vorwärts", der behauptet hatte, mein „Urteil" rühre „ursprünglich von dem bekannten Antisemiten Eugen Dühring" her. Ich will ihnen diesen Genuss nicht weiter verkümmern und bemerke nur, dass es sich hier nicht um ein Urteil, sondern um eine simple Tatsache handelt, die jedem bekannt ist, der Herweghs und Shelleys Gedichte kennt. Ich hatte dies Glück schon als junger Student vor dreißig Jahren und habe auf „ursprüngliche" Offenbarungen von antisemitischer oder philosemitischer Seite nicht erst zu warten brauchen. Übrigens aber hat der „Vorwärts" am Tage nach der Veröffentlichung seiner freundlichen Notiz eine ihm von mir eingesandte Richtigstellung aufgenommen, und wenn Marcel-Theophil darnach noch behaupten, dass ich „den die ,volksverratenden' Sozialdemokraten alleweil noch verhöhnenden Antisemitling abgeschrieben" habe, so schwindeln sie wissentlich.

Der zweite Verbrecher ist Blos, und zwar wird er beschuldigt, Georg Herwegh dadurch verunglimpft zu haben, dass er in einem biographischen Aufsatz über den Dichter das bekannte Gedicht „Am Grabe Ferdinand Lassalles" als ein Herweghsches Gedicht erwähnt hat. Als solches ist es seit dreißig Jahren oft abgedruckt worden, zuletzt von Karl Henckell im „Buche der Freiheit", und in dem Falle Blos ist noch weniger als in meinem Falle abzusehen, wieso dadurch Georg Herweghs Andenken beschimpft worden sein soll. Blos veröffentlichte seinen von wärmster Sympathie für Herwegh beseelten Aufsatz im „Wahren Jacob", dessen Leser doch unmöglich gegen Herwegh durch die Behauptung eingenommen werden konnten, dass Herwegh ein Grablied auf Lassalle gedichtet habe. Trotzdem kommt Blos noch schlechter fort als ich; er kriegt, wie ich, sozialdemokratische Undankbarkeit, dazu aber noch „eine nicht nur dreiste, sondern auch plumpe sozialdemokratische Fälschung" an den Kopf geworfen. Und wie gegen mich den „Vorwärts", so zitieren Marcel-Theophil gegen Blos Herrn Karl Henckell, den sie dem verehrlichen Publikum als „liebenswürdigen" Mann vorstellen, der sich „von der sozialdemokratischen Partei losgesagt" habe. Herr Henckell ist auch so gütig, zu erscheinen; er verflucht die „trübe Quelle", ein sozialdemokratisches Liederbuch, aus dem er das Grablied auf Lassalle entnommen hat, und bittet tausendmal um Verzeihung, dass er „trotz seines Kopfschüttelns über einen solchen ,Herwegh' zu gutgläubig gewesen sei, um in seines Herzens Einfalt eine derartige Fälschung für menschenmöglich zu halten". Es ist die reine Affenkomödie, aber der Lorbeer gebührt Herrn Theophil Zolling. Er tut so, als ob das von Blos zitierte Grablied widrig auf seine literarhistorischen und ästhetischen Nerven gefallen sei. Er betritt die Bühne, sinnend mit der Hand auf der Stirn: „Ich hätte sogar darauf geschworen, dass Herwegh das Grab des großen Agitators niemals angesungen habe." Pause, und dann mit verstärktem Nachdruck: „Niemals", und nun die Weisheit aus dem Ärmel schüttelnd: „es sei denn bis auf die drei an Lassalles Leiche in Genf gedichteten Inschriften für dessen Sarg", und nun verächtlich: „die dem sozialdemokratischen Klopffechter unbekannt sein mögen." Pause, worin er das Grablied liest: „Es klingt verdächtig." Er liest es zum zweiten Male: „Ich schüttle den Kopf." Er liest es zum dritten Male: „Ich lache laut auf." Und dann, das Gedicht in die Ecke schleudernd: „Nein, nein, das hat Herwegh nicht verbrochen." So zu lesen in der „Gegenwart" vom 12. Dezember 1896.

Verehrter Herr Zolling, machen Sie sich doch nicht so entsetzlich lächerlich! Weder Ihre literarhistorischen noch Ihre ästhetischen Nerven sind im geringsten durch die „plumpe sozialdemokratische Fälschung" affiziert worden. Sie haben bisher den Teufel sowenig von den Sarginschriften wie von dem Grabliede gewusst. Unsereinem müssen Sie nicht mit Mätzchen kommen, die für Ihr dummes bürgerliches Publikum gut genug sein mögen. Wir sehen nicht bloß, was vor, sondern auch, was hinter den Kulissen passiert. Und hinter den Kulissen steht Ihr Freund Marcel, der Ihnen aus einem grauen Blättchen souffliert. Dies Blättchen, die Nummer 276 des „Nordstern", vom 24. September 1864, stammt aus Herweghs Nachlass, der häufige Einsendungen an den „Nordstern" gemacht hat, vor wie nach dieser Nummer. Aber dies Blättchen ist auch für andere Leute zu erhalten, und es liegt vor mir, indem ich diese Zeilen schreibe. Passen Sie nur auf, oh Marcel-Theophil, ob ich es nicht ganz genau beschreibe. Die erste Seite ist von einem breiten, schwarzen Striche umrahmt. Innerhalb dieses Rahmens lautet die breitgedruckte Überschrift „Ferdinand Lassalle", darunter Geburtstag und Todestag, und wieder darunter: Er starb, wie er lebte, im Kampfe. Und dann nebeneinander zwei Vierzeiler, der auf der linken Seite überschrieben: Ex ossibus ultor, und der auf der rechten Seite unterschrieben : Sophie von Hatzfeldt. Dann folgen die Prosazeilen: „Die vorstehenden, inhaltsschweren Worte aus der Feder unseres Dichters Georg Herwegh waren als Inschriften für drei Schilder bestimmt, die in Berlin an den Sarg Lassalles befestigt werden sollten. Es musste dieses unterbleiben, weil die Polizei des Staates der Intelligenz in ihrer unwiderstehlichen Weisheit die Leiche entführt hatte." Und unmittelbar daran schließt sich das Gedicht: „Am Grabe Ferdinand Lassalles", das hier zum ersten Male gedruckt erscheint. Es beginnt mit den Zeilen:


Wohl mag den Blick ein Trauerflor umfangen,

Wohl mag die Wehmut diesen Sarg umstehn.

Hier ziemen Tränen selbst auf Männerwangen

Hier Eisenbrüste muss der Schmerz durchwehn.


Wer es nachlesen will, findet es im „Buche der Freiheit" auf S. 99.

Und sehen Sie, verehrter Herr Zolling, wenn Sie sich nicht als ein schlechter Komödiant, sondern als ein halbwegs unterrichteter Ästhetiker und Literarhistoriker in diese Sache mischen wollten, so hätten Sie sagen müssen: „Frau Emma Herwegh schreibt mir, das Gedicht sei nicht von Herwegh; sie wisse ganz bestimmt, dass Herwegh in jenen Tagen – mit Ausnahme der drei Sarginschriften – und auch später keine Zeile zu Lassalles Gedächtnis gedichtet habe. Das ist ein gewichtiges Zeugnis gegen die angebliche Autorschaft Herweghs, und dies Zeugnis wird noch dadurch unterstützt, dass im ,Nordstern' nur die Sarginschriften, nicht aber das Grablied mit ausdrücklichen Worten als dichterische Erzeugnisse Herweghs bezeichnet werden. Die Autorschaft Herweghs muss also preisgegeben werden. Dagegen schießt Frau Emma Herwegh weit über das Ziel hinaus, wenn sie behauptet, wer an diese Autorschaft glauben könne, müsse ein Kretin oder niederträchtig sein. Mein ,liebenswürdiger' Freund Henckell hat ja daran geglaubt und ist doch weder ein Kretin noch niederträchtig. Die Sache hängt viel einfacher und harmloser zusammen, als Frau Herwegh behauptet. Der ,Nordstern' war ein Arbeiterblatt, und Arbeiter nehmen es nicht so genau, wie der gelehrte Professor in der Studierstube. So, wie das Grablied zusammen in demselben Trauerrahmen mit den echten Sarginschriften Herweghs erschien, haben sie geglaubt, auch das Grablied rühre von Herwegh her. Das war ein Irrtum, den ein gelehrter Professor nicht begangen hätte, obschon dieser Irrtum selbst vom gelehrten Standpunkt aus einen mildernden Umstand für sich geltend machen kann. Denn auf rein ästhetischer Waage wiegen die echten Sarginschriften kein Quäntchen schwerer als das unechte Grablied. Jedenfalls aber schändet der Irrtum weder die, die ihn begangen haben, noch den, an dem er begangen worden ist. Der ,Nordstern' ging bald ein, aber die Arbeiter behielten in treuem Gedächtnis, was ,ihr Dichter' zum Gedächtnis ihres großen Führers gesungen haben sollte. Sie glaubten dadurch Herwegh zu ehren wie Lassalle. Das Gedicht lebte in den Massen fort und ist dann später, als die Lieder des Proletariats gesammelt wurden, auch in diese Sammlungen übergegangen. Die literarische Kritik erfüllt ihre Pflicht, indem sie das Gedicht von Herweghs Konto streicht, aber sie tut es mir dem Stoßseufzer: Hätten doch alle echten Gedichte Herweghs so tiefe Wurzeln im Herzen des Volkes geschlagen wie dieses ihm mit Unrecht zugeschriebene Gedicht." So, Herr Zolling, oder so ähnlich – denn an die herrliche Pracht Ihrer Sprache reiche ich ja nicht heran – hätten Sie sprechen müssen, wenn Sie in dieser Sache als ehrlicher Mann und unparteiischer Kunstrichter mitreden wollten.

Um noch ein Wort über die Sache selbst zu äußern, so scheint allerdings die Autorschaft Herweghs an dem Grablied eine historische Legende zu sein. Immerhin könnte die „Gegenwart" sich reichlich gesegnet erachten, wenn alle historischen Legenden, mit denen sie allwöchentlich ihre Leser regaliert, einen so achtbaren und so harmlosen Ursprung hätten. Was sich denn auch Herr Henckell ad notam nehmen mag. Ob er sich von der Sozialdemokratischen Partei losgesagt hat, wie Herr Zolling behauptet, wissen wir nicht. Aber allerdings hat Herr Henckell das „Buch der Freiheit" in einem sozialdemokratischen Verlage herausgegeben und in der Vorrede das „organisierte Proletariat" als das von ihm gesuchte Publikum angesprochen. Demnach war es seine Pflicht, sich zunächst mit diesen Faktoren auseinanderzusetzen, ganz abgesehen davon, dass ein Schriftsteller von Haltung, der wegen eines Irrtums getadelt wird, schon um seiner selbst willen zunächst das Richtige oder Unrichtige des Vorwurfs klarzustellen sucht. Wenn Herr Henckell statt dessen, kaum dass er einen Schreibebrief von Herrn Zolling erhalten hat, sofort ins gegnerische Lager desertiert, sich dort greinend als eine von den Arbeitern verführte Unschuld insinuiert und faule Äpfel, wie „trübe Quelle" und „menschenunmögliche Fälschung", nach dem sozialdemokratischen Lager schleudert, so zeigt sich wieder, wie feste und zuverlässige Freunde das Proletariat an den Klassikern der modernen Kunst besitzt.

Der dritte Sünder endlich, der Herweghs Andenken gekränkt haben soll, ist kein Geringerer als unser Altmeister Engels. Gegen ihn führen Marcel-Theophil Frau Emma Herwegh ins Feld, die Engels der „Unwahrheit" zeiht, weil er gesagt hat, er und Marx hätten sich im Frühjahr 1848 der Revolutionsspielerei widersetzt. Es handelt sich um jene Pariser Deutschenversammlung, wo Herwegh zum Präsidenten und politischen Führer der Demokratischen Legion erwählt wurde. Marx selbst schreibt darüber in der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom 29. Oktober 1848: „Die Redakteure der ,Neuen Rheinischen Zeitung', namentlich Karl Marx, sind dem Herweghschen Unternehmen zu Paris in öffentlichen Volksversammlungen entschieden gegenübergetreten, ohne die Ungunst der aufgeregten Massen zu scheuen. Sie sind dafür ihrer Zeit gebührendermaßen von Utopisten, die sich für Revolutionäre versahn, verdächtigt worden."2 Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich so ziemlich in jeder der 300 Nummern der „Neuen Rheinischen Zeitung" die stärksten Proteste gegen die Revolutionsspielerei finden.

Was hat nun Frau Emma Herwegh dagegen einzuwenden? Nichts anderes als dies: „Wer wie ich Augen- und Ohrenzeuge war (nämlich in jener Pariser Deutschenversammlung) und sich nur ein wenig auf Physiognomien versteht, dem entging nach der Wahl Herweghs der Ausdruck verhaltenen Zornes und Neides in Marx' Antlitz nicht." Frau Emma Herwegh meint also, wenn sie überhaupt etwas meint, dass Marx und Engels bloß deshalb die Revolutionsspielerei bekämpft hätten, weil die Revolutionsspieler nicht in ihnen, sondern in Herwegh ihr angeborenes und natürliches Haupt erkannt hätten. Wir haben alle Achtung vor Frau Emma Herwegh, aber da sie sich selbst einer erfrischend deutlichen Ausdrucksweise gegen „Blos und Genossen" befleißigt, so bitten wir sie um Entschuldigung, wenn wir uns die melancholische Tatsache, dass sie in Marcel und Theophil zwei Gläubige ihrer physiognomischen Geschichtsforschung gefunden hat, nur durch das psychologische Moment erklären können, das wir im Beginne dieser Zeilen mit den Worten kennzeichneten: der Blödsinn hat eine ansteckende Kraft.

1 Siehe auch den Artikel „Sozialistische Lyrik" (1914).

Kommentare