Franz Mehring 19150800 Kriegsgeschichtliche Probleme

Franz Mehring: Kriegsgeschichtliche Probleme

August/September 1915

[Die Neue Zeit, 33. Jg. 1914/15, Zweiter Band, S. 662-673, 733-744, 770-780, 797-809. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 368-425]

In dem Siegesrausche des Jahres 1871 entfuhr einem Festredner – irren wir nicht, in der guten Seestadt Leipzig – das geflügelte Wort: Nun soll uns noch mal einer als „Volk der Denker und Dichter" verketzern. Der unfreiwillige Scherz wurde damals viel belacht, doch zeigte sich im Laufe der Jahrzehnte, dass in dem verunglückten Festredner immerhin ein Stückchen von einem Propheten steckte. Besonders was in dem gegenwärtigen Kriege die deutschen Poeten und Professoren geleistet haben, wird allerdings die deutsche Nation nirgends und unter keinen Umständen in den Verdacht bringen, vor anderen Nationen ein „Volk der Denker und Dichter" zu sein.

Und die Poeten haben diesen Anspruch vielleicht noch gründlicher vernichtet als die Professoren. Wir denken dabei gar nicht einmal an die massenhafte Produktion von Kriegsgedichten, die an jedem neuen Tag auftauchen, um am nächsten Tage schon vergessen zu sein. Das ist ein leidiges Übel, das man mit in den Kauf nehmen kann, da es nicht mehr kostet als Druckerschwärze und Papier. Aber wirklich bemerkenswert ist, dass auch Dichter, denen man nicht das Recht bestreiten kann, sich so zu nennen, die Dehmel und Hauptmann und Holz und wie sie sonst heißen, in ihrer Kriegspoesie so gänzlich versagen, versteht sich ästhetisch und nicht etwa politisch versagen. Denn es kommt nicht darauf an, ob sie sich so oder so zum Kriege stellen, sondern ob sie den ungeheuren Leidenschaften, die dieser Krieg entfesselt, in der einen oder der anderen Weise das gestaltende Wort zu leihen wissen. Daran fehlt es gänzlich. Sie bringen es nicht über die bizarre Laune hinaus, die sich abquält, „originell" zu sein, denen zur Rechtfertigung, die von jeher in der „Moderne" niemals das strahlende Morgenrot einer aufsteigenden, sondern höchstens die melancholische Abendröte einer absteigenden Kultur erblickt haben.

Ein rechtes Muster dieser Gattung ist das Büchlein: Friedrich und die große Koalition, das Thomas Mann kürzlich veröffentlicht hat. Der Verfasser der „Buddenbrooks" ist sicherlich ein Dichter, der bisher einige Ansprüche erheben durfte, aber um so schlimmer für ihn, wenn er in seinem Beitrage zur literarischen Würdigung des Krieges nicht einmal den bescheidensten Ansprüchen gerecht zu werden weiß. Aus Mangel an wirklichem Geistesreichtum gefällt er sich in einer „Geistreichigkeit", die jeden Leser, dem die sinnliche Sprache des wirklichen Lebens noch nicht versagt ist, auf die Dauer einfach rädert. Dabei läuft die „poetische" Gestaltung seines Stoffes auf die Wiederaufwärmung des verschlissensten Anekdotenkrams hinaus, wie er selbst in den patriotischen Schulbüchern nicht mehr geduldet wird: auf die Verachtung, die Friedrich der Pompadour bezeigt, und den schwesterlichen Gruß, den ihr Maria Theresia gesandt haben soll, und was dergleichen Ursachen der „großen Koalition" mehr sind.

Interessant ist aber die „originelle" Wendung, die Thomas Mann den alten Scharteken gibt. Er gesteht zu, dass der Alte Fritz bei alledem ein höchst fragwürdiger Genius und im Grunde ein recht unleidlicher Geselle gewesen sei, aber, so sagt er: „Er war ein Opfer. Er musste Unrecht tun und ein Leben gegen den Gedanken führen, er durfte nicht Philosoph, sondern musste König sein, damit eines großen Volkes Erdensehnen sich erfülle." Und weiter heißt es: „Deutschland ist heute Friedrich der Große. Es ist sein Kampf, den wir zu Ende führen, den wir noch einmal zu führen haben. Die Koalition hat sich ein wenig verändert, aber es ist sein Europa, das im Hass verbündete Europa, das uns nicht dulden, das ihn, den König, noch immer nicht dulden will und dem noch einmal in zäher Ausführlichkeit, in einer Ausführlichkeit von sieben Jahren vielleicht, bewiesen werden muss, dass es nicht angängig ist" – Wustmann würde sagen: nicht angeht –, „ihn zu beseitigen. Es ist auch seine Seele, die in uns aufgewacht ist, diese nicht zu besiegende Mischung von Aktivität und durchhaltender Geduld, dieser moralische Radikalismus, der ihn den andern so widerlich zugleich und entsetzlich wie ein fremdes und bösartiges Tier erscheinen ließ." Und in diesem Galimathias geht es weiter.1

Nun ist Thomas Mann so „geistreich", dass nur die „geistreichsten" Blätter der bürgerlichen Presse, wie das „Berliner Tageblatt", seinem dichterischen Schwunge gewachsen sind und ihn lobpreisen. Andere, wie der „Hamburgische Korrespondent", urteilen wie der alte Feldmarschall Möllendorf über Scharnhorsts Reformen: „Das ist vor mir zu hoch." Sie erkennen zwar an, dass Thomas Mann „turmhoch erhaben sei über die fatalen Skribenten eines gesuchten und unlauteren Patriotismus", aber sie tadeln, dass er „in seinem schriftstellerischen Hochmut sich der Sünde wider den Geist des großen Königs schuldig gemacht habe, die ihm Friedrichs Erben und Jünger nicht verzeihen können".

In diesen Streit wollen wir uns nicht mischen. Dagegen enthält der Versuch Thomas Manns, die große Koalition von 1914 aus der großen Koalition von 1756 zu erklären, insofern ein Körnlein Salzes, als sich, wenn anders die kapitalistische Entwicklung des innern historischen Zusammenhanges nicht entbehrt, gewisse Vergleichspunkte zwischen dem Weltkriege des achtzehnten und dem Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts ergeben müssen. Sie liegen freilich tiefer oder, wenn man so will, höher, als wo Thomas Mann sie sieht, indem er den preußischen König von ehedem und die deutsche Nation von heute „widerlich und zugleich entsetzlich", „wie ein fremdes und bösartiges Tier" erscheinen lässt. Aber um so eher wird es sich lohnen, ihnen nachzuspüren und aus dem Spiegel der Vergangenheit einige Erkenntnis für die Probleme der Gegenwart zu gewinnen.

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1 Thomas Mann hatte unmittelbar nach dem Kriegsausbruch 1914 einige Aufsätze veröffentlicht, in denen er den Krieg Deutschlands gegen Russland und die Westmächte rechtfertigte. Später wandte er sich gegen Völkerhetze und Kriegsverherrlichung.

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