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IV

Eine besondere Note erhielt der Überfall Sachsens durch den preußischen König im August 1756 dadurch, dass Friedrich nicht einmal ein Kriegsmanifest erlassen konnte, wodurch sein Einbruch zu rechtfertigen gesucht worden wäre. Er hatte es zwar im Entwurf fertig, aber seine Enthüllung der österreichisch-russischen Kriegspläne stützte sich auf die Abschriften der Depeschen, die er durch seinen Spion aus dem Dresdener Archiv erhalten hatte. Er traute dem sächsischen Minister Brühl zu – und vermutlich nicht mit Unrecht –, dieser werde bei einer sofortigen Veröffentlichung des Manifestes die Originalurkunden vernichten lassen.

So erschien der Überfall Sachsens wochenlang als der ruchloseste Bruch des Völkerrechts, dem nicht einmal mildernde Umstände bewilligt werden konnten. Am 29. August waren die preußischen Truppen in Sachsen einmarschiert, und erst am 10. September wurden die Türen der Dresdener Kabinettskanzlei durch einige Bataillone erbrochen, unter fast körperlichem Widerstande der Königin Maria Josepha, einer geborenen Habsburgerin. Der Kurfürst von Sachsen war zugleich König von Polen. Er hatte anfangs nach Warschau entweichen wollen, war dann aber, da die Wege dorthin nicht mehr sicher erschienen, auf den Königstein geflüchtet, inmitten des Felsenlagers von Pirna, in das die sächsischen Truppen noch im letzten Augenblick hatten zusammengezogen werden können. Die Erbrechung und Plünderung eines Archivs ohne vorherige Ansage der Feindseligkeiten erschien den Zeitgenossen vollends als der Gipfel aller Gewalttätigkeit und Hinterlist. Aber Friedrich fand die Urkunden, die er suchte; sie wanderten nach Berlin, und nun wurde von dem Legationsrat Hertzberg binnen acht Tagen das preußische endgültige Kriegsmanifest redigiert, ein Memoire raisonne oder eine „Gegründete Anzeige", weshalb der König von Preußen den Anschlägen des Wiener Hofes habe zuvorkommen müssen.

An der Hand der österreichisch-russischen Zettelungen war darin ausgeführt, der König führe keinen Angriffs-, sondern einen Verteidigungskrieg. „Unter Angriff versteht man jeden Akt, der dem Sinn eines Friedensvertrages diametral entgegengesetzt ist. Eine Offensivliga, das Aufreizen und Drängen zum Kriege gegen eine andere Macht, Pläne zur Überziehung der Staaten eines anderen Fürsten, ein plötzlicher Einbruch: Alle diese verschiedenen Dinge sind ebenso viel Angriffe, obgleich nur der plötzliche Einbruch den Fall der offenen Feindseligkeit darstellt. Wer diesen Angriffen zuvorkommt, kann offene Feindseligkeit begehen, aber er ist nicht der Angreifer." Ehe dieses Manifest erschien, hatte die Gegenseite aber schon viel kräftigere Töne gefunden: Am 13. September erließ der deutsche Kaiser ein „Dehortatorium", worin er den König väterlich ermahnte, „von seiner unerhörten, höchst frevelhaften und sträflichen Empörung abzulassen, dem Könige von Polen alle Kosten zu erstatten und still und ruhig nach Hause zu gehen", und ein „Advokatorium", worin er allen preußischen Generalen und Offizieren befahl, ihren „gottlosen Herrn" zu verlassen und dessen „entsetzliche Verbrechen" nicht zu teilen.

Friedrich verachtete den Federkrieg, der die Kriege zu begleiten pflegt, nicht völlig und hat sich selbst in seinen Mußestunden daran beteiligt, mit dem päpstlichen Breve, das dem österreichischen Marschall Daun einen geweihten Degen für den Kampf gegen die Ketzer verliehen haben sollte, und ähnlichen Schnurren mehr. Aber er war ihm doch immer nur ein Mittel, um denen, die nicht alle werden, Sand in die Augen zu streuen. Sehr ernsthaft nahm er ihn nicht. Er lachte über die „Dehortatoria" und „Advokatoria" des guten Kaisers Franz, denn er wusste, dass dieser nur eine Strohpuppe in der Hand seiner Gemahlin war, der Kaiserin Maria Theresia, aber sein eigenes Kriegsmanifest nahm er auch auf die leichte Achsel. „Wenn die Souveräne einen Bruch wollen", meinte er gleichgültig, „so hält die Frage des Manifestes sie nicht auf; sie nehmen ihre Partie, sie machen den Krieg und überlassen die Sorge, sie zu rechtfertigen, irgendeinem fleißigen Rechtsgelehrten." Eine sehr realpolitische, aber gewiss nicht unrichtige Auffassung der Kriegsmanifeste, die ihrer Bestimmung gemäß niemals historische Quellen sein können.

In diesem besonderen Falle hat sogar der Verfasser des Kriegsmanifestes von 1756 selbst bestätigt – allerdings erst dreißig Jahre später, nach dem Tode des Königs –, dass er darin um den entscheidenden Punkt herumgegangen sei wie die Katze um den heißen Brei. Der nunmehrige Staatsminister Hertzberg schrieb im Jahre 1786: „Es ist ausgemacht, dass diese Pläne, den König zu bekriegen und seine Länder zu teilen, wirklich existierten, aber da sie nur eventuell waren und die Bedingung voraussetzten, insofern der König von Preußen Gelegenheit zum Kriege geben würde, so wird es immer unentschieden bleiben, ob diese Pläne jemals würden zur Ausführung gekommen sein und ob es gefährlicher gewesen sein würde, sie zu erwarten als ihnen zuvorzukommen." Diese Ansicht, zu der sich Hertzberg erst im Jahre 1786 durchgerungen hat, hegten im Jahre 1756 schon sein damaliger Vorgesetzter, der Minister des Auswärtigen v. Podewils, sowie die große Mehrzahl der preußischen Generale sowie endlich auch die preußischen Prinzen, die eigenen Brüder des Königs.

Sie kamen damit der historischen Wahrheit jedenfalls näher, als wenn Friedrich in seiner Histoire de la guerre de sept ans schrieb, die Verschwörung der europäischen Mächte gegen Preußen sei völlig fertig gewesen, die Kaiserin-Königin, die Zarewna, die Könige von Frankreich und Polen seien einverstanden und auf dem Punkt gewesen loszuschlagen, so dass der König von Preußen, als er beschloss, ihnen zuvorkommen, keinen Feind weniger und keinen Freund mehr zu erwarten gehabt hätte. Der König wusste sehr gut, dass zunächst nur ein Verteidigungsbündnis zwischen Frankreich und Österreich wie zwischen Österreich und Russland bestand und dass er mindestens zehn Monate Zeit hatte, dies Bündnis, wenn nicht zu sprengen, so doch an seiner Umwandlung in ein Angriffsbündnis zu hindern. Selbst in dem eben noch so kriegseifrigen Russland begann die Stimmung umzuschlagen. Dank den Anstrengungen Englands, dessen Einfluss in Petersburg immer sehr stark war und seit der Westminsterkonvention ganz im preußischen Sinne eingesetzt wurde; am 29. Juni verriet Kaunitz in einer Depesche an den österreichischen Gesandten in Paris seine Sorge, „dass der russische Hof über den Aufschub der Operationen ermüden und sich verleiten lassen dörfte, aus Begierde zum Gelde in die englischen Absichten endlich einzugehen und andurch nicht nur das geheime Geschäft gänzlich zu vereiteln, sondern auch die Krön Frankreich durch eine namhafte Truppenabgabe in nicht geringe Verlegenheit zu setzen". Immerhin – Petersburg mit seiner ewig betrunkenen Zarin und seinem bestechlichen Großkanzler blieb unberechenbar, aber Paris war keineswegs „völlig fertig" mit Österreich und Russland und stand keineswegs auf dem Punkte, auf Preußen loszuschlagen.

Darüber war sich Friedrich auch ganz klar, ja er vertraute viel zu sehr darauf, dass Frankreich nicht ernsthaft mit ihm anbinden würde. Als er nach der zerschmetternden Niederlage von Kolin das Bedürfnis fühlte, sich gegenüber den lauten und stillen Vorwürfen seiner Umgebung zu rechtfertigen, schrieb er – ganz im Gegensatz zu seiner später zurechtgemachten Geschichte des Siebenjährigen Krieges –, er habe unmöglich das Dasein einer allgemeinen Verschwörung gegen Preußen annehmen können, und führte besonders über Frankreich aus: „Wie konnte ich ahnen, dass Frankreich 150.000 Mann nach Deutschland schicken würde? Wie konnte ich vorhersehen, dass die Tränen der Dauphine (einer sächsischen Prinzessin), die Verleumdungen der Königin von Polen und die Lügen des Wiener Hofes Frankreich in einen Krieg verstricken würden, der in schroffem Widerspruch mit seinen politischen Interessen stand?" Sieht man davon ab, dass der König hier, ganz im Sinne seiner Zeit, große Wirkungen auf kleine Ursachen zurückführt, so erkennt er in der bitteren Wahrhaftigkeit einer grausamen Enttäuschung an, dass er eine wirkliche Gefahr von Frankreich nicht befürchtet hatte. Er hat darauf gerechnet, im wesentlichen nur mit Österreich und Russland zu tun zu bekommen und höchstens noch mit den 24.000 französischen Hilfstruppen, die Frankreich sich im Falle seines Angriffs dem Wiener Hofe zu stellen verpflichtet hatte, und damit glaubte er schon fertig zu werden, zumal da Frankreich durch England vollauf beschäftigt war.

Das Zugeständnis Hertzbergs verhallte zunächst in der preußischen Geschichtsschreibung, die sich an das hielt, was der König nachträglich über die Entstehung des Krieges zurechtgemacht hatte. Aber je mehr sich die Archive öffneten, nicht nur die preußischen, sondern auch die französischen, österreichischen und russischen, um so klarer trat hervor, dass der König noch nicht ernstlich bedroht gewesen war, als er in Sachsen einbrach, dass er durch diesen Einbruch die entstehende Koalition seiner Feinde nicht gesprengt, sondern vielmehr erst recht zusammengeschweißt hatte. Der politische Rechenfehler des Königs lag offen, aber militärisch sollte nun doch seine Überwältigung Sachsens wenigstens ein Meisterstück gewesen sein. Einmal musste schließlich mit den Gegnern abgerechnet werden, und da bot Sachsen einen vortrefflichen Kriegsschauplatz. „Eine zwischen Brandenburg und Schlesien breit hineingeschobene, geschlossene Bastion, die im Besitze eines Gegners die preußischen Lande schwer bedrohte, überwältigt aber sie trefflich deckte und dann für die Verteidigung und Ausfall sich gleichmäßig eignete." Die Berechtigung des Überfalls wurde aber daraus hergeleitet, dass Sachsen im Jahre 1746, als Friedrich II. die Neutralität des Landes geachtet hatte, ihm nach seinem Einmärsche in Böhmen in den Rücken gefallen sei.

In der Tat hatte Friedrich damals Sachsen geschont trotz seiner Siege in dem Treffen bei Katholisch-Hennersdorf und der Schlacht bei Kesselsdorf, und es ist auch unbestreitbar, dass Sachsen sich zwar nicht förmlich den österreichisch-russischen Kriegsplänen angeschlossen hatte, aber doch nur, weil der Knüppel allzu dicht beim Hunde lag. In Depeschen, die ihm sein Dresdener Spion verraten hatte, las Friedrich schon im Jahre 1753, wie der sächsische Gesandte zu Petersburg beweglich vorgestellt hatte, man möge seiner Regierung erlassen, ein so großes und gefährliches Spiel zu wagen und einen übermächtigen Nachbar anzugreifen, ehe dieser außer Stand gesetzt sei, Sachsen auf einmal zu „ecrasieren", worauf der russische Großkanzler bereitwillig zugestanden hatte, freilich dürfe sich Sachsen nicht zuerst auf den Turnierplatz wagen, sondern müsse warten, bis der Ritter im Sattel wanken werde. Auch sonst verbarg der Minister Brühl seine feindliche Gesinnung gegen Preußen keinen Augenblick, und Friedrich kam also auch nur heimtückischen Angriffsplänen in berechtigter Verteidigung zuvor, indem er Sachsen auf einmal „ecrasierte", als er den Waffengang mit Österreich antrat. Erklärte er doch auch bei seinem Einbruch in Sachsen, er handle unter dem Druck zwingender Verhältnisse, und er sehne den glücklichen Augenblick herbei, wo diese Verhältnisse beseitigt wären und er „Sr. polnischen Majestät Dero Kurlande als ein geheiligtes Depot" zurückgeben könne; verbünde Se. Majestät sich mit ihm, so werde Sie nicht nur für alles reichlich entschädigt werden, sondern der König werde an Ihre Interessen ebenso denken wie an die seinigen.

Diese Auffassung wird heute noch von der Mehrzahl der preußischen Historiker geteilt. Aber eine Minderheit, worunter nicht die schlechtesten der Zunft, sieht eine „fürchterliche Deklassierung" des „großen Königs" darin, dass er wie ein nervöser Schwächling, aus Angst vor Gefahren, die sich sonst noch hätten beschwören lassen, in einen verheerenden Krieg gestürzt und recht eigentlich das Spiel seiner Feinde gespielt haben solle. Diese Historiker drehen den Spieß einfach um und sagen: Natürlich hat Friedrich sehr gut gewusst, dass er noch gar nicht ernsthaft bedroht war, aber die Gelegenheit schien ihm günstig, einen Plan auszuführen, den er in seinem Politischen Testament von 1752 entwickelt hatte: nämlich unter bestimmten Verhältnissen der europäischen Politik Sachsen zu erobern und den Kurfürsten mit Böhmen zu entschädigen, das dem Hause Habsburg durch einen Krieg entrissen werden müsste. Sie sagen, die Eroberung Sachsens sei das Ziel gewesen, das der König während seiner ganzen Regierung verfolgt habe. „Sechs Meilen vor den Toren Berlins war die Grenze des Kurfürstentums Sachsen; der breite Landstrich mit den Städten Görlitz, Lauban, Sorau, Guben, Lübben, Baruth, Jüterbogk, Beizig, Wittenberg, Torgau gehörte noch nicht zu Preußen. Ein König von Preußen, der nicht mit aller Kraft seiner Seele den Erwerb dieser Landschaften angestrebt hätte, müsste, jedes Staatsgedankens bar, sich an selbstzufriedenen dynastischen Hausbesitzgedanken begnügt haben. Und das soll des Großen Friedrich Denkweise gewesen sein?" Friedrich wollte also nicht eine drohende Gefahr abwehren, sondern unternahm mit dem Überfall Sachsens einen Angriffskrieg in der nacktesten und schroffsten Form des Wortes. Er dachte zwar nicht daran, „Sr. polnischen Majestät Dero Kurlande als ein geheiligtes Depot" zurückzugeben, aber das brauchte man nicht so genau zu nehmen, da er den Kurfürsten von Sachsen „reichlich entschädigen" wollte, indem er ihn zum König von Böhmen erhob.

Dieser Streit zwischen den preußischen Historikern wird nun schon seit zwei Jahrzehnten geführt, zeitweise so erbittert, dass er einem der Kämpfer einen frühzeitigen Tod beschieden hat. Aber zu einem sicheren und unzweideutigen Ergebnis hat er nicht geführt. Jede der beiden Anschauungen hat gewichtige Zeugnisse für sich anzuführen gewusst, keine von beiden aber einen überzeugenden Beweis. Nur insofern hat die Minderzahl die Schlacht verloren, als sie eine „fürchterliche Deklassierung" des „großen Königs" abzuwehren unternahm. Mit ihren Annahmen und Voraussetzungen „deklassiert" sie den König viel „fürchterlicher" als die Gegenseite. Was Friedrich in seinem Politischen Testament von 1752 über die Eroberung Sachsens, im Austausch gegen das eroberte Böhmen, geschrieben hat – beiläufig unter der Überschrift: Träumereien –, ist bisher vom Auswärtigen Amt nicht herausgelassen worden. Jedenfalls – wenn der König, der doch nur mit Hilfe des mächtigen Frankreich die Provinz Schlesien erobert hatte, sich eingebildet hätte, ganz auf eigene Faust – denn England war ihm durch die Westminsterkonvention zu keiner Waffenhilfe verpflichtet – gegen eine französisch-österreichisch-russische Koalition das Königreich Böhmen erobern zu können, so hätte er sich als politischer Phantast erwiesen.

Namentlich sprechen die Tatsachen selbst für die Mehrzahl der preußischen Historiker, wenn sie sagt, bei dem Überfall Sachsens sei der politische Rechenfehler durch den militärischen Streich ausgeglichen worden. Schweißte der Einbruch die gegnerische Koalition zusammen, so sicherte er dem Könige doch die Möglichkeit, den Krieg durchzuhalten. Ohne die Hilfsquellen Sachsens hätte er es nicht vermocht. Er hat von Anfang an das Land nur als militärische Position betrachtet. Nicht als ob er es nicht gerne behalten hätte, nachdem es einmal in seiner Gewalt war; dass er diesen leckeren Bissen mit Vergnügen geschluckt hätte, hat er allerdings oft bekannt. Aber wenn er es im Jahre 1756 hätte erobern wollen, so hätte er es anders behandelt. Eroberer pflegen sich doch den Eroberten gegenüber samtene Handschuhe über die eisernen Fäuste zu ziehen und mindestens jede, um einen gern von Bismarck gebrauchten Ausdruck anzuwenden, „Deteriorierung" der geplanten Eroberung zu vermeiden. Wer ein kostbares Gefäß erwerben will, beginnt doch nicht damit, es zu zerschlagen.

Friedrich aber begann damit, über Sachsen die grausamsten Plagen zu verhängen, zuerst und vom ersten Tage an das verhasste Kantonsystem. Sobald er die sächsischen Truppen in ihrem Felsenlager von Pirna ausgehungert hatte, stellte er sie nicht nur, 17.000 Mann hoch, unter Erzwingung des Fahneneides in sein Heer ein, sondern legte dem Lande sofort die Lieferung von 9075 Rekruten auf, „lauter gesunde und gerade Leute von 18 bis 30 Jahren, keiner unter 5 Fuß 3 Zoll". Wie dieser Druck empfunden wurde, zeigt die Tatsache, dass sächsische Regimenter und Rekruten, trotz Kugel, Stock und Spießruten, massenhaft über die polnische Grenze gingen, und zwar um so massenhafter, je mehr dieser Blutzoll von Jahr zu Jahr gesteigert wurde.

Ähnlich wurde der Geldzoll von Jahr zu Jahr gesteigert. 3 Millionen Taler für 1757, 5 Millionen für 1758, 6 Millionen für 1759, von da ab bis zu Ende des Krieges jährlich nicht weniger als 12 Millionen. Wie sehr das Land dadurch ausgepresst wurde, offenbarte sich dadurch, dass die härtesten Zwangsmaßregeln nicht ausreichten, diese Summen einzubringen; so wurden der Rat und die ersten Kaufleute der Stadt Leipzig einmal ohne Bett, Feuer und Licht auf die Pleißenburg gesperrt, bis von den acht Tonnen Goldes, die die Stadt aufbringen sollte, die Hälfte beigebracht war. Über 70 Kaufleute, die aus der Stadt geflohen waren, wurden durch Husaren zurückgeholt, oder wenn sie nicht mehr zu finden waren, wurden ihre Gewölbe versiegelt und ihr Vermögen eingezogen usw. Die Saat des Hasses, die damals in Sachsen gesät wurde, hat noch ein Jahrhundert später, wie das Jahr 1866 zeigte, in vollen Halmen gestanden.1

Man sagt nun wohl, zur Zeit des Siebenjährigen Krieges wäre wenig darauf angekommen, was Land und Leute zu den über sie verhängten Schicksalen gesagt hätten. Immerhin waren sie damals doch auch schon, um mit Lassalle zu sprechen, ein Stück Verfassung. Das Gegenbild zu Sachsen bot im Siebenjährigen Kriege Ostpreußen. Wo die Russen in andere Provinzen des Königs eindrangen, in die Neumark oder in Hinterpommern, verheerten und verwüsteten sie nach Möglichkeit, aber Ostpreußen, das sie mehrere Jahre lang besaßen und als ihre Eroberung betrachteten, behandelten sie wie ein rohes Ei. Das einzige, was sie ihm auferlegten, war eine, wie es scheint, geringe Vermögenssteuer, aber dafür erließen sie der Bevölkerung die grausame Kantonpflicht. Die guten Ostpreußen haben diese Fremdherrschaft mit großer Gelassenheit ertragen, so dass ihr angestammter Landesherr in den zwanzig Jahren, die er den Siebenjährigen Krieg überlebte, den Boden dieser wankelmütigen Provinz nie wieder betreten hat; selbst ihr weisester Bewohner, Immanuel Kant, hat sich bei der „Allerdurchlauchtesten, Großmächtigsten Kayserin, Selbstherrscherin aller Reußen, Allergnädigsten Kayserin und großen Frau" Elisabeth um eine Professur an der Königsberger Hochschule beworben.

Hat der König Friedrich das Kurfürstentum Sachsen wirklich erobern wollen, so verstand sich selbst die Zarin besser als er darauf, wie man erobert, und das wäre schließlich die „fürchterlichste Deklassierung" des Königs.

V

Was sich nun aus dem Ursprung des Siebenjährigen Krieges ergibt, wie er hier in seinen wesentlichen Zügen dargestellt worden ist, ist die Tatsache, dass es völlig unmöglich ist, zu sagen, ob er von preußischer Seite ein Angriffs- oder ein Verteidigungskrieg gewesen sei. Daraus folgt, dass die Frage ebenso unentschieden bleiben muss, wenn man sie von englischer oder französischer, von österreichischer oder russischer Seite stellt.

Aber man kommt auch zu demselben negativen Ergebnis, wenn man irgendeinen anderen Krieg unter demselben Gesichtspunkt auf seinen Ursprung untersucht. Man wird immer auf einen mehr oder minder verwickelten, mehr oder minder tief in die Vergangenheit reichenden Zusammenhang stoßen, der sich niemals auf die kahle Alternative zurückführen lässt: Hier sind die Angreifer und hier sind die Verteidiger, etwa im Sinne des guten Schiller:

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben,

Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.

In der Geschichte geht es anders her als in der Kinderfibel und in den schlechten Romanen, die nur strahlende Tugendhelden und finstere Bösewichte kennen. Ist anders die Klassengesellschaft ein System gottgewollter Abhängigkeit, wie sie es ja nach der Ansicht hoher Autoritäten sein soll, so traf Moltke den Nagel ganz anders auf den Kopf als Schiller, indem er sagte, der Krieg sei ein Element in Gottes Ordnung, der ewige Friede aber sei ein Traum und nicht einmal ein schöner.

In der Klassengesellschaft regelt der Krieg in letzter Instanz die Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Nationen oder Staaten: in letzter Instanz, d. h., wenn sie sich so zugespitzt haben, dass eine gütliche Einigung ausgeschlossen ist. Denn dass Kriege vom Zaune gebrochen, dass sie um nichts und wieder nichts geführt werden – um einer „Mätressenlaune" willen, wie Lassalle einmal in einem unbewachten Augenblicke gesagt hat, oder um dergleichen Nichtigkeiten sonst – ist eine Vorstellung, die ebenfalls in die Kinderfibel gehört. Ebenso wie die unersättlichen Eroberer, die im Verschlingen von Ländern und Völkern nicht satt werden, ungefähr soviel Wirklichkeit haben wie die Menschenfresser des Märchens. Wäre es nach Napoleons persönlichen Wünschen gegangen, so hätte er sich 1805 weder mit Österreich und Russland noch 1806 mit Preußen und Russland noch 1809 mit Österreich noch 1812 mit Russland geschlagen. Das erkennen heute selbst die halbwegs ernsthaften deutschen Geschichtschreiber an.

Die kapitalistische Gesellschaft ist bei allen ihren Mängeln und Schwächen ein historisches Produkt, und wenn unter diesen Mängeln und Schwächen obenan steht, dass sie den Krieg nicht entbehren kann, um sich zu entwickeln, so stehen eben auch ihre Kriege unter historischen Gesetzen. Um eitel Kurzweil willen werden sie nicht geführt. Was zu diesem Trugschluss geführt hat, ist der Umstand, dass sie oft aus scheinbar geringfügigen Anlässen entspringen, wie der Siebenjährige Krieg aus einigen Schüssen, die im Gebiete der nordamerikanischen Indianer fielen. Aber ist der Tritt der Gemse die Ursache, dass die Lawine donnernd zu Tale stürzt? Erst müssen sich doch die Schneemassen am Felsenhange gehäuft haben, ehe sie auf einen leichten Anstoß hin durch ihr eigenes Gewicht niedergerissen werden. Oder ein Zündstoff muss hoch aufgetürmt sein, ehe ein Funke ihn in Brand setzen kann. Oder um ein Bild anzuwenden, das Goethe einmal von seinem dichterischen Schaffen gebraucht: Das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens stand, verwandelt sich durch die geringste Erschütterung sofort in festes Eis.

Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich auch die Hinfälligkeit des grundsätzlichen Unterschiedes, der zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen gemacht wird. Man muss dabei allerdings zwischen militärischen und politischen Gesichtspunkten unterscheiden. Unter militärischem Gesichtspunkt sind Angriff und Verteidigung vollkommen feste und klare, für das militärische Urteil unentbehrliche Begriffe, obgleich sie auch hier sich keineswegs ausschließen, sondern beständig ineinander übergehen oder nach dem bekannten Ausdruck Hegels ineinander umschlagen. Die Verteidigung ist je nachdem die schwächste oder die stärkste Form der Kriegführung: die schwächste, wenn sie sich auf sich selbst beschränkt, denn dann führt sie fast immer zur Niederlage, die stärkste, wenn sie im günstigen Augenblick in den Angriff überzugehen versteht. Den dialektischen Verschlingungen von Angriff und Verteidigung widmet Clausewitz einen großen Teil seines Werkes vom Kriege.

Auf politischem Gebiete sind dagegen Angriff und Verteidigung vollkommen verschwimmende Begriffe. Sind die Kriege ein Aufeinanderstoßen von Interessen, die sich auf friedlichem Wege nicht mehr ausgleichen lassen, so ist das geschichtliche Urteil über sie daran gebunden, ob der Sieg dieser oder jener Interessen für den geschichtlichen Fortschritt heilsamer sein würde, nicht aber an den rein zufälligen Umstand, ob der Tritt der Gemse die Lawine an diesem oder jenem Ende ins Stürzen bringt, oder etwa noch an die sehr nebensächliche Tatsache, ob die Diplomatie hüben oder drüben die Karten noch im letzten Augenblick geschickter zu mischen versteht. Jede kriegführende Partei behauptet in ihrem Kriegsmanifeste, dass sie ihre heiligsten Güter verteidige, und erklärt die Antastung dieser Güter durch die andere kriegführende Partei für einen frevelhaften Angriff; jede tut es von ihrem Standpunkt aus mit gutem Glauben an ihr Recht. Dieser gute Glaube mag auf falschen Voraussetzungen beruhen, wie es denn eben die Aufgabe des Krieges ist, falsche Voraussetzungen zu berichtigen und den wirklichen Stand der Dinge klarzustellen. Aber die Kriege von vornherein nach ganz äußerlichen und zufälligen Maßstäben in berechtigte Verteidigungskriege und unberechtigte Angriffskriege einzuteilen ist ein Unding und eine Unmöglichkeit.

Wenn diese Auffassung auch auf sozialistischer Seite nicht völlig ausgerottet worden ist, so wird man die Erklärung darin suchen müssen, dass wir in Kriegsfragen die Spinnweben der bürgerlichen Aufklärung noch nicht gründlich genug abgestreift haben. Selbst Marx spricht in der Adresse, die die Internationale am 23. Juli 1870 über den Deutsch-Französischen Krieg veröffentlichte, von dem „Verteidigungskrieg", der auf deutscher Seite geführt würde. Freilich knüpft er unmittelbar daran die Aufzählung von Tatsachen, die diesen „Verteidigungskrieg" in ein eigentümliches Licht stellen, aber er spricht dann doch auch wieder in derselben Urkunde von den „Sympathien", die die Deutschen „mit Recht" in einem „Verteidigungskriege gegen bonapartistischen Überfall" beanspruchen dürften.2 Heute wissen wir, dass die Dinge damals ganz anders lagen, als Marx annahm und nach dem, was damals bekannt war, auch annehmen musste. Bebel hat noch kurz vor seinem Tode, nach dem, was wir heute wissen, den damaligen Krieg als einen Angriffskrieg in so hohem Maße betrachtet, dass er in seinen Denkwürdigkeiten sein Bedauern darüber ausgesprochen hat, bei der Abstimmung über die ersten Kriegskredite im Jahre 1870 sich der Stimme enthalten und nicht mit Nein gestimmt zu haben. Es wird auf die damalige Lage noch zurückzukommen sein; hier nur so viel, dass 1870 zwei Offensiven aufeinander stießen, dass also, wenn man die Begriffe von Angriff und Verteidigung überhaupt anwenden will, der Krieg von 1870 auf deutscher wie auf französischer Seite sowohl ein Angriffs- als auch ein Verteidigungskrieg gewesen ist.

Vor zwei Jahren hat die sozialdemokratische Presse in Deutschland die Landwehren von 1813 zum hundertjährigen Gedächtnis ihrer Kämpfe gefeiert. Und doch war der Krieg, worin sie kämpften, wörtlich genommen ein Angriffskrieg. Er begann mit einem Verrat an dem französischen Bundesgenossen, der Konvention von Tauroggen, die die Franzosen, von ihrem Standpunkt aus nicht mit Unrecht, als eine Felonie ohnegleichen betrachtet haben; dann folgte eine Reihe hinterhältiger und trügerischer Verhandlungen und endlich die Kriegserklärung an Frankreich. Der Maßstab des Angriffs- und Verteidigungskrieges versagt hier wie überall, wo es die historische Würdigung der Kriege gilt.

Deshalb war es ein entschiedener Fehlgriff Bebels, wenn er 1907 auf dem Parteitage in Essen erklärte, in einem Verteidigungskriege habe die Arbeiterklasse allemal mitzumachen, und diese Ansicht damit begründete, die Arbeiter würden im einzelnen Falle sehr wohl zu entscheiden wissen, ob es sich um einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg handle. Das können die Arbeiter eben nicht, sie sowenig wie irgendwelche andere Menschen, einfach aus dem Grunde nicht, weil es an allen sichern Handhaben fehlt, um einen Angriffs- von einem Verteidigungskriege zu unterscheiden. Der Auffassung Bebels wurde, als er sie äußerte, sofort widersprochen, auch vom Schreiber dieser Zeilen, sowohl in der „Leipziger Volkszeitung" wie auch in der „Neuen Zeit", aber die Autorität Bebels war – in diesem Falle muss man sagen leider! – groß genug, um seine Ansicht gewissermaßen zur Parole für die Kriegstaktik der Partei zu machen, was, wie die Erfahrungen des letzten Jahres genügend gezeigt haben, durchaus verwirrend gewirkt hat. Wie immer man über die Beteiligung der Arbeiterklasse an Kriegen denken mag, so muss man die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg von vornherein und ein für allemal ausschalten. Sie besagt eben gar nichts und ist keine sicher strahlende Leuchte, sondern ein hin und her huschendes Irrlicht.

Anders als mit dem Angriffs- oder Verteidigungskriege steht es mit dem Eroberungskriege. Über diesen Begriff ist eine Verständigung ebenso möglich wie notwendig. Der Tendenz nach ist jeder Krieg ein Eroberungskrieg, denn jede kriegführende Partei strebt danach, ihr Machtgebiet auf Kosten des Gegners zu erweitern, das heißt also etwas zu erobern, was sie bisher nicht besessen hat, was nicht immer in der Form zu geschehen braucht, dass dem Gegner Land und Leute abgenommen werden, aber gewöhnlich in dieser Form zu geschehen pflegt.

Wenn also der Tendenz nach jeder Krieg für jede der kriegführenden Parteien ein Eroberungskrieg ist, so verläuft die Sache in der Wirklichkeit so, dass es in einem Kriege nur dann zu keinen Eroberungen kommt, wenn beide Teile sich gegenseitig so abmatten, dass keiner dem anderen seinen Willen aufzuzwingen vermag, wie im Siebenjährigen Kriege, soweit er sich auf dem europäischen Festlande abspielte. Siegt aber der eine Teil so, dass er dem Gegner die Friedensbedingungen zu diktieren vermag, so werden sich unter diesen Friedensbedingungen immer Eroberungen zu seinen Gunsten befinden. Die beliebte Vorstellung, als könne ein ruchlos angegriffener Staat nach erfolgreicher Abwehr des Feindes sich damit begnügen, das Schwert wieder in die Scheide zu stecken in dem beseligenden Bewusstsein, seine gute Sache siegreich durchgeführt zu haben, ist ebenfalls nur ein Gebilde der Märchenwelt. Solche Kriege sind nie geführt worden und werden auch niemals geführt werden, wenigstens nicht, solange es eine Klassengesellschaft gibt.

Aus den Schriften des Alten Fritz lässt sich ein kurzes, aber erschöpfendes Kolleg über Eroberungskriege zusammenstellen. Er sagt einmal: „Die neuen Erwerbungen eines Fürsten machen die Staaten, die er schon besaß, nicht reicher, seine Völker haben davon keinen Nutzen, und er selbst täuscht sich, wenn er dadurch glücklicher zu werden hofft." Das ist die philosophische Seite der Sache. Aber ein andermal, wo der König ihre politische Seite betrachtet, sagt er: „Man hat gut mit erhabener Gesinnung prahlen (on a beau étaler de grands sentiments). Jeder Krieg, der nicht zu Eroberungen führt, schwächt den Sieger und entkräftet den Staat. Man muss es niemals zu Feindseligkeiten kommen lassen, wenn man nicht die sichersten Aussichten auf Eroberungen hat." Eine gewisse Vermittlung zwischen dem philosophischen und praktischen Standpunkt unternimmt der König in seinem Politischen Testament von 1752, wo er schreibt: „Machiavell sagt, dass eine uneigennützige Macht, die sich unter ehrgeizigen Mächten befände, unfehlbar untergehen würde. Ich bin darüber sehr ärgerlich, aber ich muss gestehen, dass Machiavell recht hat." Man hat die Äußerung bei Machiavell vergebens gesucht, doch ist sie ganz in seinem Geiste gedacht und namentlich in dem Geiste der Staatsräson, der mit der kapitalistischen Produktionsweise aufgekommen war.

Hundert Jahre nach Machiavell urteilte ein Publizist aus Richelieus Schule: „Machiavells Maximen sind so alt wie die Zeit und die Staaten. Er lehrt nichts Absonderliches oder Unerhörtes, er erzählt nur, was die, die vor uns waren, getan haben, und was die Menschen von heute tun, zu ihrem Nutzen und unvermeidlicherweise." Und wieder hundert Jahre später schrieb ein Publizist aus Friedrichs Schule: „In der Politik muss man zurückkommen von den spekulativen Ideen, die der große Haufe sich bildet über die Gerechtigkeit, Billigkeit, Mäßigkeit, Aufrichtigkeit und ähnliche Tugenden der Nationen und ihrer Lenker: Alles läuft schließlich auf die Macht hinaus." Man war in der Vergangenheit offenherziger als in der Gegenwart.

Heutzutage findet man in den Kriegsmanifesten der kriegführenden Parteien neben der Versicherung, dass sie nur einen Verteidigungskrieg führten, meistens auch die Ablehnung jeder Eroberungsabsicht. Allein das ist nur eine facon de parier, wie La Mettrie sagte, als ihm im Todeskampfe der Schmerzensruf: Jesus Maria! entfuhr und ein anwesender Priester ihn deshalb beglückwünschte, zum christlichen Bekenntnis zurückgekehrt zu sein. In der Thronrede, womit im Juli 1870 der Norddeutsche Reichstag eröffnet wurde, hieß es wörtlich: „Das deutsche wie das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampfe berufen als zu dem blutigen der Waffen. Doch die Machthaber Frankreichs haben es verstanden, das wohlberechtigte, aber reizbare Selbstgefühl unseres großen Nachbarvolkes durch berechnete Missleitung für persönliche Interessen und Leidenschaften auszubeuten." Demgemäß kündigte die Thronrede nicht der französischen Nation, sondern „dem Gouvernement des Kaisers der Franzosen" den Krieg an.

Als dann die deutschen Heere die französische Grenze überschritten, erließ der König von Preußen eine „Proklamation an das französische Volk", worin es hieß: „Nachdem der Kaiser Napoleon die deutsche Nation, welche wünschte und noch wünscht, mit dem französischen Volke in Frieden zu leben, zu Wasser und zu Lande angegriffen hatte, habe ich den Oberbefehl über die deutschen Armeen übernommen, um diesen Angriff zurückzuweisen; ich bin durch die militärischen Ereignisse dazu gekommen, die Grenzen Frankreichs zu überschreiten. Ich führe Krieg mit den französischen Soldaten und nicht mit den Bürgern Frankreichs. Diese werden demnach fortfahren, eine vollkommene Sicherheit ihrer Person und ihres Eigentums zu genießen."

Nachdem jedoch das „Gouvernement des Kaisers der Franzosen" gestürzt war, und die „Bürger Frankreichs" sich bereit erklärten, dem Wunsche der deutschen Nation nach Frieden entgegenzukommen, und zwar indem sie sich zur allerreichlichsten Kriegsentschädigung erboten, wies die preußische Regierung – siehe die halbamtliche Provinzialkorrespondenz vom 14. September 1870 – das Angebot als eine „einfältige Zumutung" zurück und suchte durch eine wahrhaft halsbrecherische Sophistik nachzuweisen, dass die eben mitgeteilten Wendungen des preußischen Königs durchaus nicht das enthielten, was bis dahin alle Welt darin gelesen hatte; nämlich einen Verzicht auf Eroberungen.

Man darf darin aber durchaus nicht eine Irreführung sehen, die etwa geflissentlich von einzelnen Personen angezettelt worden wäre. Wie kein Kolonial-, so war Bismarck auch kein Eroberungspolitiker, wenigstens nicht in dem Sinne, dass Eroberungen als solche sein Ziel waren. Sie waren ihm höchstens Mittel für seine politischen Zwecke, und er hat wie 1866, so auch 1871 aufs heftigste mit der Militärpartei gekämpft, um die Annexionen wenigstens nach Möglichkeit einzuschränken. Mit Moltke ist er deshalb in unversöhnliche Feindschaft geraten; wie in Moltkes Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges der Name Bismarck nicht einmal erwähnt wird, so sind Bismarcks Denkwürdigkeiten von unfreundlichen Äußerungen über die „Militärs" erfüllt. Aus dem langen Nachhall dieser Kämpfe mag man darauf schließen, wie erbittert sie gewesen sind, aber durchgesetzt hat Bismarck trotz all seiner Macht, wie sie weder vor noch nach ihm ein preußischer Minister gehabt hat, seinen Willen nicht. Bei der Annexion Elsass-Lothringens wurden die Grenzen viel tiefer nach Frankreich hineingezogen, als Bismarck dulden wollte.

Setzen wir den Fall, der leitende Minister eines kriegführenden Staates wollte wirklich keine Eroberungen machen und eine Partei böte ihm die Bewilligung der Kriegskredite unter der Bedingung an, dass keine Eroberungen gemacht würden, so würde er als ehrlicher Mann dennoch antworten: Wenn der Krieg unentschieden bleibt, so machen wir keine Eroberungen und noch weniger, wenn wir geschlagen werden, aber wenn wir siegen, so kann ich die gewünschte Bürgschaft nicht übernehmen. Ein siegreiches Heer lässt sich niemals Eroberungen verbieten. Das mag eine unangenehme Tatsache sein, aber bei all seinen Gräueln denkt der Krieg immer äußerst radikal, und wer ihm zwar nicht die ganze Hand, aber doch den kleinen Finger reichen will, wird immer unangenehme Erfahrungen machen.

Entweder wird man eines schönen Morgens mit beiden Füßen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehen, oder man wird die wehmütige, jedoch den Politiker nicht eigentlich zierende Klage anstimmen müssen, dass die Dinge ganz anders gekommen seien, als man geglaubt, gehofft und gewünscht habe.

1 Im Krieg 1866 trat Sachsen auf die Seite Österreichs. Mitte Juni 1866 überschritten die preußischen Armeen die sächsische Grenze und besetzten innerhalb weniger Tage das Land. Während die sächsische Bourgeoisie sich schwankend und inkonsequent verhielt, standen die sächsischen Arbeiter und große Teile des Kleinbürgertums und der Bauernschaft den Okkupanten unverhüllt feindlich gegenüber und protestierten auf Kundgebungen und Versammlungen gegen die drohende Verpreußung Sachsens und der anderen deutschen Klein- und Mittelstaaten.

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