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Franz Mehring 19100204 Anmerkung zu: Friedrich Adler

Franz Mehring: Anmerkung zu: Friedrich Adler, Der ,Machismus' und die materialistische Geschichtsauffassung

4. Februar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 682-687. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 213-221]

Es gereicht mir zu aufrichtiger Genugtuung, allem zustimmen zu können, was Genosse Adler über Mach selbst sagt, und zwar umso mehr, als er ungleich zuständiger ist als ich, über Machs wissenschaftliche Leistungen zu urteilen. Ich habe diese Leistungen mit keiner Silbe angetastet, sondern nur bestritten, dass sie mit dem historischen Materialismus etwas zu schaffen haben, worin mir Genosse Adler zustimmt. Gegen eine „Ergänzung" in dem Sinne, dass Mach auf dem Gebiet der Physik das gleiche geleistet hat wie Marx auf dem Gebiet der Geschichte, habe ich durchaus nichts einzuwenden; worauf es mir ankam, war allein die klare und reinliche Scheidung der gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden, und ich habe mit allem Nachdruck betont, dass Mach selbst in dieser Beziehung nie das Geringste verfehlt hat.

Anders steht es um die „Machisten", die, wie ich sagte, „trotz Mach" ins Gebiet der Geschichte einbrechen, um hier eine gräuliche Verwirrung anzurichten. Was ich über das Buch Petzoldts gesagt habe, muss ich vollkommen aufrechterhalten. In dem nur einige zwanzig Zeilen umfassenden Vorwort dieses Buches erklärt der Verfasser, dass er eine Geschichte der Philosophie geben und die historische Notwendigkeit des Positivismus an der Hand Machs und anderer nachweisen wolle. In der Tat gibt er auch eine Geschichte der Philosophie von Thales bis auf Kant, die, soweit sie Geschichte sein will, geradezu „haarsträubend" ist, und keineswegs bloß an der von mir zitierten Stelle. Ich will jedoch darauf nicht noch einmal eingehen, sondern begnüge mich, die Berufung des Genossen Adler auf „unbefangene" Leser anzunehmen. Die Schrift Petzoldts ist unter dem Titel „Das Weltproblem vom positivistischen Standpunkt" in der Teubnerschen Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt" erschienen und kostet gebunden nur 1,25 Mark.

Es will mir nun scheinen, dass Genosse Adler sich bei der Verteidigung Petzoldts nicht allzu sicher fühlt und deshalb nach der alten Regel, dass die beste Deckung der Hieb sei, Petzoldts historische Rückständigkeit durch meine naturwissenschaftliche Rückständigkeit zu decken sucht. Wie er sagt, stehen für mich die „Schriften der Büchner und Moleschott und Haeckel" „naturwissenschaftlich auf der Höhe"; er meint, ich sei bei den physikalischen Anschauungen der Büchner und Moleschott stehengeblieben; ich hätte die neueren Wandlungen bisher nicht verfolgt und könnte daher auch kein Urteil darüber haben, welchen Vorsprung in dieser Richtung Josef Dietzgen bereits besessen habe; ich hielte einstweilen am mechanistischen Materialismus fest, was mir auch gar nicht zu verargen sei usw.

So dankbar ich dem Genossen Adler für seine Nachsicht bin, so wäre ich ihm freilich noch dankbarer, wenn er sich ein wenig genauer an das gehalten hätte, was ich gesagt habe. Nachdem ich die „historische Methode" Petzoldts beleuchtet hatte, fuhr ich wörtlich fort:

Man sagt nun wohl: Abgesehen von dem historischen Galimathias, ist das Buch Petzoldts doch schön geschrieben und steht naturwissenschaftlich auf der Höhe. Aber was soll damit bewiesen werden? Dasselbe gilt ja auch von den Schriften der Büchner und Moleschott und Haeckel. Sie waren und sind noch auch mehr oder minder hervorragende Naturforscher, und namentlich das berufenste Werk dieses verflachten und vulgarisierten Materialismus, Büchners „Kraft und Stoff", ist mit einem sehr bemerkenswerten literarischen Talent geschrieben. Mit solchen Büchern wie der Schrift Petzoldts marschiert man sechzig Jahre zurück, und ihr „Machismus" verdient mindestens alle die liebenswürdigen Komplimente, mit denen die Büchner und Genossen ihrer Zeit so reichlich gesegnet worden sind.“

Ich glaubte – und glaube auch heute noch – in diesen Sätzen das tertium comparationis1 genügend klar herausgearbeitet zu haben und verstehe, offen gestanden, nicht, wie mich Adler daraufhin ansprechen kann, als sei ich bei Büchner, Haeckel und Moleschott „stehengeblieben". Was ich in früheren Jahrgängen der „Neuen Zeit" speziell über Büchner und Haeckel geschrieben habe, das braucht er gewiss nicht zu kennen, aber der Artikel allein, gegen den er polemisiert, lässt doch wirklich meine Stellung zu Büchner, Haeckel und Moleschott nicht in rosigem Lichte erscheinen. Freilich nenne ich diese Männer „mehr oder minder hervorragende Naturforscher", aber bin ich deshalb bei Louis Blanc und Proudhon „stehengeblieben", wenn ich in Louis Blanc und Proudhon „mehr oder minder hervorragende Sozialisten" erblicke? Aus Bewunderung für Büchner und Moleschott soll ich nun auch kein Urteil über den Vorsprung Dietzgens haben, obgleich ich ausdrücklich den Vorsprung Dietzgens sogar vor Feuerbach anerkannt habe. Doch darf ich mich hier mit Engels trösten, der nach Ansicht des Genossen Adler auch nicht an Dietzgen heranreicht, allerdings aus dem umgekehrten Grunde nicht, weil Engels weit größere Detailkenntnisse in der Physik besessen habe als Dietzgen. Das Problem Dietzgen wächst sich immer mehr zum schleierhaftesten aller Probleme aus.

Inzwischen, wenn ich mich gegen die schwer begreiflichen Missverständnisse des Genossen Adler wende, so tue ich es nicht, weil ich mich durch seine Zweifel an meinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen gekränkt fühle. Aufs bereitwilligste erkenne ich seine Überlegenheit auf diesem Gebiet an, und es kränkt mich eher, dass er mir absprechende Urteile auf einem Gebiet zutraut, auf dem ich mich durchaus nur als Lernender, aber nicht als Lehrender bewegen kann. Ich verstehe von den Naturwissenschaften gerade nur soviel, um zu wissen, dass auf ihrem Gebiet eine ganz andere Forschungsmethode gilt als auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften, eine Ansicht, die auch Marx und Engels geteilt haben müssen, da sie sonst nicht den historischen von dem naturwissenschaftlichen Materialismus getrennt und die historisch-materialistische Methode nicht zum Leitfaden ihrer ganzen Lebensarbeit gemacht haben würden. Ich habe ausdrücklich den unlöslichen Zusammenhang betont, worin die Geschichte der Natur und die Geschichte der menschlichen Gesellschaft stehen, und ich bezweifle gar nicht, dass es in der Natur am letzten Ende ebenso dialektisch hergehen mag wie in der Geschichte, aber die Entwicklung ist hier und dort durchaus verschieden, und der Versuch, die Entwicklungsgesetze der Natur einfach auf die Geschichte zu übertragen, führt direkt „in die alte Konfusion zurück". Oder wenn sich Genosse Adler an der „Schärfe" dieser Worte stößt, so will ich mit dem Genossen Pannekoek, der, von Beruf ja auch Naturforscher, also in dieser Frage viel zuständiger als ich, in seinem eben von dem Leipziger Parteiverlag herausgegebenen vortrefflichen Vortrag über „Marxismus und Darwinismus" dieselbe Frage behandelt, höflicher sagen: „Will man die eine Lehre auf das Gebiet der anderen übertragen, so wird man notwendig zu Fehlschlüssen kommen." Was bei diesem Durcheinanderwerfen gesellschafts- und naturwissenschaftlicher Gesichtspunkte herauskommt, hat in wahrhaft tragischer Weise F. A. Lange erfahren, der nach Charakter und Geist wie wenige verdient hätte, im Gedächtnis der arbeitenden Klassen fortzuleben, und der heute so gut wie völlig vergessen ist, obgleich sein Grundirrtum zu seiner Zeit viel begreiflicher war, als er heute ist.

Da ich weiß, dass es dem Genossen Adler ebenso um die Sache zu tun ist, wie ich das gleiche von mir sagen darf, so wird er es mir nicht übel deuten, wenn ich in dem dritten Abschnitt seines Aufsatzes ein wahres Musterbeispiel dessen erkenne, was ich als „philosophische Haarspaltereien" bekämpfe, als „gelehrte Spielereien", bei denen es schade um die Kraft und Zeit sei, die damit verbraucht werde. Aus einem einzelnen Satze, den Marx über historische Zusammenhänge geäußert hat, greift er ein einzelnes Wort heraus, an dem er mit naturwissenschaftlichen Begriffen herumdeutelt, um es durch ein treffenderes Wort zu ersetzen. Diese naturwissenschaftlichen Begriffe mögen sehr gelehrt und scharfsinnig sein, darüber erlaube ich mir kein Urteil, aber was historisch damit gewonnen sein soll, wenn das Wort „bestimmen" durch das Wort „anpassen" ersetzt wird, das geht über mein Verständnis, es sei denn, dass die von Marx geäußerte Ansicht unklarer und verschwommener ausgedrückt werden soll.

Falls ich den Genossen Adler recht verstehe, so ist ihm das Wort „bestimmen" etwas zu „bestimmt". Er sieht die wesentliche Bedeutung des Gedankens von Marx darin, dass die Wandlungen in den Köpfen sekundär seien gegenüber den Wandlungen in den Produktionsverhältnissen. Er will auch bei konstanten Produktionsverhältnissen eine Veränderung des Denkens als möglich zulassen, namentlich für die Naturwissenschaften und unter diesen vor allem für die Erkenntnistheorie. Er meint, dass sich wohl viele Formulierungen der Philosophie als Gedankenanpassungen an die ökonomischen Verhältnisse aufzeigen ließen, ja gewisse seien geradezu eine Metaphysik der ökonomischen Verhältnisse, aber die eigentlich naturwissenschaftlichen Probleme der Erkenntnistheorie hingen von ihnen nicht ab. So will er denn den Satz von Marx, wonach nicht das Bewusstsein der Menschen ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein bestimmt, dahin geändert wissen, dass die Menschen ihr Bewusstsein ihrem gesellschaftlichen Sein anpassen.

Nun lautet der Satz bei Marx im Zusammenhang: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt."2 Offenbar enthält der erste dieser beiden Sätze die eigentliche Quintessenz des historischen Materialismus, wie ihn Genosse Lafargue denn auch mit Recht zum Motto seiner vor Jahr und Tag erschienenen historisch-materialistischen Aufsätze genommen hat. Ich beziehe mich auf Lafargue, weil er durch die französische Sprache in der schärferen Ausprägung des Gedankens begünstigt ist; er übersetzt „bedingen" nicht mit determiner, sondern mit conditionner. Im Deutschen werden „bedingen" und „bestimmen" vielfach in gleichem Sinne aufgefasst, aber nur – siehe darüber das Kapitel bei Wustmann – infolge einer Sprachverderbnis, die vor fünfzig Jahren noch nicht bestand. Marx hat „bedingen" in dem gleichen Sinne gebraucht, worin er davon spricht, dass „in letzter Instanz" alles gesellschaftliche Leben von der materiellen Produktionsweise abhängt, und in dem zweiten jener Sätze erläutert er diesen Gedanken in epigrammatischer Zuspitzung, indem er die bisher landläufige Meinung, wonach das Bewusstsein der Menschen ihr gesellschaftliches Sein bestimmt, einfach umkehrt.

Soviel über die Sprache, wenn denn schon einmal an Worten geklaubt werden soll. Indessen, wie immer in solchen Fällen läuft das Mäkeln an der Sprache auf ein Mäkeln an der Sache hinaus. Die Naturwissenschaften und namentlich die Erkenntnistheorie sollen von der ökonomischen Entwicklung mehr oder weniger unabhängig sein. Dem ist aber nicht so. Seit den Tagen der ältesten griechischen Philosophie ist alle Erkenntnistheorie von jener Entwicklung abhängig gewesen, wenn auch nicht immer in so handgreiflicher Form wie die Erkenntnistheorie Kants, der sie seiner absolutistisch-feudalen Obrigkeit als heilsames Gegengift gegen allen volksverderblichen „Atheism und Materialism" empfahl. Ebenso werden die Fortschritte der Naturwissenschaften bestimmt durch die Fortschritte der materiellen Produktionsweise; wenn Genosse Adler es für „möglich" erklärt, dass irgendeine naturwissenschaftliche Entdeckung zu einer anderen Zeit hätte gemacht werden können, als zu der sie gemacht worden ist, so könnte ich ihn, wie er mich mit Büchner und Marschall geneckt hat, mit Du Bois-Reymond necken, der die alten Römer rüffelte, weil sie nicht das Pulver erfunden und sich dadurch den Angriffen der Barbarenheere überlegen erwiesen hätten.

Nun wird mir Genosse Adler vielleicht einwenden: Das sei meine Auffassung, die deshalb doch noch nicht unfehlbar sei. Sicherlich nicht, aber darum handelt es sich ja auch gar nicht. Möglich, dass er recht hat und nicht ich, möglich, dass Marx die Abhängigkeit des geistigen Lebensprozesses von der materiellen Produktionsweise viel zu eng gefasst hat; ich sage nur soviel, dass Art und Maß dieser Abhängigkeit nicht durch biologische oder physikalische Analogien, nicht durch philosophische Haarspaltereien oder durch gelehrte Wortspielereien, sondern allein durch die praktische Arbeit am historischen Stoffe festgestellt werden kann.

Das habe ich für die „erste und wichtigste Aufgabe" der Marxisten erklärt, und daran halte ich vollkommen fest, selbstverständlich derjenigen Marxisten, die es sich zur Aufgabe machen, an dem von dem Meister begonnenen Bau weiter zu schaffen. Von der erfreulicherweise täglich wachsenden Schar derer, die sich zu Marx bekennen, aber im übrigen ihrem bürgerlichen Beruf nachgehen oder auf anderen wissenschaftlichen Gebieten arbeiten, habe ich natürlich niemals verlangt, dass sie Historiker werden sollen.

Die Annahme des Genossen Adler, dass ich meine Produktionsweise als alleinseligmachend betrachte, trifft nun vollends daneben, insofern als meine Produktionsweise – bei allem noch so immensen Unterschied in der Qualität ihrer Ergebnisse – doch keine andere ist als die Produktionsweise von Marx und Engels.

Marx hat der Theorie der Theorie, wenn ich richtig zähle, etwa zwanzig Zeilen gewidmet, und Engels zwar etwas mehr, aber – bezeichnend genug – nur in einigen Privatbriefen, die erst nach seinem Tode in die Öffentlichkeit gelangt sind, nicht nach seinem Willen, sondern weil die Empfänger ihre Veröffentlichung für notwendig oder nützlich erachtet haben.3 Sonst haben Marx und Engels ihre wissenschaftliche Methode immer nur am historischen Stoffe aufgezeigt und nur dadurch ihre gewaltigen Wirkungen erzielt. Erst durch diese überwältigenden Wirkungen ist die Möglichkeit der „Geschichte als Wissenschaft" erwiesen worden, keineswegs aber durch die „Formulierung ihrer Gesetze", um die sich einige Jahrzehnte die Anhänger von Marx und Engels sowenig gekümmert haben wie ihre Gegner.

Es versteht sich, dass Marx seine Theorie auch erst aus seiner Praxis geschöpft hat und sie zunächst nur – gegenüber den unabsehbaren Massen des historischen Stoffes, die ein einzelner, und wäre es das größte Genie, niemals allein bewältigen kann – in den allgemeinsten Grundzügen entwickeln konnte. Bisher hat sie jede praktische Probe bestanden, aber um sie auszubauen, zu verfeinern und zu vertiefen, ist noch eine ungeheure Menge praktischer Arbeit notwendig, und solange diese Arbeit nicht geleistet ist, führt uns alles Herumtüfteln an den ersten Grundlinien, die Marx gezogen hat, keinen Schritt vorwärts.

Genosse Adler erklärt es für eine Lebensbedingung der materialistischen Geschichtsauffassung, dass sich die Marxisten die genauesten Kenntnisse auf anderen Wissensgebieten verschafften. Das ist, fürchte ich, wie Marx sich einmal ausdrückt, ein „hohler frommer Wunsch": fromm, da es gewiss wünschenswert ist, dass die Marxisten sich solche Kenntnisse verschaffen; hohl, da es noch kein Genie gegeben hat und schwerlich eines geben wird, das die Gebiete der Gesellschafts- und der Naturwissenschaften gleichmäßig beherrscht. Auf keinen Fall ist aber die Forderung des Genossen Adler eine „Lebensbedingung des Marxismus". Die beiden Gründe, die Genosse Adler für seine Ansicht anführt, sind meines Erachtens nicht stichhaltig. Die wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaften kann dem Marxismus nichts geben, der eben eine ganz andere wissenschaftliche Methode ist, und die historisch-materialistische Methode kann aus eigener Kraft vollkommen die Angriffe abwehren, die von anderen Wissensgebieten her auf sie gemacht werden, wie denn Genosse Pannekoek eben wieder in seinem klaren und verständigen, auch für Arbeiter leichtverständlichen Vortrag auf wenigen Seiten die darwinistischen Angriffe auf den historischen Materialismus erledigt hat.

Um überhaupt davon zu reden, so überschätzt Genosse Adler diese „Einbrüche" von anderen Wissensgebieten her. Ich stelle mir in seinen Augen vielleicht ein arges Armutszeugnis aus, wenn ich offen gestehe, dass ich die Angriffe der Philosophieprofessoren, wie Rickert, Stammler, Windelband usw., auf den historischen Materialismus noch nie gelesen habe und sie auch nie zu lesen beabsichtige. Das ist gewiss nicht für diese Gelehrten, sondern höchstens für mich ein Malheur, aber wenn anders der historische Materialismus den Beweis des Geistes und der Kraft nur aus sich heraus zu führen vermag, so kommt es auf alles Spintisieren über seine Theorie nicht an. Ich weiß mich dabei vollkommen frei von jeder ungebührlichen Geringschätzung der Universitätsliteratur. Soweit aus ihr Werke hervorgehen, die sich praktisch dem historischen Materialismus nähern, also auf dem Felde kämpfen, auf dem die Schlacht allein entschieden werden kann, verfolge ich sie mit der größten Aufmerksamkeit und auch mit aller gebührenden Achtung: einem dieser Werke habe ich erst kürzlich ein ganzes Ergänzungsheft der „Neuen Zeit" und einem anderen zehn oder zwölf eng gedruckte Spalten des „Vorwärts" gewidmet.4

Da ich vielleicht ohne Ruhmredigkeit sagen darf, dass ich mich eingehender als irgendwer mit den philosophischen Anfängen von Marx und Engels beschäftigt habe, so mag die Absage an alle philosophischen Hirnwebereien, die für die Meister die Voraussetzung ihrer unsterblichen Leistungen gewesen ist, bei mir zu epigonenhafter Starrheit entartet sein. Das will ich dem Genossen Adler gern zugeben. Aber dann berufe ich mich etwa auf das Beispiel Cunows und Kautskys. Diese Genossen binden sich ja alle paar Jahre einmal einen der gelehrten Männer vor, die ihre philosophischen Flöhe am harten Steine des historischen Materialismus knacken, aber in der Hauptsache redigiert der eine den „Vorwärts", der andere die „Neue Zeit", schenkt uns der eine sein schönes Buch über die Französische Revolution und der andere sein schönes Buch über den Ursprung des Christentums. So haben Marx und Engels gearbeitet, und so müssen auch ihre Schüler arbeiten, wenn sie dem Geiste ihrer Lehrer treu bleiben wollen. Mit einer einzigen Schrift, wie Kautskys „Ursprung des Christentums" oder Cunows „Französischer Revolution", ist für den historischen Materialismus ungleich mehr getan als mit der glänzendsten Widerlegung aller Philosophieprofessoren, die über den Marxismus orakelt haben, orakeln oder orakeln werden.

Damit komme ich an den tiefsten Grund der Meinungsverschiedenheit, die zwischen dem Genossen Adler und mir besteht. Marx und Engels wollten die Ergebnisse ihrer Arbeiten nicht der Gelehrtenwelt in dicken Büchern zuflüstern, sondern sie, um mit Lassalle zu sprechen, der darin nicht anders dachte, durch die Adern alles Volkes jagen. Sie sahen im historischen Materialismus, wie Labriola in seiner ausgezeichneten Abhandlung über das Kommunistische Manifest sagt, die eben jetzt auch vom Leipziger Parteiverlag in einer deutschen Übersetzung herausgegeben worden ist, nicht nur ein Werkzeug des Geistes, sondern auch eine Waffe des Kampfes. Es war ihnen um den Sieg der proletarischen Weltanschauung und nicht um die Herstellung eines „einheitlichen Gesamtweltbildes" zu tun. Sicherlich ist der Trieb nach Herstellung eines solchen Bildes in ihnen so lebendig – oder bei ihrer hervorragenden Begabung noch viel lebendiger – gewesen, wie in jedem Menschen, der nicht mit der Gedankenlosigkeit einer Fliege in den Tag hinein lebt, wie im lutherischen Orthodoxen und im fanatischen Ultramontanen nicht minder als im bürgerlichen Freidenker und im sozialistischen Revolutionär. Aber die objektiv-wissenschaftliche Herstellung eines „einheitlichen Gesamtweltbildes" ist nicht der Zweck von Marx und Engels gewesen, und gerade Engels, auf den sich Genosse Adler in erster Reihe beruft, hat sich über diese Aufgaben mehr als nur skeptisch geäußert. Möglich, dass zwischen den Grundgedanken von Marx und den Prinzipien des mechanischen Materialismus unüberbrückbare Gegensätze bestehen, aber dann haben sich Marx und Engels mindestens für einen großen und gerade den Teil ihres Lebens, der ihre epochemachenden Leistungen umfasst, an einer „Art Personalunion" genügen lassen.5

Allerdings ist im vorigen Hefte dieses Feuilletons gesagt worden, dass Marx schon 1847, in seinen Thesen über Feuerbach, den mechanischen Materialismus abgewiesen habe. Das scheint mir aber nicht zuzutreffen.

Ob Marx überhaupt jemals den mechanischen Materialismus abgewiesen hat, lässt sich nicht entscheiden, da er sich darüber niemals ausgelassen hat, öffentlich gewiss nicht, und soweit ich seinen Briefwechsel kenne, auch in diesem nicht. Von Engels, der sich mit den Naturwissenschaften vielleicht eingehender als Marx beschäftigt und jedenfalls ausführlicher als Marx über sie gesprochen hat, erkennt Genosse Adler ja selbst an – in jenem Artikel, worin er beklagt, dass Engels, durch allzu reelle physikalische Kenntnisse belastet, sich auf Dietzgens Höhe nicht habe schwingen können –, dass Engels einen Rest von mechanischem Materialismus niemals losgeworden sei. Marx hat jedenfalls, wo er kritische Stellung zum Materialismus nimmt, immer nur das Recht des gesellschaftswissenschaftlichen gegenüber dem „abstrakt naturwissenschaftlichen" Materialismus verfochten, wie in der Note des „Kapital", die ich schon in meinem vorigen Artikel zitierte, so auch in den Thesen über Feuerbach.

Insofern bin ich aber sehr dankbar für den Hinweis auf diese Thesen, als sie schlagend bestätigen, was ich als Kern und Wesen des Marxismus gegen manche jüngeren Marxisten und so auch gegen den Genossen Adler vertrete. Ich zitiere nur ihren Schlusssatz: „Die Philosophen haben die Gesellschaft nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern",6 das heißt, auf unseren Fall angewandt: Ob der historische Materialismus in einem engen Kreise von Fachgelehrten so oder so interpretiert wird, das ist ganz gleichgültig; seine Methode aber durch praktische Erprobung am historischen Stoffe als schärfste Waffe des proletarischen Klassenkampfes für die Revolutionierung der Köpfe, als wirksamsten Hebel der Massenaufklärung und Massenbildung zu handhaben, das scheint mir die erste und wichtigste oder, wenn Genosse Adler so will, meinetwegen auch die einzige Aufgabe der Marxisten zu sein.

1 tertium comparationis - Gesichtspunkt für den Vergleich.

3 Hier kommt die Unterschätzung der marxistischen Philosophie als Weltanschauung zum Ausdruck. Es ist natürlich nicht richtig, dass Marx und Engels der Ausarbeitung der philosophischen Grundlagen ihrer Lehre so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Der „Anti-Dühring" und der „Ludwig Feuerbach" von Engels waren ja vorwiegend gerade dieser Aufgabe gewidmet, ganz zu schweigen davon, dass Marx, wie Lenin bemerkte, zwar kein Werk über die dialektische Logik, aber „die ,Logik' des ,Kapitals'" hinterlassen hat.

4 Mehring besprach Hans Delbrücks „Geschichte der Kriegskunst" in dem Ergänzungsheft Nr. 4 der „Neuen Zeit" vom 16. Oktober 1908; eine Schrift des Historikers Max Lehmann rezensierte Mehring in dem Artikel „Preußen vor hundert Jahren" im „Vorwärts" vom 1. Januar 1909.

5 Das unterschlägt völlig den grundlegenden Unterschied zwischen dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels und einem mechanischen Materialismus. Mehring vertritt hier einen schiefen Begriff von mechanischem Materialismus. Anderswo bezeichnet er Darwin als mechanischen Materialisten, der laut Engels ein unbewusster Dialektiker war.

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