Franz Mehring‎ > ‎Philosophie‎ > ‎

Franz Mehring 19140321 Die neuen Hegelingen

Franz Mehring: Die neuen Hegelingen

21. März 1914

[Die Neue Zeit, 32. Jg. 1913/14, Erster Band, S. 964-973. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 89-100]

In seiner Schrift gegen Dühring hat Engels das Absterben der Philosophie als einer „Königin der Wissenschaften" angekündigt, und es sind nicht zuletzt die besitzenden Klassen, die sich beeilt haben, seine Prophezeiung zu erfüllen. Mit Schopenhauer ist ihr letzter großer Philosoph gestorben; Eduard v. Hartmann war eine Tagesberühmtheit, die heute schon vergessen ist, und mit Nietzsche, der ein ungleich geistreicherer Kopf war als Hartmann, wissen sie auch nicht viel anzufangen; das „Übermenschentum" in der Form des brutal niederstampfenden Kapitalismus kommt ihrer berufsmäßigen Heuchelei allzu sehr in die Quere.1

Aber irgendeine Philosophie wollen sie doch haben, schon um die „Bildung" dem Besitz zu paaren. So versuchen sie es denn mit dem, was sie eine „Renaissance" der klassischen Philosophie nennen, wobei sich auch die absteigende Linie erkennen lässt. Der Neukantianismus war ein immerhin ehrlicher Versuch, wenigstens in seinen ehrlichen Vertretern, die moderne Arbeiterbewegung zu verstehen und zu „läutern", nämlich rückwärts auf das verzopfte Kleinbürgertum, dessen Vertreter Kant in seinen moralischen und politischen Forderungen war. Einen Neufichteanismus hat es überhaupt nicht gegeben; dazu war der Mann zu knorrig und stämmig. Aber ein Neuhegelianismus steht gegenwärtig in einer gewissen Blüte; alljährlich wird ein „Hegel-Archiv" herausgegeben, und die Werke des großen Philosophen erscheinen in neuen Ausgaben, worin man den „klarblickenden Politiker und staatsmännischen Denker" über „heute noch aktuelle Fragen" sprechen hören soll und wodurch auch „weitere Kreise, die dem Hegelschen System fremd gegenüberstehen", den deutschen Mann kennenlernen sollen, den ein moderner Historiker neben Ranke und Bismarck als „einen der drei großen Staatsbefreier Deutschlands" gefeiert hat.

Das ist immerhin noch mäßig ausgedrückt, verglichen mit jenem ehemaligen Hegelianer, der aus Hegels Werken bewies, dass der preußische Staat eine Riesenharfe sei, ausgespannt im Garten Gottes, um den Weltchoral zu leiten. Auch ist der Neuhegelianismus unseres Erachtens eine ganz ungefährliche Spielerei verhältnismäßig enger Kreise, so dass er an und für sich keine besondere Beachtung verdient; statt ihn zu bekämpfen, möchten wir ihn eher loben wegen der „philologischen Akribie", die er den neuen Auflagen der Werke Hegels widmet. Eine dieser Auflagen, die Hegels tagespublizistische Schriften in übersichtlicherer und vollständigerer Weise zusammenstellt, als sie in der alten Gesamtausgabe der Werke vorhanden sind, soll hier sogar angezeigt werden, da sie in der Tat einen gewissen Zusammenhang mit Fragen der Gegenwart hat, wenn auch in ganz anderem Sinne, als ihr Herausgeber meint.*

In den Werken der Philosophen pflegen diejenigen ihrer Schriften, die sich mit unmittelbaren Ereignissen und Zuständen der Zeit beschäftigen oder an sie anknüpfen, gewöhnlich etwas stiefmütterlich behandelt zu werden, und an dauernder Bedeutung mögen sie auch oft genug nachstehen. Aber sie stehen immer voran, soweit es sich um das Verständnis der Philosophen handelt, von denen sie geschrieben sind. Denn im letzten Grunde wurzelt jede Philosophie in den Ereignissen und Zuständen ihrer Zeit, und aus der Eichel erkennt man am ehesten das Wesen der Eiche, wie seltsam es in ihrer Krone raunen und rauschen mag. Bei Hegel kommt hinzu, dass er als Tagespublizist begonnen und nur aus Mangel an jeglichem Echo aufgehört hat, es zu sein. Sein geistlicher Herausgeber dankt freilich dem Schicksal, das dem Manne, der Deutschlands größter Denker werden sollte, die Laufbahn des Publizisten verlegt habe. Denn sonst hätte Hegel die „Wege des Weltgeistes" gekreuzt, da er in seinen jungen Jahren den preußischen Staat hasste und erst aus der Erfahrung lernen musste, welche Bedeutung diesem Staate für die Wiedergeburt Deutschlands zukam.

Dagegen hat dieser Herausgeber nicht unrecht, wenn er in der ersten Schrift Hegels eine Leichtigkeit und einen Schwung der Sprache entdeckt, die Hegel vielleicht nie wieder erreicht habe. Leider haben sich von dieser Schrift nur Bruchstücke erhalten. Sie ist im Jahre 1798 verfasst, und ihr Titel lautete: „Über die neuesten inneren Verhältnisse Württembergs, besonders über die Gebrechen der Magistratsverfassung". Unter dem Eindruck der großen französischen Revolution geschrieben, verlangte sie eine Reform der württembergischen Zustände, wie es scheint, in so radikaler, wenigstens für die damalige Zeit radikaler Sprache, dass Hegel auf den Rat seiner Freunde es für ratsam gehalten hat, sie nicht zu veröffentlichen. Es mochte seine Bedenken haben, unter dem schwäbischen Sultan Friedrich, der die Tiberius und Nero offen als die Vorbilder seiner Herrschertätigkeit betrachtete, den Absolutismus zu bekämpfen, bei dem sich am Ende alles um einen Menschen drehe, der ex Providentia majorum2 alle Gewalten in sich vereinige und für seine Anerkennung und Achtung der Menschenrechte keine Garantien gebe.

Hat dieser Satz heute noch unzweifelhaft seine Bedeutung, so zeichnet ein anderer Satz aus Hegels Erstlingsschrift sehr treffend, was von dem heutigen Geschwätz der bürgerlichen Politiker über die „Notwendigkeit sozialer Reformen" zu halten ist. Es heißt da: „Wenn eine Veränderung geschehen soll, so muss etwas verändert werden. Eine so kahle Wahrheit ist darum nötig, gesagt zu werden, weil die Angst, die muss, von dem Mute, der will, dadurch sich unterscheidet, dass die Menschen, die von jener getrieben werden, zwar die Notwendigkeit einer Veränderung wohl fühlen und zugeben, aber wenn ein Anfang gemacht werden soll, doch die Schwachheit zeigen, alles behalten zu wollen, in dessen Besitz sie sich befinden, wie ein Verschwender, der in der Notwendigkeit ist, seine Ausgaben zu beschränken, aber jeden Artikel seiner bisherigen Bedürfnisse, von dessen Beschneidung man ihm spricht, unentbehrlich findet, nichts aufgeben will, bis ihm endlich sein Unentbehrliches wie das Entbehrliche genommen wird." Die Hoffnung Hegels, dass die Deutschen das Schauspiel einer solchen Schwäche nicht geben würden, erfüllt sich heute sowenig, wie sie sich dazumal erfüllt hat.

Doch nicht in solchen einzelnen Sätzen liegt das Interesse, das wir heute an Hegels erster Schrift oder genauer an den Bruchstücken nehmen, die sich von ihr erhalten haben. Sie enthält vielmehr im Keime schon den ganzen Politiker Hegel. Wenn sie sich gegen den Absolutismus erklärt, so erklärt sie doch auch: „Das ganze württembergische Repräsentativsystem ist an sich fehlerhaft und einer totalen Umgestaltung bedürftig." In politischen Dingen ist Hegel den geborenen Schwaben nie losgeworden, oder wenn das zu viel gesagt sein sollte: die öffentlichen Zustände seines Heimatlandes haben sein politisches Denken in ein Geleise gebracht, aus dem es nie mehr gewichen ist.

Die Verfassung des Herzogtums Württemberg hatte in den Grenzen des Heiligen Römischen Reichs ihresgleichen nicht. Zwar waren die Herzöge von Württemberg im achtzehnten Jahrhundert so ruchlose Despoten, wie irgendwo anders nur immer existieren mochten; „unsere Fürsten sind immer böse Kerle gewesen", pflegten die Altwürttemberger mit naivem Stolz zu sagen. Allein die herzogliche Macht war wesentlich eingeengt durch die Rechte der Stände, mit denen die deutschen Despoten sonst ziemlich aufgeräumt hatten, außer in Mecklenburg und eben in Württemberg. Diese beiden Ausnahmen unterschieden sich aber wieder dadurch, dass in den mecklenburgischen Ständen das Junkertum regierte, während es in den württembergischen Ständen überhaupt nicht vertreten war. Die schwäbischen Junker hatten es vorgezogen, sich als Reichsgrafen oder Reichsritter reichsunmittelbar zu machen, so dass die württembergischen Stände aus 14 Vertretern der Geistlichkeit und 68 von den Magistraten gewählten Vertretern der Städte und Ämter bestanden. Sie erhielten dadurch einen sozusagen modernen Anstrich, der täuschend genug war, um selbst den berühmten englischen Staatsmann Fox zu dem Ausspruch zu veranlassen, es gebe in Europa nur zwei Verfassungen, die den Namen verdienten, die englische und die württembergische.

Es zeugt nun für den politischen Scharfblick des jungen Hegel, dass er sich durch den Schein nicht täuschen ließ. Er hatte mehrere Jahre als Hauslehrer in Bern gelebt und die Misswirtschaft des dortigen Patriziats aus nächster Nähe mit angesehen; so blieb ihm all sein Lebtag ein gesunder Abscheu gegen jede aristokratische Regierungsform. Mit also geschärften Augen sah er nun auch die heimatlichen Zustände an und erkannte, dass die württembergischen Stände nicht den Absolutismus vernünftiger machten, sondern neben die Missbräuche der monarchischen nur die Missbräuche der aristokratischen Gewalt stellten. Die Magistrate der Städte und Ämter, aus deren Wahl die Stände hervorgingen, waren ein erbgesessener Klüngel, der sich schroff in sich selbst absperrte. Der Landtag trat selten zusammen; er legte seine Befugnisse in die Hände eines Ausschusses, der beständig tagte und sich selbst ergänzte, die landschaftliche Steuerkasse nach freiem Ermessen verwaltete und im Interesse des bürgerlichen „Herrenstandes" eine unbeschränkte Gevatterschaftspolitik trieb.

Hegel verlangte nun, dass die Mitglieder der Stände nicht mehr von den Magistraten, sondern von den Bürgern selbst gewählt werden sollten. Wie er diese Forderung im Einzelnen begründete, lässt sich aus den spärlichen Bruchstücken seiner Erstlingsschrift nicht mehr erkennen. Sicher ist nur, dass er bei all seiner Begeisterung für die Französische Revolution nicht an ein allgemeines, sei es selbst an ein bestimmtes Alter oder eine bestimmte Steuer gebundenes Wahlrecht gedacht hat; die Abneigung gegen diese, wie er meinte, Auflösung der Nation in eine Unzahl zusammenhangloser Atome hat er ebenfalls all sein Lebtag bekundet und an einer „organischen Gliederung" des Volkes festgehalten. Wie aber nun der Volkswille als solcher zu organisieren sei, um der unbeschränkten Regierung der Monarchie ein Gegengewicht zu bieten, das ist die Grundfrage gewesen, die den Politiker Hegel unaufhörlich beschäftigt hat, ohne dass er je zu ihrer befriedigenden Lösung gelangt wäre. Rein äußerlich ist dafür schon bezeichnend, dass, wenn er in seiner ersten Schrift das verfaulte Wahlrecht der württembergischen Stände bekämpfte, er mehr als dreißig Jahre später das verfaulte Wahlrecht des englischen Parlamentes trotz aller schreienden Missbräuche als das kleinere Übel beschönigte gegenüber dem modernen Prinzip, nach dem nur der abstrakte Wille der Individuen als solcher repräsentiert werden solle.

Nach dieser Erstlingsschrift von 1798, von der nur wenige Seiten erhalten sind, schrieb Hegel im Jahre 1802 eine umfassende Abhandlung über die Verfassung Deutschlands, die darin treffend als eine vollkommene Anarchie geschildert wird, als eine Anarchie, die sich aus sich selbst nicht mehr retten könne. „Wenn alle Teile dadurch gewännen, dass Deutschland zu einem Staate würde, so ist eine solche Begebenheit nie die Frucht der Überlegung gewesen, sondern der Gewalt… Der gemeine Haufe des deutschen Volkes nebst seinen Landständen, die von gar nichts anderem als von Trennung der deutschen Völkerschaften wissen und denen die Vereinigung derselben etwas ganz Fremdes ist, müsste durch die Gewalt eines Eroberers in eine Maße versammelt, sie müsste gezwungen werden, sich zu Deutschland gehörig zu betrachten." Ein solcher Eroberer war 1802 schon auf dem Marsche, doch nennt Hegel in dieser Abhandlung weder Napoleon noch bezieht er sich auf die zusammenschweißende Kraft der Französischen Revolution, sondern auf Richelieu und namentlich auf Machiavelli, den Hegel fast überschwänglich preist.

Er nennt die Schrift vom „Fürsten" eine „höchst große und wahre Konzeption eines echten politischen Kopfes vom größten und edelsten Sinn"; er verteidigt sie gegen die „Trivialitäten der Moral" und gegen das „Schulexerzitium" des preußischen Königs Friedrich. Man sieht hier Hegels Staatskultus im Keime. „Italien sollte ein Staat sein – dies Allgemeine setzt Machiavelli voraus, dies fordert er, dies ist sein Prinzip gegen das Elend seines Landes. Von hier erscheint das Verfahren des ‚Fürsten' von einer ganz anderen Seite. Was, vom Privatmann gegen den Privatmann oder von einem Staate gegen den anderen oder gegen einen Privatmann getan, abscheulich wäre, ist nunmehr gerechte Strafe. Gegen einen Staat ist Bewirkung von Anarchie das höchste oder vielmehr das einzige Verbrechen; denn alle Verbrechen, deren der Staat sich anzunehmen hat, gehen dahin, und diejenigen, welche nicht mittelbar, wie andere Verbrecher, sondern unmittelbar den Staat selbst angreifen, sind die größten Verbrecher, und der Staat hat keine höhere Pflicht, als sich selbst zu erhalten und die Macht dieser Verbrecher auf die sicherste Art zu vernichten." Was sich die Frankfurter Strafkammer hat sagen lassen, als sie kürzlich ihr Schreckensurteil gegen die Genossin Luxemburg fällte, die den „Lebensnerv" des Staates angetastet haben sollte.3

Auch diese Schrift Hegels ist erst nach seinem Tode veröffentlicht worden; er arbeitete noch an ihr, als der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 die deutsche Anarchie zu bändigen begann und der Eroberer zwar kein einiges Deutschland schuf, aber doch „wirkliche deutsche Reiche", die den Platz des Undings einnahmen, das nur noch den leeren Namen eines Reiches geführt hatte. So drückte Hegel selbst sich aus in seiner nächsten politischen Schrift, die erst fünfzehn Jahre später erschien. Man kennt seine Vorliebe für Napoleon, den „Weltgeist zu Pferde", und der Verteidigung der Napoleonischen Staatenschöpfung, die auf dem Boden seiner heimatlichen Erde entstanden war, galt seine Abhandlung über die „Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816". Hegel blieb sich darin durchaus konsequent, dass er sich der Wiederherstellung der ehemaligen „Magistratsverfassung" widersetzte, die er schon 1798 bekämpft hatte, aber die zwanzig Jahre später von Uhland als das „alte gute Recht" verteidigt wurde. Uhland vertrat in diesem Streit, obgleich er ein weit waschechterer Demokrat war als Hegel, unzweifelhaft eine historisch rückständigere Auffassung: die süddeutschen Königreiche von Napoleons Gnaden haben gewiss manchen feudalen Schutt beseitigt. Aber worauf es hier zunächst ankommt: in einem Punkte war die neue württembergische Verfassung auch für Hegel viel zu demokratisch, und zwar in dem Wahlrecht für den württembergischen Landtag.

Dieser Landtag war keineswegs schon eine Volksvertretung im modernen Sinne des Wortes. Er sollte aus fünfzig Vertretern des Adels und vier Vertretern der Geistlichkeit bestehen; dazu sollten die 64 Oberämter des Landes und 7 bevorzugte Städte je einen Vertreter stellen. Für diese bürgerlichen Vertreter waren vom passiven Wahlrecht alle Staatsdiener, Geistliche, Ärzte und Chirurgen ausgeschlossen, während das aktive Wahlrecht an ein Lebensalter von 25 Jahren und an ein Jahreseinkommen von 200 Gulden aus Liegenschaften gebunden war. Gegen diese „beinahe völlige Ungebundenheit" des „demokratischen Prinzips" erhob Hegel lebhaften Einspruch. Ging ihm schon das Übergewicht des bürgerlichen über das adlige Element wider den Strich, so erklärte er sich vollends gegen die Bestimmungen über das aktive Wahlrecht.

Er sagte, die Bürger erschienen hier als isolierte Atome und die Wahlversammlungen als ungeordnete, unorganische Aggregate, das Volk überhaupt in einen Haufen aufgelöst, eine Gestalt, in der das Gemeinwesen, wo es eine Handlung vornehme, nie sich zeigen sollte; sie sei die seiner unwürdigste und seinem Begriff, geistige Ordnung zu sein, am widersprechendsten. „Denn das Alter, ingleichen das Vermögen, sind Qualitäten, welche bloß den einzelnen für sich betreffen, nicht Eigenschaften, welche sein Gelten in der bürgerlichen Ordnung ausmachen. Ein solches Gelten hat er allein kraft eines Amtes, Standes, einer bürgerlich anerkannten Gewerbsgeschicklichkeit und Berechtigung nach derselben, Meisterschaft, Titel usf. Die Volksvorstellung ist mit solchem Gelten so vertraut, dass man erst dann von einem Mann sagt, er ist etwas, wenn er ein Amt, Meisterschaft und sonst in einem bestimmten bürgerlichen Kreise die Aufnahme erlangt hat; von einem hingegen, der nur 25 Jahre alt und Besitzer einer Liegenschaft ist, die ihm 200 Gulden und mehr jährlich abwirft, sagt man, er ist nichts." Wenn eine Verfassung ihn doch zu etwas mache, zu einem Wähler, so räume sie ihm ein hohes politisches Recht ein ohne alle Verbindung mit den übrigen bürgerlichen Existenzen und führe für eine der wichtigsten Angelegenheiten einen Zustand herbei, der mehr mit dem demokratischen, ja anarchistischen Prinzip der Vereinzelung zusammenhänge als mit dem Prinzip einer organischen Ordnung.

Diese Ausführungen sind hier etwas ausführlicher wiedergegeben worden, weil sie geeignet sind, den alten, aber immer wieder auftauchenden Irrtum zu beseitigen, als habe Hegel sich irgendwie den preußischen Zuständen akkommodiert, wenn er am Schlusse seiner Rechtsphilosophie als Idealbild des Rechtsstaats ein Gebilde entwarf, das dem Preußen der Demagogenverfolgungen und der Karlsbader Beschlüsse ungemein ähnlich sah. Als er seine Schrift über die Verhandlungen der württembergischen Landstände von 1815 und 1816 verfasste, war er Professor in Heidelberg, und eine unverbürgte Überlieferung will wissen, er habe sich durch sie für ein höheres Verwaltungsamt in Württemberg empfehlen wollen; jedenfalls hatte er dazumal keine anderen Beziehungen zum preußischen Staate als das Gefühl einer gesunden Abneigung. Wenn er bald darauf einen Professorenstuhl an der Berliner Universität erhielt und nun alsbald zum preußischen Staatsphilosophen aufrückte, so ging es dabei nicht im Geringsten mit unrechten Dingen zu. Denn der unüberwindliche Widerwille Hegels gegen moderne Repräsentativverfassungen oder auch nur die ersten Anläufe dazu war gerade die Seele der damaligen preußischen Reaktion; das Schreckgespenst einer „sogenannten Repräsentativverfassung", womit Metternich den preußischen König in die Karlsbader Beschlüsse jagte, war in Hegels Augen ein wirklicher Schrecken.

Hegels politische Anschauungen erklären sich aus seinem Werdegang. Der Bannkreis, worin der einzelne Mensch aufwächst, seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse sind die ehernen Fesseln, die auch der größte Geist in seinen kühnsten Gedankenflügen nicht völlig abstreifen kann. Ebendeshalb wird jede idealistische Philosophie im letzten Grunde zu einer Spottgeburt von Dreck und Feuer. Wie Hegel den endlichen Ruhepunkt seiner revolutionären Dialektik in dem preußischen Staate der Karlsbader Beschlüsse fand, so forderte Fichte ein Reich des Rechtes, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, und entwarf in seiner Utopie eines solchen Rechtsstaates ein reaktionäres Gebilde, das heute selbst der reaktionärste Junker und der reaktionärste Zünftler mit entschiedenem Dank ablehnen würde.

Was nun den Neuhegelianismus anbetrifft, so nimmt er, und darin mag er nicht unrecht haben, das Feuer unserer klassischen Philosophie als längst erloschen an, und so begnügt er sich mit dem Dreck, oder, um die Sache mit einem anderen Dichterwort etwas höflicher auszudrücken: Zum Teufel ist der Spiritus, das Phlegma ist geblieben. Eine kürzlich erschienene Schrift eines Berliner Professors beschäftigt sich mit dem Problem, das im Mittelpunkt von Hegels politischem Denken gestanden hat: nämlich wie der Volkswille zu organisieren sei, um unter der Regierung zur gehörigen Geltung zu kommen. Ihr Verfasser ist Herr Hans Delbrück, in dessen „Preußischen Jahrbüchern" auch sonst der Neuhegelianismus seinen Spuk treibt, meist jedoch in so abstrus-unverständlicher Form, dass damit nicht viel anzufangen ist. Delbrück selbst ist aber ein Mann nicht der Spinnweben, sondern der Tatsachen, mit dem sich gut streiten lässt. Er versteckt sich niemals hinter unbestimmten Redensarten, wie so viele seinesgleichen, sondern macht aus seinem Herzen keine Mördergrube. In seinen Schriften scheiden sich gemeiniglich recht scharf Vernunft und Unvernunft, ein Vorzug, der freilich dadurch erkauft wird, dass je höher die Vernunft auf dem einen Pol steigt, umso gewaltiger sich auch die Unvernunft auf dem anderen Pol erhebt.**

In den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt Delbrück den Ausspruch Hegels, der „gewaltig erdröhne": „Das Volk ist derjenige Teil des Staates, der nicht weiß, was er will." Im Munde Hegels, von dem wir eben gehört haben, dass im politischen Sinne der Mensch und selbst der Grundbesitzer nichts, sondern erst der Beamte und Zunftmeister etwas sei, hat der Satz seinen Sinn; „isolierte Atome" und „unorganische Aggregate" können allerdings nicht wissen, was sie als „Volk" wollen. Ungefähr dasselbe sagt nun auch Delbrück, aber er sollte aus den Erfahrungen eines Jahrhunderts so viel gelernt haben, dass dann die Frage nach einem „Volkswillen" überhaupt gar nicht gestellt werden darf, dass in einer von den tiefsten Klassengegensätzen zerklüfteten Nation ein einheitlicher „Volkswille" nicht bestehen und also auch nicht organisiert werden kann. Damit sind alle treffenden oder auch nicht treffenden Betrachtungen, die Delbrück in seiner Schrift über die Unzulänglichkeit der „Volksvertretungen" anstellt, sehr einfach erledigt.

Aber wenn es im Klassenstaat keinen einheitlichen „Volkswillen" geben kann, so kann es einen einheitlichen Willen innerhalb der einzelnen Klassen geben, und dieser Wille kann sich in politischen Parteien organisieren. Jedoch auch das bestreitet Delbrück insoweit, als das „Volk" an diesem Willen so gut wie gar keinen Anteil habe. In allen Parteien übt nach seiner Ansicht die Minderzahl der Vertretenden eine unbedingte Herrschaft über die Mehrzahl der Vertretenen aus. Das mag für bürgerliche Parteien zutreffen und trifft auf sie gewiss zu. Allein Delbrück entdeckt diese „Oligarchie" auch in der deutschen Sozialdemokratie. Einen einheitlichen Willen erkennt er ihr zwar zu; sie will durch ihr Erfurter Programm die Zustände wiederherstellen, die zu Zeiten des Cheruskerfürsten Armin in den germanischen Urwäldern bestanden haben. Daneben aber entdeckt er in ihr Cliquenwesen, Byzantinertum, Kadavergehorsam, tiefen Mangel an wahrhaft brüderlichem Geist, an menschlichem Vertrauen usw. Als mildernden Umstand darf man ihm dabei anrechnen, dass er diese düstere Schilderung nicht aus eigenem erfunden, sondern einer Schrift des Turiner Professors Robert Michels entnommen hat, der ehedem Mitglied der Deutschen Partei gewesen ist und aus eigener Erfahrung zu sprechen behauptet.

Auch ist Delbrück so billig, einen Gegenzeugen aufzurufen, und zwar in meiner Wenigkeit: Ich soll nämlich vor ein paar Jahren in der „Leipziger Volkszeitung" ausgeführt haben, gegenwärtig brauchten die Arbeitermassen noch Führer; sie seien noch nicht reif genug, sich selbst zu führen. Aber das werde in Zukunft anders werden. Mit der Ausbeutung der herrschenden Klassen werde auch ihr Monopol der geistigen Bildung fallen, und wenn die Bildung erst Allgemeingut geworden sei, würden die Massen sich selbst führen können. „Alle Menschen werden der gleichen höchsten Bildung teilhaftig werden. Alle Volksschulen also werden in Gymnasien verwandelt, und dann strömen die Massen, Männlein und Fräulein, in die Universitäten. Was würden die Auditorien da voll werden!" Ich erkenne gern an, dass Delbrück mich in wohlwollender Absicht für den Verfasser dieses Artikels hält, aber objektiv vermag ich in seiner Annahme keine Schmeichelei zu empfinden. Jedenfalls habe ich den Artikel nicht geschrieben, und es wird mir selbst schwer, anzunehmen, dass irgendein Parteigenosse ihn in der Fassung, wie Delbrück den Inhalt wiedergibt, geschrieben haben könnte. Darin stimme ich – bei allem sonstigen Respekt vor der akademischen Bildung – doch ganz mit Delbrück überein, dass, wenn im „Zukunftsstaat" jeder und jede zum Doktor der Philosophie promovieren könnte und würde, die notwendige Disziplin der Massen unter einer Massenproduktion von Querköpfen allerdings schwer leiden möchte.

Die Arbeiterklasse ist nicht das Volk, aber indem sie der weitaus größte und für die Existenz der menschlichen Gesellschaft weitaus unentbehrlichste Teil des Volkes ist, kommt ihre Organisation immerhin jener Organisation des „Volkswillens" am nächsten, nach der Hegel vergeblich suchte. Wie bei allem Menschenwerk mögen dabei allerlei Menschlichkeiten mit unterlaufen; man mag selbst sagen, dass je gewaltiger diese Organisation sich gestaltet, umso näher die Gefahr einer herrschsüchtigen und in ihrer Herrschsucht schnell verknöchernden Bürokratie drohe. Allein, wenn diese Organisation über alles hinauswächst, was die Geschichte bisher an demokratischen Organisationen kannte, so sind auch noch in keiner früheren demokratischen Organisation so umfassende Vorkehrungen gegen jene Gefahr getroffen wie in der heutigen Organisation der Arbeiterklasse, der gewerkschaftlichen wie der politischen. Gerade die Beschwerden und Klagen, zu deren Echo sich der Turiner Professor Michels gemacht hat, beweisen doch nur, dass die Kritik in den Massen immer lebendig ist; die Massen hüten die Disziplin als ihre mächtigste Waffe sorgfältig genug, um sie immerhin ungern wegen eines geringeren Interesses zu gefährden, aber um sie unter keinen Umständen in wichtigen Fragen missbrauchen zu lassen. Was bei den bürgerlichen Parteien Gang und Gäbe sein mag, „mit den Führern auf diese oder jene Weise irgendein Abkommen zu treffen", wie Delbrück sich ausdrückt, das ist in der sozialdemokratischen Partei unmöglich.

Mit dem „Volk" ist es also nichts und mit den Parteien auch nichts. Was übrigbleibt, ist das preußisch-deutsche Reich, das Delbrück gerade nicht für eine Riesenharfe erklärt, die im Garten Gottes den Weltchoral leite, aber doch für die einzig gesunde Großmacht. Während die anderen alle durch die „Einseitigkeit ihres Verfassungslebens" mit den schwersten Gefahren bedroht sind, namentlich Frankreich, England und die Vereinigten Staaten durch den Parlamentarismus, strahlt Deutschland in blühender Gesundheit, indem es in Kaiser, Fürsten und Volksvertretungen einen einheitlichen Volkswillen verkörpere trotz allen natürlichen Reibungen und gerade durch sie.

Worauf Delbrück tatsächlich hinaus will, das ist der Staat Hegels, die Monarchie, in der die Stände wenig zu sagen haben, umso mehr aber eine geschulte Bürokratie und dazu die Krone, die das Tüpfelchen aufs i setzt, also eine Monarchie, die durch eine gewisse indirekte Mitherrschaft der besitzenden Klassen beschränkt ist. In dem preußisch-deutschen Beamtentum sieht Delbrück die Organisation der politischen Intelligenz, wobei ihm nur das kleine Malheur zustößt, dass er in seiner Schilderung der preußischen Polenpolitik, dem wertvollsten Teile seiner Schrift, diese „Intelligenz" als unheilbare Geistesschwäche schildert. Delbrück ist bei all seinen Quer- und Seitensprüngen ein zu geschulter Historiker, um die absolute Sinnlosigkeit der preußischen Polenpolitik, in der nun nahezu schon eine Milliarde Mark verpulvert worden ist, nicht zu begreifen, und es ist nur gerecht, anzuerkennen, dass er sie in seinen „Preußischen Jahrbüchern" von jeher aufs schärfste bekämpft hat. Aber in einer Bürokratie, die solcher Leistungen fähig ist, ein Gnadengeschenk der Vorsehung zu erblicken, um das die deutsche Nation die parlamentarisch verseuchten Nationen zu beneiden habe, das ist viel unlogischer, als wenn Bismarck, zu dessen fluchwürdigstem Erbe die Polenpolitik gehört, in der preußischen Bürokratie einen „Extrakt von Bosheit und Dummheit" witterte.

Bei alledem lässt sich der Staat Hegels nicht in völliger Reinheit herstellen. Herr Delbrück führt aus, in Preußen bilde das Dreiklassenwahlrecht neben dem Herrenhaus noch ein Mittelding zwischen der alten Ständeverfassung und der modernen Volksvertretung, aber im Reiche sei die Kombination zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Gedanken durch das allgemeine Wahlrecht vollzogen, und er will sie auch trotz Hegel nicht rückgängig machen. Im Gegenteil übertreibt er die tatsächliche Macht des Reichstags eher, als dass er sie unterschätzt, was ja an und für sich schon schwierig ist; dem „Volkswillen" soll bewiesen werden, dass er in dem gegenwärtigen Reichstag alles besitzt, was er sich vernünftigerweise nur irgend wünschen kann.

Aber zu einer „parlamentarischen Regierung" darf er sich nicht auswachsen. Und um dies zu verhindern, produziert Herr Delbrück einen Gedanken, der an sich zwar durchaus nicht neu, aber bei Hegel doch noch nicht zu finden ist. Herr Delbrück fragt, wo zuletzt die wahre Macht liege, und er antwortet: „Sie liegt in den Waffen. Die entscheidende Frage für den inneren Charakter eines Staates ist deshalb immer: Wem gehorcht die Armee? In Frankreich und England gehorcht sie heute der parlamentarischen Majorität… Nun übertragen wir das einmal auf Deutschland-Preußen. Stellen wir uns ein parlamentarisches Regiment vor und nehmen wen Sie wollen aus dem Abgeordnetenhaus oder Reichstag und lassen ihn bei uns Kriegsminister sein. Wer auch nur die geringste Fühlung mit unserem Offizierkorps und unserer Generalität hat, weiß, dass das eine Unmöglichkeit ist, dass unsere Armee auch erst ein Sedan von der anderen Seite erlebt haben müsste, um das über sich ergehen zu lassen … Den Geist der Armee bestimmt natürlich … das Offizierkorps, das die Mannschaft in seinem Geiste erzieht und vermöge des Disziplinargesetzes in seinem Geiste regiert… An diesem Felsen branden alle Wogen vergebens. Weder lässt sich die preußische Armee von ihrem König noch der König von seiner Armee losreißen. Wie sehr irren sich jene Staatsrechtslehrer, die da glauben, das Staatsleben aus den Paragraphen der Verfassung ablesen zu können! Wie die lebendigen Kräfte des Parlamentes in den Parteien stecken, von denen in der Verfassung kein Wort zu finden ist, so beruht das Wesen des Königtums nicht in den Funktionen, die ihm die Verfassung zuweist, sondern in den Kräften, die weit jenseits aller formalen Rechtssätze in den Jahrtausenden wurzeln, in den Beziehungen zum Heere." So Herr Delbrück, und wir möchten danach fast vermuten, dass der alte Hegel über diese neuen Hegelingen doch ein wenig den Kopf schütteln würde, falls er heute noch lebte.

Rechtsstaat hin und Rechtsstaat her! Es lebe der bewaffnete Staatsstreich! Es lebe der Prätorianergeist des Offizierkorps, der gegen die Beschlüsse der verfassungsmäßigen Volksvertretung rebelliert! Nicht als ob wir etwas gegen die geschichtliche Wahrheit dieser Darstellung einzuwenden hätten! Ganz und gar nicht, und wenn mit „allen formalen Rechtssätzen" aufgeräumt werden soll, so mag es auch unsertwegen heißen: vogue la galère4. Nur über die Kräfte, die in den Jahrtausenden wurzeln, ergibt sich eine kleine Meinungsverschiedenheit. Das preußische Königtum und das preußische Offizierkorps sind höchstens ein paar Jahrhunderte alt, und die französischen Muster, nach denen sie gebildet worden sind, haben auch, wie Delbrück zugibt, an sich erfahren: Friss, Vogel, oder stirb!

Was wirklich in den Jahrtausenden wurzelt, ist die Tatsache, dass am langen Arme des Hebels sitzt nicht wer das Brot verzehrt, sondern wer das Brot bäckt. Und je mehr sich herausstellt, dass nicht das „Volk", das Herr Delbrück staatsrechtlich nicht greifen kann, sondern die – in jedem Betracht – äußerst greifbare Arbeiterklasse das Brot bäckt, von dem Königtum, Offizierkorps und Armee sich nähren, umso mehr wird sich in den Rechnungen des Neuhegelianismus ein verteufelter Bruch herausstellen.

1 Mehring hat an anderen Stellen die Rolle der Philosophie Nietzsches für die imperialistische, expansionslüsterne Bourgeoisie richtig hervorgehoben. Die liberalen Kreise der Bourgeoisie wussten in der Tat mit der brutalen Offenheit des Nietzscheschen Herrenmenschentums nicht viel anzufangen.

* Hegels Schriften zur Tagespolitik und Rechtsphilosophie. Herausgegeben von Georg Lasson, Pastor an Sankt Bartholomäus, Berlin. Leipzig 1913, Verlag von Felix Meiner. 513 Seiten. Preis geheftet 7 Mark, gebunden 8 Mark.

2 Ex Providentia majorum - nach höherem Ratschluss.

** Hans Delbrück, Regierung und Volkswille. Eine akademische Vorlesung. 1914. Verlag von Georg Stilke. Preis geheftet 1,20 Mark.

4 vogue la galère - Gut Glück! (wörtlich: es schwimme das Schiff).

Kommentare