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Franz Mehring 19010800 Gesellschaft und Staat

Franz Mehring: Gesellschaft und Staat

1901

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Erster Band, Stuttgart 1902, S. 341-352. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 375-385]

Marx ist nur dazu gekommen, die Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" zu veröffentlichen. Ihr Resultat hat er später in den Worten zusammengefasst: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgange der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen bürgerliche Gesellschaft' zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei."1 Wenn Hegel im politischen Staat die „Krönung des Gebäudes" gesehen hatte, so wies Marx vielmehr nach, dass in der bürgerlichen Gesellschaft, die von Hegel sehr stiefmütterlich als „Not- und Verstandesstaat" abgehandelt worden war, der Schlüssel zum Verständnis des historischen Entwicklungsprozesses gesucht werden müsse.

Die Frage kleidete sich ihm zunächst in die Frage nach dem Verhältnis der politischen zur menschlichen Emanzipation. Er ging von der Kritik aus, die Feuerbach an der Religion geübt hatte. „Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte, wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. […] Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. […] Die einzige praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt."2 Dieser Gedankengang zieht sich wie ein roter Faden durch die Abhandlung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.

Den Übergang zu dieser Philosophie findet Marx nun so, dass sie die einzige, mit der offiziellen modernen Gegenwart auf gleicher Höhe stehende deutsche Geschichte sei. Die deutschen Zustände in ihrer Wirklichkeit sind weit hinter dieser Gegenwart zurückgeblieben; ein Hauptproblem der modernen Zeit, wie das Verhältnis der industriellen zur politischen Welt, ist in Deutschland erst bei der Schürzung, in England und Frankreich schon bei der Lösung des Knotens angelangt. Marx spielt auf die Agitation Lists an, um an ihrem Abstände von dem französischen und englischen Sozialismus die Rückständigkeit der deutschen Zustände zu ermessen. Was bei den fortgeschrittenen Völkern praktischer Zerfall mit den modernen Staatszuständen sei, das sei in Deutschland, wo diese Zustände selbst noch nicht einmal existierten, zunächst kritischer Zerfall mit der philosophischen Spiegelung dieser Zustände.

An diesem Punkt gräbt Marx nun aber tiefer als Feuerbach. Dieser hatte die Hegelsche Philosophie aufgehoben, um sie achtlos fortzuwerfen, dagegen weiß Marx als guter Dialektiker, dass man eine historische Entwicklung nicht überwindet, indem man sie einfach verneint. Er sagt den Liberalen, also etwa den Hansemann und Genossen: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen; er sagt umgekehrt den Philosophen, also etwa den Bauer und Genossen: Ihr könnt die Philosophie nicht verwirklichen, ohne sie aufzuheben. Es handelt sich um Aufgaben, deren Lösung nur durch die Praxis möglich ist, und so entsteht die Frage: Wie kann Deutschland zu einer Praxis auf der Höhe der Prinzipien gelangen, zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird?

Es gibt nur einen Weg zu diesem Ziele: die Theorie muss die Massen ergreifen. Aber damit ist die Frage nicht sowohl beantwortet, als vertieft. Die Theorie wird in einem Volke immer nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. Wie soll Deutschland, das noch nicht einmal die von ihm theoretisch schon überwundenen Stufen praktisch erreicht hat, mit einem salto mortale nicht nur über seine eigenen Schranken hinwegsetzen, sondern zugleich über die Schranken, die es in der Wirklichkeit als Befreiung von seinen wirklichen Schranken empfinden und erstreben muss? Eine radikale Revolution kann nur die Revolution radikaler Bedürfnisse sein, deren Voraussetzungen und Bedürfnisse eben zu fehlen scheinen.

Allein wenn Deutschland nicht die Fortschritte der historischen Entwicklung mitgemacht hat, so hat es doch ihre Leiden erduldet; es wird sich eines Tages auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, ohne je auf dem Niveau der europäischen Emanzipation gestanden zu haben. Als der zu einer eigenen Welt konstituierte Mangel der politischen Gegenwart wird Deutschland die spezifisch deutschen Schranken nicht niederwerfen können, ohne die allgemeinen Schranken der politischen Gegenwart niederzuwerfen. Nicht die allgemeine menschliche Emanzipation, sondern nur die politische Revolution ist eine Utopie für Deutschland, die nur politische Revolution, die darauf beruht, dass ein Teil der bürgerlichen Gesellschaft sich emanzipiert und zur allgemeinen Herrschaft gelangt, dass eine bestimmte Klasse von ihrer besonderen Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft unternimmt, dass diese Klasse die ganze Gesellschaft befreit, aber nur unter der Voraussetzung, dass die ganze Gesellschaft sich in der Situation dieser Klasse befinde, also zum Beispiel Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben könne.

Marx weist nun nach, dass die Vorbedingungen einer solchen politischen Revolution in Deutschland nicht vorhanden seien, dass ihr die philisterhafte Mittelmäßigkeit aller Klassen in Deutschland als unüberwindliches Hindernis gegenüberstehe, dass der deutschen Gesellschaft die dramatische Spannung des Klassenkampfes fehle, dass jede ihrer Sphären besiegt werde, noch ehe sie gesiegt habe, dass jede Klasse, bevor sie den Kampf mit der über ihr stehenden Klasse beginne, schon in den Kampf mit der unter ihr stehenden Klasse verwickelt sei. So beruht die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation in der Bildung einer Klasse, die nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, die sich nicht zu emanzipieren vermag, ohne sich von allen übrigen Klassen der Gesellschaft und damit alle übrigen Klassen der Gesellschaft zu emanzipieren, die der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als besonderer Stand ist das Proletariat.

Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen, und sobald der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist, wird sich die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Die Philosophie kann nicht verwirklicht werden ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie. Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.

Die Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" gehört zu den bedeutendsten Arbeiten des jungen Marx, und ebendeshalb hat sie von jeher die höchste Entrüstung des außerordentlichen Professors erregt, der nach der ordentlichen Professur schielt. Fratzenhaftigkeit des Stils, Höhe der Geschmacklosigkeit, die selbst Marx nie wieder so erklommen habe, gänzlich verunglückte Prophetie, keckste Behauptungen ohne jeden Beweisversuch: ist die nur politische Revolution denn nicht in Deutschland eingetreten, obgleich sie nach Marx unmöglich sein sollte? Oder befinden sich England und Frankreich auf der Höhe der menschlichen Emanzipation, worauf sie sich 1844 schon „in nächster Zukunft" befinden sollten? So krächzen die Adler und heulen die Wölfe des Kapitalismus.3

Man verzeihe, wenn diesen Faseleien ein Augenblick geschenkt worden ist. Sie wittern wenigstens mit gutem Instinkt, dass sich der Geist des jungen Marx gerade in dieser Arbeit nach Form und Inhalt typisch entfaltet hat, also auch den akademischen Stumpfsinn am schärfsten herausfordert. Wer sich dagegen noch ein wenig ästhetischen Geschmack bewahrt hat, wird nicht ohne Genuss die dialektische Kraft bewundern, womit der jugendliche Denker die überquellende Gedankenfülle bändigt. Die „Manieriertheit", die den Jugendarbeiten von Marx anhaften soll, kann nunmehr, da diese Arbeiten wieder allgemein zugänglich sind, auf ihr wirkliches Wesen geprüft werden; sie ist nichts anderes als die naive Freude des Genius an seiner schöpferischen Kraft, die auch wohl einmal in kecken Übermut entartet, wie etwa in Goethes „Götz" oder Schillers „Räubern". Sogar der bürgerliche Literarhistoriker, der in diesen ersten genialen Würfen eitel „Manieriertheit" finden würde, verfiele rettungsloser Blamage, aber wo Marx ins Spiel kommt, wird selbst die rettungsloseste Blamage zur rettenden Tat, versteht sich, für die offizielle Gelehrsamkeit.

Es ist noch ein philosophisches Horoskop, das Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie der deutschen Zukunft stellt; an der Hand von Feuerbachs Humanismus sucht er die Grundlinien der deutschen Emanzipation als der allgemeinen menschlichen Emanzipation zu ziehen. Aber seine Philosophie ist durchdrungen und gesättigt von den Keimen historischer Auffassung. Meisterhaft kennzeichnet er die Französische Revolution, die in ihrem historischen Rechte zu begreifen dem französischen Sozialismus so schwer wurde, als die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft, die eine besondere Klasse von ihrer bestimmten Situation aus unternahm; als eine Emanzipation, die sich nicht vollziehen konnte, ohne ein Moment des Enthusiasmus in der Masse hervorzurufen, wodurch sie mit der Gesellschaft im allgemeinen zusammenzufließen schien, um sich dann doch nur als die Emanzipation der bestimmten Klasse zu entpuppen, von der sie ausging. Und hat Marx darin nicht recht behalten, dass der deutschen Bourgeoisie die revolutionäre Kühnheit fehle, die der französischen Bourgeoisie die trotzige Parole eingab: „Ich bin nichts, und ich müsste alles sein"?

Jeder historische Leitfaden lehrt die triviale Weisheit, dass eine nur politische Revolution in Deutschland stattgefunden hat. Aber war diese politische Revolution nicht ein „utopischer Traum" in dem Sinne, worin Marx vorhersagte, dass sie es sein werde? Erlebte die deutsche Bourgeoisie in dieser Revolution nicht ihre Niederlage, bevor sie ihren Sieg feiern, entwickelte sie nicht ihre eigene Schranke, bevor sie die ihr gegenüberstehende Schranke überwinden, machte sie nicht ihr engherziges Wesen geltend, ehe sie ihr großmütiges Wesen geltend machen konnte? War sie nicht in den Kampf mit dem Proletariat verwickelt, ehe sie den Kampf mit dem Feudalismus begann? Und hieß es nicht im Voraus den Urquell aller Leiden und Qualen nennen, die Deutschland seit einem halben Jahrhundert ertragen hat, wenn Marx sagte, dies Land werde sich eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, nachdem es sich nie auf dem Niveau der europäischen Emanzipation befunden habe? Gerade im gegenwärtigen Augenblick, wo ein beispielloser Raubzug der Grundrente4 die deutsche Nation bedroht, liegt die Erinnerung nahe, dass England im Jahre 1844 allerdings in „nächster Zukunft" die „menschliche Höhe" erreichen sollte, die solche Plünderungszüge ein für allemal unmöglich macht.

So eröffnete die Kritik, die Marx an Hegels Rechtsphilosophie übte, neue Fernsichten, an denen man freilich tadeln kann, dass sie die Zukunft zu klar entschleierten, um diese Zukunft nicht näher erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich war. Wie diese Aussichten auf die Zeitgenossen wirkten, zeigt ein Brief, den Georg Jung am 26. Juni 1844 an Marx richtete. Jung meldete zunächst, dass hundert Exemplare der „Jahrbücher" von der badischen Regierung auf dem Dampfschiffe weggeschnappt worden seien, und bat um einen neuen Posten nach Lüttich oder Verviers, den er selbst über die Grenze schmuggeln wolle. Er kam dann auf die Empörung der schlesischen Weber zu sprechen und schrieb: „Die schlesischen Unruhen werden Sie ebenso überrascht haben wie uns. Sie sind ein glänzendes Zeugnis von der Richtigkeit Ihrer Konstruktion der deutschen Gegenwart und Zukunft in der Einleitung zur Rechtsphilosophie. Besonders wahr erzeigt sich Ihre Behauptung, dass, da kein System, keine besondere Klasse zu besonderer Herrschaft gelange, auch die Reibung, der Kampf ein weit geringerer sei. Überall Sympathie für die Weber, die Rebellen, und wer hier oder da ihren Aufstand in den Zeitungen verdächtigt und mit brutalen Worten behandelt, das ist kein Kapitalist, kein Bourgeois, sondern höchstens ein übereifriger Regierungsmann, der es nicht fassen kann, dass königlich preußische Bajonette Widerstand fanden. In der ‚Kölnischen Zeitung' finden Sie jetzt mehr Kommunismus als weiland in der ‚Rheinischen', ja sie eröffnet eine Subskription für die Hinterbliebenen der bei den jüngsten unglücklichen Ereignissen gefallenen schlesischen Weber, also für die Familien von Rebellen der gefährlichsten Art. Noch mehr – man gibt auf dem guten, soliden Kasino dem Herrn v. Gerlach ein Abschiedsdiner (auch eine gute Geschichte, man gibt dem armen Bedienten die ‚Rheinische Zeitung' und was weiß noch Schuld und schickt ihn nun gegen seinen Wunsch, in der Zeitung aber nach seinem Wunsch, nach Erfurt, und nun bekommt der Mann, wie ein schlechtes Buch, das verboten wird, auf einmal Wert beim Publikum!). Zugegen sind die reichsten Kaufleute und höchsten Beamten, und man sammelt hundert Taler für die Hinterbliebenen der Rebellen! Angesichts solcher Tatsachen ist das, was bei Ihnen vor wenigen Monaten noch eine kühne, gänzlich neue Aufstellung war, schon fast zur Gewissheit des Gemeinplatzes geworden."5 Tatsachen, wie sie Jung hier erzählt, können in Deutschland freilich nicht mehr vorkommen: nicht einmal für die Frauen und Kinder von streikenden, also völlig gesetzlich kämpfenden Arbeitern wird auf einem Feste gesammelt werden, das die Spitzen der Bourgeoisie und der Bürokratie für einen preußischen Regierungspräsidenten veranstalten. Aber weshalb nicht? Weil nunmehr die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation gegeben ist, weil der Blitz der Philosophie gründlich in den naiven Volksboden des Proletariats eingeschlagen ist, weil die deutsche Arbeiterklasse ihren revolutionären Entschluss gefasst hat, den kein Gott und kein Mensch zu erschüttern vermag, weil eben dadurch auch die herrschende Klasse in all ihren besonderen Schattierungen die Schärfe und die Rücksichtslosigkeit gewonnen hat, die sie zum negativen Repräsentanten der Gesellschaft stempelt.

Alle politische Prophetie ist ein Kinderspiel, wenn sie sich vermisst, den künftigen Gang der Dinge in jeder konkreten Einzelheit vorherzusagen. Ihre Aufgabe kann nach dem treffenden Ausdruck Lassalles immer nur sein, aus der Kenntnis der Vergangenheit die Bedeutung der Gegenwart aufzuschließen und die Umrisse der Zukunft vorauszuzeigen. Diese Umrisse hat Marx in seiner Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" mit fester Hand gezeichnet, was um so bewundernswerter war, als er sich selbst noch im Mauserungsprozesse vom Idealismus zum Materialismus befand, in einem Mauserungsprozesse, der ihm für die Vergangenheit die Französische Revolution zwar schon in ihrem materialistischen Kern, die deutsche Reformation aber noch in der schiefen Beleuchtung der Ideologie zeigte.

Über den zweiten Aufsatz, den Marx in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" veröffentlichte6, hilft sich die professorale Kritik mit dem geistreichen Einwande hinweg, dass er zu speziell sei, als dass ein näheres Eingehen darauf nicht als ungerechtfertigte Weitschweifigkeit angesehen werden müsste. Allerdings hat die kritische Analyse der Abhandlung zur Judenfrage ihre Bedenken in einer Zeit, wo der seichte Antisemitismus und der seichte Philosemitismus um die Palme der Verkehrtheit ringen.

Knüpfte Marx in dem ersten Aufsatz an Hegel an, so in dem zweiten Aufsatz an Hegels radikalsten Ausläufer. Bruno Bauer hatte in den „Deutschen Jahrbüchern" eine Arbeit über die Judenfrage veröffentlicht, die er noch als besondere Schrift herausgab; dann war er in den „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz" auf dasselbe Problem zurückgekommen. Hier wie dort ging er nicht über die religiöse Schranke hinaus, so radikal seine kritische Sichel innerhalb dieser Schranke arbeitete. Er suchte aus dem religiösen Gegensatze zwischen dem Christentum und dem Judentum nachzuweisen, erstens dass der christliche Staat den Juden sowenig emanzipieren wie der Jude als Jude emanzipiert werden könne, und zweitens, dass der Christ emanzipationsfähiger sei als der Jude, weil jener sich leichter von der Religion befreien könne als dieser.

Soweit Bauers Auffassung reichte, erkannte Marx ihre Konsequenz an, aber er wandte gegen sie ein, dass es sich bei der Judenfrage nicht um das Verhältnis der religiösen zur politischen, sondern um das Verhältnis der politischen zur menschlichen Emanzipation handle. Marx machte der Hegelschen Philosophie gerade in ihrer selbstbewusstesten Form den Prozess als der letzten Form religiöser Auffassung, als die sie von Feuerbach nachgewiesen worden war. Er zeigte an dem Beispiel der nordamerikanischen Freistaaten auf, dass in einem Lande der vollendeten politischen Emanzipation gleichwohl die lebenskräftige Existenz der Religion zu finden sei und dass, da das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels sei, die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staats selbst gesucht werden müsse. „Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit. Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der freien Staatsbürger aus ihrer weltlichen Befangenheit. Wir behaupten nicht, dass sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen Schranken aufzuheben. Wir behaupten, dass sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. Wir verwandeln nicht die weltlichen Fragen in theologische. Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche. Nachdem die Geschichte lange genug in Aberglauben aufgelöst worden ist, lösen wir den Aberglauben in Geschichte auf. Die Frage von dem Verhältnisse der politischen Emanzipation zur Religion wird für uns die Frage von dem Verhältnis der politischen Emanzipation zur menschlichen Emanzipation."7 Indem nun Marx dieses Verhältnis an der Hand der Judenfrage untersuchte, enthüllte es sich ihm als der Unterschied des politischen Staats von der bürgerlichen Gesellschaft.

Die politische Emanzipation des Juden und des religiösen Menschen überhaupt ist die Emanzipation des Staats vom Judentum und der Religion überhaupt. Die Grenze der politischen Emanzipation zeige sich darin, dass der Mensch sich von einer Schranke befreien könne, ohne dass der Mensch wirklich von ihr frei wäre; der Staat kann ein Freistaat sein, ohne dass der Mensch ein freier Mensch wäre. Die politische Erhebung des Menschen über die Religion teile alle Mängel und alle Vorzüge der politischen Erhebung überhaupt. Der Staat als Staat annulliere das Privateigentum, der Mensch erkläre auf politische Weise das Privateigentum für aufgehoben, sobald er den Zensus für aktive und passive Wählbarkeit aufhebe, wie es in vielen nordamerikanischen Freistaaten geschehen sei. Dennoch sei mit der politischen Annullation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt. So mit jedem Unterschiede der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung, die der Staat in seiner Weise aufhebe, um sie in ihrer Weise bestehen und ihr besonderes Wesen wirken zu lassen. Weit entfernt, diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiere der Staat vielmehr nur unter ihrer Voraussetzung, empfinde er sich als politischer Staat und mache er seine Allgemeinheit geltend nur im Gegensatze zu diesen Elementen.

Ähnlich wie Feuerbach den Gegensatz von Himmel und Erde, konstruiert Marx den Gegensatz von politischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft. „Der vollendete politische Staat ist seinem Wesen nach das Gattungsleben des Menschen im Gegensatz zu seinem materiellen Leben. […] Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewusstsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde. Er steht in demselben Gegensatz zu ihr, er überwindet sie in derselben Weise wie die Religion die Beschränktheit der profanen Welt, d. h., indem er sie ebenfalls wieder anerkennen, herstellen, sich selbst von ihr beherrschen lassen muss."8 Der Konflikt, worin sich der Mensch als Bekenner einer besonderen Religion mit seinem Staatsbürgertum, mit den andern Menschen als Gliedern des Gemeinwesens befinde, reduziere sich auf die weltliche Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft; diesen weltlichen Widerstreit aber, das Verhältnis des politischen Staats zu seinen Voraussetzungen, mögen dies nun materielle Elemente sein, wie das Privateigentum, oder geistige, wie Bildung und Religion, diese Spaltung zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft lasse Bauer bestehen, während er gegen ihren religiösen Ausdruck polemisiere.

Marx verkennt nicht den großen Fortschritt der politischen Emanzipation; wenn nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, so sei sie doch die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung. Aber man möge sich über ihre Grenze nicht täuschen! Die Zersetzung des Menschen in den Juden und in den Staatsbürger, in den Protestanten und in den Staatsbürger, in den religiösen Menschen und in den Staatsbürger, diese Zersetzung sei keine Lüge gegen das Staatsbürgertum; keine Umgehung der politischen Emanzipation, sondern vielmehr diese Emanzipation selbst, die also die wirkliche Religiosität des Menschen ebenso wenig aufhebe als aufzuheben strebe.

Allerdings: in Zeiten, wo der politische Staat als politischer Staat gewaltsam aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus geboren wird, wo die menschliche Selbstbefreiung unter der Form der politischen Selbstbefreiung sich zu vollziehen strebt, kann und muss der Staat bis zur Aufhebung der Religion, bis zur Vernichtung der Religion fortgehen, aber nur so, wie er zur Aufhebung des Privateigentums, zum Maximum, zur Konfiskation, zur progressiven Steuer, wie er zur Aufhebung des Lebens, zur Guillotine fortgeht. In den Momenten seines besonderen Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente, zu erdrücken und sich als das wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren. Es vermag dies indes nur durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem es die Revolution für permanent erklärt, und das politische Drama endet daher ebenso notwendig mit der Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, wie der Krieg mit dem Frieden endet."9

So orientiert sich Marx wieder an der Französischen Revolution. Der nun folgende Nachweis, dass nicht der sogenannte christliche Staat, der das Christentum als seine Grundlage, als Staatsreligion bekenne, sondern gerade der atheistische Staat, der demokratische Staat, der Staat, der die Religion unter die übrigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft verweise, der vollendete christliche Staat sei – dieser Nachweis ist mehr geistreich durchgeführt als reich an fruchtbaren Anregungen. Marx fasst sich dann dahin zusammen, dass er nicht mit Bauer den Juden sagt: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren, sondern vielmehr: Weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne euch vollständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. Mit nunmehr wieder tiefem Spatenstich öffnet er neue Quellen historischer Erkenntnis, indem er zur Prüfung der Frage übergeht, ob der Jude, wenn er politisch emanzipiert werden könne, auch die sogenannten Menschenrechte beanspruchen dürfe.

Es handelt sich um die eigentlichen Menschenrechte, die droits de l'homme, soweit sie sich unterscheiden von den Staatsbürgerrechten, den droits du citoyen. Unter diesen Menschenrechten, und zwar in der Form, die sie von ihren Entdeckern, den Nordamerikanern und Franzosen, erhalten haben, findet sich die Gewissensfreiheit, das Recht, einen beliebigen Kultus auszuüben. Die Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten liegt so wenig im Begriff dieser Rechte, dass sich das Recht, religiös zu sein, beliebig religiös zu sein, den Kultus seiner besonderen Religion auszuüben, vielmehr ausdrücklich unter ihnen befindet. Der vom citoyen unterschiedene homme ist aber das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Égalité, liberté, sûreté, propriété10 sind die Rechte des Mitgliedes der bürgerlichen Gesellschaft, des egoistischen Menschen, des vom Gemeinwesen getrennten Menschen. „Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, dass der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person."11 Wie nun die rätselhafte Tatsache erklären, dass ein Volk, das eben beginnt, sich zu befreien und ein politisches Gemeinwesen zu gründen, die Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen feierlich proklamiert, die Sphäre, in welcher der Mensch sich als Gemeinwesen erhält, unter die Sphäre, in welcher er sich als Teilwesen verhält, degradiert, endlich nicht den Menschen als citoyen, sondern den Menschen als bourgeois für den eigentlichen und wahren Menschen nimmt?

Das Rätsel löst sich dadurch, dass die politische Emanzipation die Auflösung der feudalen, die politische Revolution die Revolution der bürgerlichen Gesellschaft war. Sie stürzte die Herrschermacht, das dem Volk entfremdete Staatswesen, machte den politischen Staat zur allgemeinen Angelegenheit und konstituierte ihn als wirklichen Staat, indem sie alle Stände, Korporationen, Innungen, Privilegien zerschlug, die ebenso viele Ausdrücke der Trennung des Volks von seinem Gemeinwesen waren. „Sie zerschlug die bürgerliche Gesellschaft in ihre einfachen Bestandteile, einerseits in die Individuen, andrerseits in die materiellen und geistigen Elemente, welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation dieser Individuen bilden. Sie entfesselte den politischen Geist, der gleichsam in die verschiedenen Sackgassen der feudalen Gesellschaft zerteilt, zerlegt, zerlaufen war; sie sammelte ihn aus dieser Zerstreuung, sie befreite ihn aus seiner Vermischung mit dem bürgerlichen Leben und konstituierte ihn als die Sphäre des Gemeinwesens, der allgemeinen Volksangelegenheit, in idealer Unabhängigkeit von jenen besonderen Elementen des bürgerlichen Lebens."12 Mit dem Idealismus des Staats vollendete sich der Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft. Die Abschüttelung des politischen Jochs war zugleich die Abschüttelung der Bande, die den egoistischen Geist der bürgerlichen Gesellschaft gefangen hielten. Die feudale Gesellschaft war aufgelöst in ihren Grund, in den Menschen, aber in den Menschen, wie er wirklich ihr Grund war, in den egoistischen Menschen. Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staats. Er ist als solche anerkannt in den Menschenrechten.

Damit ist das Wesen der politischen Emanzipation klar bestimmt. Sie löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehens, als zu ihrer Naturbasis. Sie ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person.

Und hieraus ergibt sich das Wesen der menschlichen Emanzipation. „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres' [eigenen Kräfte] als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht."13 Schloss die Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" mit einem philosophischen Abriss des proletarischen Klassenkampfes, so die Abhandlung zur Judenfrage in ihrem ersten Teile mit einem philosophischen Grundriss der kommunistischen Gesellschaft.

3 „Die Adler und die Wölfe" — eine Anspielung auf die damals bekannten bürgerlichen Ökonomieprofessoren Georg Adler und Julius Wolf.

5 Georg Jung an Karl Marx, 26. Juni 1844. In: Gesamtausgabe (MEGA). Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Abt. 3, Bd. 1: Karl Marx/Friedrich Engels: Briefwechsel bis April 1846, Berlin 1975, S.432.

10 Égalité, liberté, sûreté, propriété — Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum.

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