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Franz Mehring 19100722 Neulamarckismus und mechanischer Materialismus

Franz Mehring: Neulamarckismus und mechanischer Materialismus

22. Juli 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 593-602. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 227-238]

I

Wenn ich im vorigen Hefte sagte, dass Lamarck sich zu dem mechanischen Materialismus bekannt habe, den die Neulamarckisten aufs Heftigste bekämpfen, so genügt es, zum Beweis folgende Sätze aus Lamarcks „Zoologischer Philosophie" zu zitieren:

Das Leben ist nur ein physikalisches Phänomen. Alle Lebenserscheinungen beruhen auf mechanischen, auf physikalischen und chemischen Ursachen, die in der Beschaffenheit der organischen Materie selbst liegen. Die einfachsten Tiere und die einfachsten Pflanzen, die auf der tiefsten Stufe der Organisationsleiter stehen, sind entstanden und entstehen noch heute durch Urzeugung. Alle lebendigen Naturkörper oder Organismen sind denselben Naturgesetzen wie die leblosen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und Tätigkeiten des Verstandes sind Bewegungserscheinungen des Zentralnervensystems; der Wille ist in Wahrheit niemals frei; die Vernunft ist nur ein höherer Grad von Entwicklung und Verbindung der Urteile.“

Ja noch mehr, Lamarck selbst hat schon den Neulamarckismus abgetan, indem er schrieb:

Die alten Philosophen haben sich eine Lebenskraft gedacht, eine Seele der Tiere, haben auch selbst den Pflanzen eine Seele zugeschrieben; anstatt positiver Kenntnisse haben sie so bloß Worte zuwege gebracht, mit denen man nur unbegründete und unbestimmte Begriffe verbinden kann. Jedes Mal aber, wenn wir die Natur verlassen, um uns den phantastischen Eingebungen der Einbildungskraft hinzugeben, verlieren wir uns ins Unbestimmte und in Irrtümer. Die einzigen Kenntnisse, die wir erlangen können, sind und werden immer nur diejenigen sein, die wir aus dem beharrlichen Studium der Naturgesetze schöpfen.“

Wie können sich nun aber angesichts solcher Zeugnisse, die sich bei vorhandenem Raume leicht vermehren ließen, die Neulamarckisten auf Lamarck berufen?

Sie antworten auf diese Frage mit einem jener Fechterstreiche, an denen alle Afterphilosophen unerschöpflich reich sind, mit einem „dialektischen Kunstgriff", durch den sie, wie Schopenhauer gerade auch an einer anderen Verdrehung Lamarckscher Gedanken nachweist, nur „verraten, dass sie sich im Stillen bewusst sind, unrecht zu haben". Sie sagen: Ja freilich hat Lamarck materialistische Grundsätze bekannt, aber er hat sich auch auf den „erhabenen Schöpfer" der Welt berufen. Eins ist gemogelt wie das andere. Lamarck wollte es weder mit der herrschenden naturwissenschaftlichen Richtung verderben, noch wollte er sich eine zu starke kirchliche Gegnerschaft auf den Hals laden. Das ist heute ja auch noch nicht viel besser, fügt Herr Adolph Wagner als intimer Kenner deutscher und österreichischer Universitätszustände hinzu.

Um sich auf Lamarck berufen zu können, machen die Neulamarckisten aus ihm einen x-beliebigen Professor oder Privatdozenten, der sein Mäntelchen dreht, je nachdem der Wind weht! Damit vergleiche man die schönen Worte, durch die Lamarck von Haeckel als genialer und kühner Forscher gefeiert wird, um zu erkennen, wo das Andenken Lamarcks besser aufgehoben ist, bei der „Biertischwissenschaft" oder bei den Neulamarckisten. Will man überhaupt über deren Fechterstreich ein ernstes Wort verlieren, so ist einfach zu sagen, dass Lamarck, wenn er gelegentlich einmal vom Schöpfer spricht, es ganz in der herkömmlichen Weise der französischen Materialisten tut, die Lamettrie noch im Sterben eine façon de parler1 genannt hat, als von einem alten Herrn, der irgendwo im Weltall ein behagliches Altenteil haben mag, aber sich nicht erlauben darf, auch nur das kleinste Rädchen in seiner Schöpfung zu verrücken, in der vielmehr alles nach mechanischen Gesetzen zugeht. Nun gar die Unterstellung, dass im Jahre 1809, wo die „Zoologische Philosophie" Lamarcks erschien, die materialistische Weltanschauung eine tyrannische Herrschaft in Frankreich ausgeübt habe, der Lamarck wider seine Überzeugung die ausschweifendsten Zugeständnisse habe einräumen müssen, beweist nichts, als dass die Neulamarckisten bei ihren Ausflügen ins Gebiet der Geschichtswissenschaft ebenso keck, aber auch ebenso unglücklich sind wie bei ihren Ausflügen ins Gebiet der Naturwissenschaft.

Ihren Anknüpfungspunkt an Lamarck suchen die Neulamarckisten nun in der Lehre von der aktiven Anpassung der Organismen an die Außenwelt. Nach Lamarck haben schwimmende Vögel und Säugetiere erst dadurch, dass sie beim Schwimmen die Zehen auseinanderstrecken, allmählich Schwimmhäute erhalten; Sumpfvögel bekamen infolge ihres Watens lange Beine; Hornvieh kämpfte, ohne taugliches Gebiss, nur mit dem Kopfe, und diese Kampflust erzeugte allmählich Hörner oder Geweihe; die Schnecke war anfangs, wie andere Mollusken, ohne Fühlhörner, aber aus dem Bedürfnis, die vor ihr liegenden Gegenstände zu betasten, entstanden solche allmählich; das ganze Katzengeschlecht erhielt erst aus dem Bedürfnis, die Beute zu zerfleischen, mit der Zeit Krallen, und aus dem Bedürfnis, diese beim Gehen zu schonen und zugleich nicht dadurch gehindert zu werden, die Scheide der Krallen und deren Beweglichkeit; die Giraffe, im dürren, graslosen Afrika auf das Laub hoher Bäume angewiesen, streckte Vorderbeine und Hals so lange, bis sie ihre wunderliche Gestalt erhielt. Jede Änderung in den Verhältnissen, in denen eine Tierart lebt, führt zu einer Änderung ihrer Bedürfnisse; um diesen Bedürfnissen zu genügen, werden andere Tätigkeiten und folglich Gewohnheiten nötig; so ändern sich die Organe der Tiere, indem die einen häufiger gebraucht werden, sich allmählich vergrößern und verstärken, andere weniger oder gar nicht gebraucht werden, dadurch verkümmern und endlich ganz verschwinden.

Lamarck erklärte diese Entwicklung aus dem Selbsterhaltungstrieb der Tiere. Daraus macht sich Herr Adolph Wagner folgendes Verslein zurecht: „Wer wie Lamarck das ‚Bedürfnis' als Quelle aller Anpassung ansieht, der denkt durch und durch psychistisch, mag er dabei in seinen Definitionen noch so ungenau, ja selbst irrig sich ausdrücken; dass das ‚Bedürfnis' ein psychisches Moment darstellt, wird nicht zu leugnen sein, und wer alles Geschehen von diesem ‚Bedürfnis' ableitet, der fasst die Natur psychistisch auf." In der Tat, wer kann daran zweifeln, dass der Hunger aus der Seele und nicht etwa aus dem Magen kommt?

Andere Neulamarckisten sind vorsichtiger als dies Schreckenskind ihrer Schule, aber im Wesen der Sache bleibt es dieselbe Methode. Bei dem damaligen Entwicklungsstand der Naturwissenschaften hat Lamarck seine bahnbrechenden Gedanken oft nur in einer krausen und wunderlichen Form entwickelt; indem die Neulamarckisten seine klaren und unzweideutigen Sätze durch dialektische Kunstgriffe beseitigen, wie wir deren einen kennengelernt haben, suchen sie aus Lamarcks „irrigen und ungenauen Definitionen" ihren „Neo-Vitalismus" oder „Psychismus" oder „Psycho-Vitalismus" abzuleiten.

Der alte Vitalismus nahm eine besondere Lebenskraft an, wodurch er die organische von der anorganischen Natur losriss und, wie gerade auch Lamarck treffend hervorgehoben hat, sich vom Boden der Wissenschaft entfernte, um „phantastischen Eingebungen der Einbildungskraft" nachzujagen. Dagegen vertrat der mechanische Materialismus die Einheitlichkeit der anorganischen und organischen Natur, indem er sagte, dass die Lebenserscheinungen sich nur mechanisch von den Erscheinungen der anorganischen Natur unterschieden. Der Neo-Vitalismus will nun zwar die Brücke zwischen organischer und anorganischer Natur nicht gleich abbrechen; er gibt zu, dass sich in den Organismen keine anderen physiko-chemischen Wirkungsweisen entdecken ließen, als in der anorganischen Natur vorhanden seien, aber er fügt hinzu, bei der belebten Natur zeige sich doch eine Sondergesetzlichkeit, die noch „irgendein näher zu Bestimmendes" voraussetze, ein „Lebensprinzip", das unmöglich als physikalisch gedacht werden könne. Dies Lebensprinzip brauche nicht von vornherein als ein Sonderbesitz der organischen Natur betrachtet zu werden; vielmehr lasse die Einheitlichkeit der anorganischen und organischen Natur die Möglichkeit offen, dass es sich um ein der ganzen Natur immanentes Wirksamkeitsprinzip handle.

Oder, um die Sache in der kernigen Kürze des Herrn Adolph Wagner darzustellen: „Für den älteren Vitalismus ist eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen organischer und anorganischer Natur vorhanden. Für die Mechanistik ist ein einheitliches Verständnis der ganzen Natur von vornherein selbstverständlich, und sie erklärt dieses als erreichbar von unten nach oben. Für den Neo-Vitalismus endlich ist das einheitliche Verständnis der Natur eine Möglichkeit, deren Erreichung aber nur von oben nach unten erzielt werden kann." Der „Psychismus" besteht also darin, dass man von der Seele des Menschen ausgehen muss, um die Erscheinungen der Natur zu erklären.

II

Wenn danach der Neulamarckismus mit Lamarck nichts gemein hat, es sei denn, dass er das Lebendige an ihm durch dialektische Kunstgriffe zu töten und das Tote an ihm durch ebensolche Kunstgriffe zu beleben versucht, so schwebt er deshalb keineswegs wurzellos in der Luft. Er ist vielmehr ein echt deutsches Gewächs, und seine Ahnentafel lässt sich mit einer urkundlichen Genauigkeit herstellen, die selbst das königlich preußische Heroldsamt befriedigen würde.

Die darwinistische Theorie ist ihrem Wesen nach eine revolutionäre Theorie, mag auch Darwin kein Revolutionär und mögen manche Darwinisten selbst Reaktionäre gewesen sein; hat doch sogar Haeckel dem Junker Bismarck auf offenem Markte seine Verehrung bezeugt. Aber unheimlich bleibt der Darwinismus, der alle überirdischen Mächte so gründlich ausschaltet, bei alledem den herrschenden Klassen, die dem Volke die Religion erhalten wollen; von den Gelehrten der „Kreuz-Zeitung" bis zu weiland Herrn Virchow waren und sind sie ein Herz und eine Seele darüber, dass der Darwinismus am letzten Ende zu Attentaten auf hohe Häupter, zu Pariser Kommunen und ähnlichen entsetzlichen Sachen führen müsse. Auf naturwissenschaftlichem Wege ist aber dagegen nichts zu machen, denn selbst wenn es gelänge, den Darwinismus durch Zurückgehen auf Lamarck zu beseitigen, so bliebe die Geschichte für die herrschenden Klassen gleich unheimlich; so sehr sie die Abstammungslehre bekümmert, so gänzlich gleichgültig ist es ihnen, wie sie naturwissenschaftlich begründet wird. Und da mit der Theologie kein Hund mehr vom Ofen gelockt werden kann, so muss die Philosophie helfen, so gut es noch geht.

Es ist denn auch nicht von ungefähr, dass in dem halben Jahrhundert, das der Darwinismus hinter sich hat, ziemlich jedes Jahrzehnt eine neue Philosophie aufgetaucht ist, um ihn zu widerlegen. Schopenhauer erklärte die darwinistische Theorie für „platten Empirismus"; Eduard v. Hartmann entdeckte, dass sich das darwinistische Prinzip, in seinen Konsequenzen verfolgt, immer selbst aufesse; der große Nietzsche sah in Darwin einen „achtbaren, aber mittelmäßigen Geist" von einer gewissen Enge, Dürre und fleißiger Sorglichkeit, während der Könnende in großem Stile, der Schaffende möglicherweise ein Unwissender sein müsse, und wie der Neulamarckismus mit dem Darwinismus, umspringt, ist schon im vorigen Hefte gezeigt worden.

Schopenhauer war der erste Neo-Vitalist, der sich in seiner Weise auch auf Lamarck bezog. Die materialistische Polemik gegen die Annahme einer Lebenskraft verwarf er als „nicht nur falsch, sondern geradezu dumm", als „höchsten Gipfel der Absurdität", als „frechen Unsinn". Er taufte diese Lebenskraft auf den Namen Wille, der bei ihm freilich ganz etwas anderes bedeutet als die „sogenannte Seele", die er als „Lebensprinzip" in entschiedenster Weise ablehnte. Sein Wille ist auf der untersten Stufe, in der anorganischen Natur, ein „blinder Drang", ein „finsteres dumpfes Treiben", das nur auf mechanische Ursachen reagiert, als Schwere, als Elektrizität, als chemische und physikalische Eigenschaften usw. wirkt. In der Pflanzenwelt „objektiviert" der Wille sich schon deutlicher, bleibt aber noch völlig erkenntnislos und reagiert erst auf äußere Reize. Erst in der Tier- und Menschenwelt zündet der Wille sich ein Licht der Erkenntnis an und verliert seine instinktive Unfehlbarkeit. Der Wille ist das Ursprüngliche, die Erkenntnis das Abgeleitete; erst aus der Verbindung beider entsteht die Seele.

Noch mehr unterscheidet sich Schopenhauer von den Neulamarckisten dadurch, dass er seinen Willen in die Metaphysik versetzt. Der Wille ist für Schopenhauer das Ding an sich, das Substrat der ganzen Natur, jenes uns unmittelbar Bekannte und genau Vertraute, das wir im Innern unseres eigenen Selbst finden, aber zugleich Unerklärliche, an dem die Naturwissenschaft ihre Grenze hat; Ausdrücke wie Lebenskraft, Naturkraft, Bildungstrieb usw. sagen nicht mehr als x y z. So ist Schopenhauer weit entfernt, an dem „unvergesslichen Lamarck" irgendetwas „Psychistisches" zu entdecken; er sagt im Gegenteil, dass Lamarck als Naturforscher eine sehr richtige und tiefe Auffassung der Natur bekundet, jedoch nur einen „genialen Irrtum" produziert habe, aus Unkenntnis der Metaphysik.

Lamarck habe im ganzen Ernste behauptet und sich bemüht, ausführlich darzutun, dass die Gestalt, die eigentümlichen Waffen und nach außen wirkenden Organe jeder Tierart keineswegs bei ihrem Ursprung schon vorhanden gewesen, sondern erst infolge der Willensbestrebungen des Tieres, welche die Beschaffenheit und Lage seiner Umgebung hervorgerufen habe, durch seine eigenen Anstrengungen und daraus entsprungenen Gewohnheiten allmählich im Laufe der Zeit und durch die fortgesetzte Generation entstanden seien. Das heiße aber die Dinge auf den Kopf stellen. Vielmehr habe der Wille des Tieres, auf diese Weise zu leben, auf solche Art zu kämpfen, die dazu passenden Organe geschaffen; dieser Wille habe die Erkenntnis erzeugt, nicht aber, wie Lamarck meine, die Erkenntnis den Willen. So sonderbar diese Ansicht erscheinen mag, so war Schopenhauer in seiner Weise konsequent, indem er sagte, sein Wille habe nichts mit der Naturwissenschaft, sondern nur mit der Metaphysik zu tun, und indem er anerkannte, dass Lamarck nichts mit der Metaphysik, sondern nur mit der Naturwissenschaft zu schaffen habe.

Mit seinem Willen als dem schlechthin unerklärlichen Substrat der ganzen Natur hatte Schopenhauer eine Bresche in den kausalen Zusammenhang der Naturerscheinungen gelegt. Er kündete dem mechanischen Materialismus, den „Herren vom Tiegel und der Retorte", unversöhnliche Fehde an und wurde so der erste Modephilosoph der herrschenden Klassen. Aber dauernd genügte er ihren Bedürfnissen nicht. Er war nicht nur ihr erster Modephilosoph, sondern auch der letzte unserer großen Philosophen. Selbst seiner Naturphilosophie, ein so buntes Durcheinander sie darstellt, fehlte es nicht an einzelnen Lichtblitzen; in seiner Weise hat er schon vor sechzig Jahren die Mutationstheorie von de Vries vertreten. Sein Wille ließ ihn zum Opfer manches spiritistischen Schwindels werden, aber die Pfaffen hielt er sich durch seine urwüchsigen Grobheiten an die Adresse des „Judengottes" kräftig vom Leibe, und noch viel gründlicher rechnete er mit der Kathederphilosophie ab, die im Interesse der Regierungen das Volk verdumme.

Trotz aller reaktionären Schrullen blieb Schopenhauer ein unbequemer Geselle, der sich nie dazu erniedrigte, seine Philosophie den jeweiligen Machtbedürfnissen der herrschenden Klassen anzupassen. Auch die pessimistischen Schlussfolgerungen, die er aus seiner Lehre vom Willen zog, passten der Bourgeoisie nicht in den Kram, die bekanntlich die beste der Welten geschaffen hat.

III

Diesen beklagenswerten Schwächen der Schopenhauerschen Philosophie half nun Eduard v. Hartmann mit seiner Philosophie des Unbewussten ab. Er milderte den grimmigen Pessimismus Schopenhauers zum „ Juchhe-Pessimismus", der es zwar für die Kanaille beim „Weltelend", beim „wahnwitzigen Karneval der Existenz" beließ, aber denen, die die nötigen Moneten besitzen, keineswegs verbot, die guten Dinge dieser Welt mitzunehmen, wenn es nur mit „stiller Hoheit der Resignation" und „erhabener Trauer" geschähe, in dem sie ganz erfüllenden Gedanken, dadurch „den Entwicklungsprozess der Menschheit zu fördern und seinem Ziele näher zu führen".

Den herrschenden Klassen erwies sich Hartmann als gefügiger Handlanger, indem er philosophisch sogar die Notwendigkeit des Sozialistengesetzes nachwies; den Pfaffen machte er noch den besonderen Spaß, über die „Selbstzersetzung des Christentums" zu orakeln, während er neue Munition in ihr Lager karrte, so dass sie sagen konnten: Sehet da, wie dieser Feind des Christentums als naturwissenschaftlicher Denker gezwungen ist, das Walten überirdischer Mächte anzuerkennen. Mit der ganzen gespreizten Eitelkeit eines Modephilosophen schrieb Hartmann schon wenige Jahre nach seinem ersten Hervortreten: „Aus diesem Grunde" – nämlich weil er „die modernen Naturwissenschaften in den Idealismus einfügen" wolle – „beginnt seit einiger Zeit selbst die Theologie einen wertvollen Bundesgenossen in mir zu schätzen, obschon wohl kaum jemand in schärferer Form als ich seine Überzeugung ausgesprochen hat, dass das Christentum kein lebendiger Faktor unserer Kulturentwicklung mehr ist und alle seine Phasen bereits durchlaufen hat." Dazu würde Schopenhauer sagen: Pfui Teufel; Julius Duboc, ein Schüler Feuerbachs, meint nicht mit Unrecht, dass Schopenhauer die Philosophie des Unbewussten, wenn er sie noch erlebt hätte, mit der Rute gestraft und in die Ecke gestellt haben würde. Das ist ebenso begreiflich, wie es begreiflich ist, dass der lauteste Trompeter des Neulamarckismus, eben unser Herr Adolph Wagner, sich von einem Bewunderer Schopenhauers zu einem Bewunderer Hartmanns entwickelt hat.

Über die Philosophie des Unbewussten selbst sei gestattet, zwei Historiker der Philosophie abzuhören, denen man alles andere eher vorwerfen kann als einseitige Vorliebe für den Materialismus. Karl Vorländer schreibt in seiner Geschichte der Philosophie:

Sie stellt eine „neuromantische Reaktion gegen den Realismus der Naturwissenschaft" (Höffding) dar. Nimmt Hartmann auch Atomkräfte als letzte Elemente der Materie an, so verstehen wir doch diese letzten Kräfte nach seiner Meinung erst dann, wenn wir sie als hervorgegangen aus einem unbewussten Wollen und Vorstellen auffassen. Überall, wo Hartmann eine Lücke in der wissenschaftlichen Erklärung, von der er ausgehen will, zu finden meint, setzt er – zwar nicht die Allmacht des Schöpfers, wohl aber das Zaubermittel des Unbewussten ein. „Die bewusste Vernunft ist nur negierend, kritisierend, kontrollierend, korrigierend, messend, vergleichend, kombinierend, ein- und unterordnend, … aber niemals schöpferisch, produktiv, niemals erfinderisch." Hierin hängt der Mensch vielmehr „ganz vom Unbewussten" ab, dem „Quell seines Lebens", und „wehe dem Zeitalter, das es gewaltsam unterdrückt"! Darwins Prinzip der natürlichen Auslese zum Beispiel ist nur ein mechanisches Mittel in der Hand des von dem englischen Gelehrten übersehenen Unbewussten. Das Unbewusste herrscht nicht bloß in der „Leiblichkeit", das heißt im Instinkt, den Reflexwirkungen, der Naturheilkraft, den organischen Gebilden, sondern auch im menschlichen Geiste, in der geschlechtlichen Liebe, in dem Gefühl, dem Charakter, dem ästhetischen Urteil und der künstlerischen Produktion, der Sprache, dem Denken, ja auch in der Geschichte, wo es die einzelnen ohne ihr Wissen im Dienste der großen Weltzwecke arbeiten lässt. Und zwar ist das Unbewusste ein einziges, allumfassendes, wenn auch unpersönliches Individuum; den Namen Gott vermeidet unser Philosoph, weil er alle anthropomorphen Vorstellungen fernhalten will.

F. A. Lange aber sagt in seiner Geschichte des Materialismus, dass Hartmanns Philosophie, indem sie mechanische Arbeit aus nichts schaffe und damit den Kausalzusammenhang der Natur vernichte, vollständig auf den Standpunkt des Köhlerglaubens und der rohesten Naturvölker herabsinke. Könne man die vollständige Erklärung einer Naturerscheinung nicht finden, so sei devil devil2 im Spiele. Er fährt dann fort:

Dem Naturforscher freilich ziemt es, in solchen Fällen einfach zu sagen, dass die physische Ursache noch nicht entdeckt sei, und in der ganzen Geschichte seiner nie rastenden Wissenschaft wird er den Impuls finden zu neuen Forschungen, die ihn dem Ziele um einen Schritt näher führen. Der Australneger aber und der Philosoph des Unbewussten machen da halt, wo ihr Vermögen natürlicher Erklärung aufhört, und schieben den ganzen Rest auf ein neues Prinzip, mit welchem alles durch ein einziges Wort höchst befriedigend erklärt ist. Die Grenze, bei welcher die physische Erklärung aufhört und der Spuk dafür eintritt, ist bei beiden verschieden, die wissenschaftliche Methode aber dieselbe. Dem Australneger zum Beispiel ist der Funke der Leydener Flasche wahrscheinlich devil devil, während Hartmann ihn noch natürlich erklären kann, allein die Methode des Überganges von dem einen Prinzip zum anderen ist durchaus dieselbe. Das Blatt, welches sich zur Sonne wendet, ist für Hartmann, was die Leydener Flasche für den Australneger ist. Während die Unermüdlichkeit der Forscher gerade auf diesem Gebiet täglich neue Entdeckungen hervorbringt, welche alle darauf hinweisen, dass auch diese Erscheinungen ihre mechanische Ursache haben, hat der Philosoph des Unbewussten mit seinen botanischen Studien hier zufällig an einem Punkte haltgemacht, welcher das Mysterium noch in voller Unverletztheit bestehen lässt, und hier ist nun natürlich auch die Grenze, wo der phantastische Reflex der eigenen Unwissenheit, die „geistige Ursache", eintritt und dasjenige ohne weitere Mühe erklärt, was noch unerklärlich ist.“

An die Stelle der „geistigen Ursache" setze man die „psychische Ursache", und man hat ein treffendes Bild des Neulamarckismus, mit der einzigen Einschränkung, dass die Sache, je häufiger sie sich wiederholt, umso geistreicher wird. Um bei dem Beispiel Langes zu bleiben, so sagt Schopenhauer: Die Ursache, die das Blatt zur Sonne wendet, ist sein Wille, der erkenntnislos auf äußere Reize reagiert; Hartmann aber sagt: Das Unbewusste wendet das Blatt zur Sonne, so sicher wie es die Schlacht bei Leipzig geschlagen hat; der Neulamarckismus endlich sagt: Die Ursache, die das Blatt zur Sonne wendet, ist seine Seele.

Von dieser Pflanzenseele entwirft Herr France, eine Hauptleuchte der Schule, ein ergreifendes Bild. „Das seelisch wirkende Prinzip in der Pflanze hat sich bisher immer und immer wieder als von sehr beschränkten Kräften herausgestellt." Ihr „Hauptkennzeichen" ist die „Enge ihres Urteils, anders gesagt, die vielen Unzulänglichkeiten und die mannigfachen Dummheiten, die sich im Leben der Pflanze finden". Deshalb muss sie „eine Menge Ungemach über sich ergehen lassen", ohne sich helfen zu können. Der Mensch mit seinem Denken kann die Pflanze „leicht täuschen", dank ihrer „geistigen Unbildung". „Die Arme kann eben nur mit Körperzellen denken, sie hat kein spezialisiertes Denkorgan – daher wurde sie in der Lebensschule auf den letzten Platz gesetzt." Vom lieben Gott doch hoffentlich, und nicht vom devil devil.*

Bei alledem aber kann die Pflanze noch von Glück sagen, dass sie sich nur mit einer Seele abrackern muss, während die höheren Tiere und der Mensch nach Herrn France mit deren zwei oder, genaugenommen, mit deren drei geplagt sind. Zunächst ist jede Zelle des tierischen oder menschlichen Körpers „ein kleines seelisches Einzelwesen" mit bescheidenen Kräften und bescheidener Urteilskraft, das zunächst für sich allein agiert und „egoistische Sonderinteressen" verfolgt, aber das doch auch „gemeinsame Interessen" mit seinen Mitzellen hat und somit zu „altruistischen Verbrüderungen" mit ihnen gezwungen ist.

Diese Art seelischen Doppelwesens nennt Herr France die Körperseele, die noch „ein gar beschränktes, hinfälliges Ding ist, das sich nie zu komplizierter Tätigkeit aufschwingen kann". Jedoch über ihr thront – als Oberster von's Ganze, wie der Berliner sagt – die Gehirnseele, die dazu berufen ist, mit ihrer „höheren Urteilskraft" die „Dummheiten" der Körperseele zu durchschauen. „Die Gehirnzellen haben es gelernt, weil sie von Anfang an nie etwas anderes gemacht haben, als sich im Urteilen und Denken zu üben, während die Körperzellen als gemeine Arbeiterschar auch ihren vielfachen Handwerken nachgehen mussten." So Herr France!

Man kann seine geistvollen Ausführungen nicht lesen, ohne dass sich einem immer wieder der Gedanke aufdrängt: Was für ein Esel war doch jener Menenius Agrippa, der die römischen Plebejer mit der plumpen Fabel vom Magen einseifte, den die Glieder ernähren müssten, weil sie ohne ihn nicht leben könnten. Wie viel geist- und namentlich seelenvoller hätte er sich ausgedrückt, wenn er den Neulamarckismus gekannt hätte! Die Pflanzenseelen von Sklaven, die von wegen angeborener Dämlichkeit auf den letzten Platz in der Lebensschule gesetzt sind. Die Körperseelen von Plebejern, die auch noch keiner komplizierten Tätigkeit fähig sind und nur Dummheiten machen, zumal da sie als gemeine Arbeiterschar ihren vielfachen Handwerken nachgehen müssen. Endlich die Gehirnseelen von Patriziern, die nie etwas anderes tun, als im Interesse des Gemeinwohls denken und urteilen.

Ja, die Zeiten schreiten fort, und wenn ein moderner Menenius Agrippa die Klassenherrschaft im allgemeinen und die preußische Dreiklassenwahl im besonderen auf eherne Naturgesetze gründen will, so hat er es leichter als sein biederer Vorfahr, dank dem Neulamarckismus.

IV

In ihrem Kampfe gegen den Darwinismus verwenden die Neulamarckisten entweder naturwissenschaftliche oder „psychistische" Waffen. Die ersten sind aber nicht von ihnen geschmiedet worden, und die zweiten sind nicht Schwerter, sondern Strohhalme.

So will Herr J. G. Vogt den Darwinismus lächerlich machen, indem er unterstellt, die ganze Menschheit sei ausgestorben, dagegen seien ihre Kulturwerke erhalten, und nun solle ein Darwinist erklären, wie sich das Ruderschiff auf dem Wege der natürlichen Auslese zum Segelschiff und das Segelschiff auf demselben Wege zum Dampfschiff entwickelt habe. Die plumpe Sophistik liegt auf der Hand, wenngleich man zugeben mag, dass zwar nicht der Darwinismus, aber diejenigen Darwinisten, die die Entwicklungsgesetze der Natur ohne Vorbehalt auf die menschliche Gesellschaft übertragen haben, dabei mit ihrem eigenen Fette beträufelt werden. Immerhin käme der Darwinist mit der ihm zugemuteten Aufgabe noch näher ans Ziel als Herr J. G. Vogt, der die Entwicklung der Ruder- zu Segel- und der Segel- zu Dampfschiffen mit der leeren Phrase erklärt, dass „der treibende Menschengeist der wahre innere Entwicklungsfaktor" gewesen sei.

Doch ist es ganz überflüssig, auf solche Einzelheiten einzugehen, da sie alle aus demselben Prinzip entfließen und das Prinzip zunächst der entscheidende Punkt in dem Streite zwischen Darwinismus und Neulamarckismus ist. Bisher galt die strenge Durchführung des Kausalitätsprinzips, unter Beseitigung aller unklaren Annahmen, die aus bloßen Begriffen abgeleitet werden, als der leitende Gesichtspunkt für das gesamte Feld der Naturwissenschaften; es galt noch immer, was F. A. Lange vor vierzig Jahren aussprach, „dass keine Bekämpfung des Darwinismus naturwissenschaftlich berechtigt ist, welche nicht in gleicher Weise wie der Darwinismus selbst von dem Prinzip der Erklärbarkeit der Welt unter durchgehender Anwendung des Kausalitätsprinzips ausgeht". Wollen nun die Neulamarckisten ihr „psychistisches Prinzip" als leitenden Gesichtspunkt für die Naturwissenschaften aufstellen, so haben sie vor allen Dingen diese „unklare Annahme" zu erläutern.

Herr J. G. Vogt sagt: „Es existiert etwas, es gibt ein absolutes Sein, aber dieses in seiner wahrhaftigen Existenz unantastbare Etwas offenbart sich nur in meinem Ich, in meiner subjektiven Welt; nur in der letzteren kann ich es erfassen, nur in ihr existiert es." Das ist, mit etwas anderen Worten, die Erklärung, die Schopenhauer von seinem Willen gab, nur dass Schopenhauer das „absolute Sein", das er „Ding an sich" nannte, für metaphysisch erklärte, für an sich unerklärlich, während die Neulamarckisten sich gegen nichts heftiger sträuben als gegen den Einwand, dass sie „Metaphysiker" seien; bei all ihrer Philosophie wollen sie mit ihrem „psychistischen Prinzip" auf physischem Boden bleiben.

Mit dieser Behauptung hört aber die Erklärung ihres Prinzips überhaupt auf. Herr France sagt zwar, dass seine Pflanzen-, Körper- und Gehirnseelen reiches Licht nach allen Seiten würfen, aber er fügt hinzu: „Die Natur des Psychischen ist nicht erklärt damit." Am forschesten geht natürlich wieder unser Freund Wagner ins Zeug. Er meint, es handle sich gar nicht darum, was das Psychische sei. Man solle ihn doch mit der „ewigen Erklärungsmanie" verschonen, die schon soviel Verwirrung angerichtet habe. „Wir" wollen zwar „hoffen", aber „es kümmert uns heute nicht, ob die Zukunft in experimenteller und theoretischer Arbeit zu einer befriedigenden und endgültigen Analyse der Psyche kommen" werde. Man könne nicht alles erklären, jedenfalls das nicht, was man als Grundlage der übrigen Erklärungen nehme; die Mechanistik wisse auch nicht, was ihr „Stoff", ihre „Materie", ihre „Kraft" und „Energie" sei.

Dieser Hieb gegen die Mechanistik geht nun aber wieder völlig daneben. Der mechanische Materialismus behauptet keineswegs, alles erklären zu können oder gar alles erklärt zu haben; er beansprucht nur, „als Grundlage der übrigen Erklärungen", ein klares Prinzip zu haben, das ihm gestattet, mehr und mehr wissenschaftlich von den Naturerscheinungen zu erklären, selbst wenn er für immer darauf verzichten müsste, alles zu erklären. Und wenn man sagt, dies Prinzip, die Erklärbarkeit der Natur unter strenger Durchführung des Kausalitätsgesetzes, sei auch nur eine „Hypothese" oder „Voraussetzung", nun, so erprobt sich auch hier der Pudding im Essen. Ist anders das Bibelwort richtig: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!, so ist der mechanische Materialismus in all seiner Gottlosigkeit ein wahrer Milliardär an biblischen Leistungen, während der „Psychismus" an naturwissenschaftlicher Erkenntnis noch nicht eines roten Hellers Wert produziert hat.

Hier ist das Rhodus, wo getanzt werden muss. Kann der „Psychismus" sein eigenes Prinzip nicht erklären, so muss er sich schon bescheiden, dass er, um noch einmal F. A. Lange zu zitieren, an die Stelle eines noch unvollständigen, aber wirklichen Begreifens einen Lappen stopft aus einer Weltanschauung, in welcher nach ihren Grundlagen nur ein schwaches Analogon des Begreifens, nur eine Ordnung der Erscheinungen nach leeren Begriffen und plumpen anthropomorphen Phantasien möglich ist.

Der mechanische Materialismus ist auf naturwissenschaftlichem Gebiet das wissenschaftliche Forschungsprinzip, wie es auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet der historische Materialismus ist. Behaupten, dass Marx und Engels, indem sie dem mechanischen Materialismus sein Recht auf dem Gebiet der Geschichte bestritten, ihm auch sein Recht auf dem Gebiet der Natur bestritten hätten, heißt diese Männer aus dem Bereich wissenschaftlichen Denkens in das Gebiet des Aberglaubens verweisen, auf dem devil devil der Australneger, die Philosophie des Unbewussten und des „Psychismus" der Neulamarckisten ihr unholdes Wesen treiben.

1 Redensart.

2 devil devil - (englisch für Teufel) Bezeichnung der australischen Eingeborenen für böse Geister.

* Es ist schon gesagt worden, dass sich der Neulamarckismus am allerwenigsten mit der „Pflanzenseele" auf Lamarck berufen darf. Wohl aber darf er sich damit – und das beleuchtet auch seine Konfusion – auf den schroffsten Gegner von Lamarcks Abstammungslehre berufen. Cuvier schreibt in seiner Geschichte der naturwissenschaftlichen Fortschritte: „Die Pflanzen haben gewisse, anscheinend von selbst entstandene Bewegungen, die sie unter gewissen Umständen zeigen, und die den Bewegungen der Tiere so ähnlich sind, dass man wohl ihretwegen den Pflanzen eine Art Empfindung oder Willen beilegen möchte … So streben die Wipfel der Bäume stets nach der senkrechten Richtung, es sei denn, dass sie sich nach dem Lichte beugen. Ihre Wurzeln geben dem guten Erdreich und der Feuchtigkeit nach und verlassen, um diese zu finden, den geraden Weg. Aus dem Einfluss äußerer Ursachen sind diese verschiedenen Richtungen nicht erklärlich, wenn man nicht auch eine innere Anlage annimmt, die erregt zu werden fähig und von der bloßen Tätigkeitskraft in den anorganischen Körpern verschieden ist."

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