III. Die Katastrophe

III

Die Katastrophe

Wie der Krieg entstand

Es war sicherlich ein gerüttelt und geschüttelt Maß von Schande, das der preußische Staat im Winter von 1805 bis 1806 auf sich geladen hatte: vom Potsdamer Novembervertrage, den er mit der Koalition, bis zum Pariser Februarvertrage, den er mit Napoleon geschlossen hatte. Aber man würde den eigentümlichen Mangel an Scham, der das preußische Junkertum kennzeichnet, beträchtlich unterschätzen, wenn man glauben wollte, dass es deshalb in sich gegangen wäre.

Es wurde vielmehr umso frecher, je mehr die preußische Perfidie sprichwörtlichen Klang gewann. Nur einige wenige, wie Scharnhorst und Stein, ahnten das drohende Verderben und machten ein paar ernsthafte Versuche zur Abwehr, mit denen sie an der unerschütterlichen Borniertheit des Königs scheiterten. Die von diesem beschützte Clique Haugwitz-Lombard trieb ihren ehrlosen Landesverrat ruhig weiter. Sie war dabei nicht einmal so verblendet, dass sie die Gefahr, in der sie schwebte, überhaupt nicht gesehen hätte, aber sie hoffte, ihr durch „allerhand Kniffe und Pfiffe" zu entgehen, nach den eigenen Worten Lombards, der nunmehr ganz offen den Spion des französischen Gesandten spielte, ihm über alle Kabinettsberatungen getreuen Bericht erstattete und dafür von ihm in Paris zu einer öffentlichen Belohnung empfohlen wurde.

Daneben rasselten die junkerlichen Gardeoffiziere mit ihren Säbeln, warfen die Fenster Haugwitzens ein und brachten dem von Napoleon geächteten Hardenberg unter Pauken- und Trompetenschall ein brausendes Hoch. Auch die Königin gefiel sich darin, seit dem Besuche des Zaren in Potsdam die Jungfrau von Orleans zu spielen, wozu ihr gerade nur alles fehlte. Ernster war vielleicht der Kriegseifer des Prinzen Louis Ferdinand zu nehmen, dessen Vater angeblich ein Bruder des alten Fritz, tatsächlich ein General Schmettau war. Seine ganze Art bildete einen erfrischenden Gegensatz zu dem schlafmützigen Wesen des Königs, und obgleich er seine angebliche Genialität einstweilen nur in wirklicher Liederlichkeit bekundete, so spricht doch die Freundschaft, die Scharnhorst und Stein ihm schenkten, einigermaßen dafür, dass er von anderem Stoffe war als sonst die preußischen Prinzen. Er fluchte den „Kanaillen, die uns verraten haben", den Haugwitz, Lombard und Konsorten, und spottete nicht übel über dies widerspruchsvolle Berlin, das dem Heere zujauchze und den Krieg fürchte, das tanze und tanzen lasse, da man entweder einem hartnäckigen und wechselvollen Kriege entgegengehe oder einem Frieden, der die Keime eines Krieges in sich trage, welcher „unsere politische Freiheit" vernichte.

Napoleon kannte Berlin nun auch und behandelte es mit ausgesuchter Verachtung. Er fand, dass die Preußen noch dümmer als die Österreicher seien. Er häufte eine Demütigung auf die andere über den neuen Verbündeten, beschimpfte in seinem amtlichen Blatte den preußischen Minister Hardenberg als englischen Söldling, worauf Hardenberg von seinem tapferen Könige, trotz seiner völligen Unschuld, sofort entlassen wurde, griff bei den rheinischen Gebietsabtretungen über die Grenzen hinaus, die in dem Februarvertrage gesteckt waren, ließ die Briefe Friedrich Wilhelms unbeantwortet, zeigte ihm nicht einmal die Stiftung des Rheinbundes an. Und es war sicherlich nur schnöder Hohn, als Talleyrand dem preußischen Gesandten Lucchesini beiläufig sagte, wenn sich Preußen durch die Stiftung des Rheinbundes beschwert fühle, so könne es ja ein norddeutsches Kaisertum gründen.

In Berlin sah man hierin aber ein gnädiges Einlenken des französischen Kaisers und atmete um so froher auf, als man schon auf den gleichen glorreichen Gedanken verfallen war, sobald die ersten Gerüchte über die bevorstehende Stiftung des Rheinbundes laut geworden waren. Man verhandelte mit den beiden norddeutschen Kurfürsten darüber in Dresden und Kassel; sie sollten Könige und mit Mediatisierungen kleinster Reichsstände aufgefüttert werden, der preußische König aber Kaiser und Oberfeldherr des Bundesheeres. Allein man fand in Dresden wie in Kassel geringe Gegenliebe. Von einem preußischen Kaisertum wollte man namentlich in Dresden gar nichts wissen, und als Preußen diesen Anspruch fallenließ, auch nichts vom preußischen Oberbefehl im Kriege. Vielmehr forderte der Dresdner Hof ein Bundesdirektorium, das zwischen Preußen, Sachsen und Hessen reihum gehen sollte, und statt des Bundesheeres drei Kreisheere unter Leitung der drei Vormächte. Zudem verlangte er die Mediatisierung der sächsischen Herzogtümer zu seinen Gunsten. Etwas williger war der Kasseler Hof, aber auch nur um den Preis viel größerer Mediatisierungen, als Preußen ihm zugestehen mochte. Beide Höfe hatten weit größere Neigung, in den Rheinbund einzutreten, als sich unter preußisches Protektorat zu stellen, und ihre instinktive Annahme, dass sie als dynastische Schluckspechte dabei ungleich besser fahren würden, wurde besonders in Dresden durch die französische Diplomatie gern bestätigt.

In dies närrische Treiben fiel nun wie eine Bombe eine Nachricht, die am 7. August von dem Pariser Gesandten Lucchesini in Berlin eintraf. Frankreich befand sich noch im Kriege mit England und Russland, Preußen wenigstens mit England, das die Besetzung Hannovers erwidert hatte, indem es die preußischen Schiffe in britischen Häfen wegnahm, die norddeutschen Häfen blockierte und Kaperbriefe ausgab, um die preußische Handelsflotte zu zerstören. Für Frankreich aber hatte sich nach dem Tode Pitts, der die Schlacht bei Austerlitz nicht lange überlebte, eine Aussicht auf Frieden mit England eröffnet; Lord Yarmouth verhandelte darüber mit Talleyrand in Paris, und auch der Zar hatte den Staatsrat Oubril zu einer Friedensverhandlung in die französische Hauptstadt gesandt. Als nun Lord Yarmouth in der hannoverschen Frage die größte Schwierigkeit des Ausgleichs sah, meinte Talleyrand, die würde gar keine Umstände machen; der König von England könne Hannover jederzeit zurückerhalten. Der englische Gesandte teilte seinem preußischen Kollegen bei einem fröhlichen Gastmahl diese Äußerung des französischen Ministers in absichtlicher Indiskretion mit, und Lucchesini meldete sie sofort nach Berlin.

Danach erging schon am 9. August der Mobilmachungsbefehl für den größten Teil des preußischen Heeres. Es war eine vollendete Kopflosigkeit, da man nach allem, was man sich hatte bieten lassen, auch diesen Schimpf ruhig einstecken konnte, zumal da es sehr unwahrscheinlich war, dass die Friedensverhandlungen Frankreichs mit England und Russland zum Ziele führen würden, wie sie sich denn auch sehr bald zerschlugen. Der „korsischen Tücke" ganz zu geschweigen, denn der „ehrliche" Friedrich Wilhelm hatte es auch mit seinem politischen Gewissen für vereinbar gehalten, trotz seines Bündnisses mit Napoleon im tiefsten Geheimnis seine freundschaftlichen Beziehungen zum Zaren fortzusetzen. In der Tat wollte man gar nicht den Krieg, sondern man wollte nur „für alle Fälle" gerüstet sein; man hoffte auch diesmal mit der Politik des „Sich-Durchwindens", wie Beyme zu sagen pflegte, glücklich davonzukommen. Auf Napoleons Wunsch wurde Lucchesini, weil er in die Kriegstrompete gestoßen hatte, aus Paris abberufen und an seine Stelle der General Knobelsdorff gesetzt, der dem Kaiser die friedfertigen Gesinnungen Preußens beteuern musste. Auch ging Napoleon darauf ein; er sagte, Preußen solle nur augenblicklich entwaffnen, dann stehe der Wiederherstellung der Freundschaft nichts im Wege.

Mit der Mobilmachung hatten sich die Füchse nun aber doch im Eisen gefangen. Sie konnten nicht wieder abrüsten ohne jede Bürgschaft, dass Napoleon dann dem wehrlosen Staate jede noch so schimpfliche Bedingung diktieren würde. Im preußischen Heere begann es lebhaft zu rumoren; mehrere Generale, wie Blücher und Rüchel, verlangten ungestüm den Krieg; die Gardeoffiziere tobten wilder als je; einige von ihnen erbaten Urlaub nach Paris, auf die Frage, zu welchem Zwecke, erwiderten sie: um einen Helden auf dem Throne zu sehen; andere wetzten ihre Säbel auf der Steintreppe, die zum Hotel des französischen Gesandten hinaufführte. Für eine solche Sprache der Garde hat ein preußischer König immer ein helles Ohr.

Am Hofe herrschte sonst eine unglaubliche Konfusion. Der König war wie vernichtet und weinte häufig; er sprach davon, abzudanken. Aber wie er aus Eigensinn und Schwäche gemischt war, so vermerkte er höchst ungnädig, als im September mehrere Generale und Prinzen, dazu auch der Minister Stein, ihn angingen, nun doch endlich die Beyme, Haugwitz und Lombard zu entlassen; so auch vertraute er den militärischen Oberbefehl demselben Herzog von Braunschweig an, der schon vierzehn Jahre früher seine gänzliche Unfähigkeit bewiesen hatte. Jedoch abrüsten konnte er nicht ohne irgendeinen Erfolg; er entschloss sich, als sein Ultimatum zwei Bedingungen zu stellen: Frankreich solle sich fortan nicht mehr in die Verhältnisse Norddeutschlands mischen und seine Truppen aus Süddeutschland hinter den Rhein zurückziehen. Es war wohl das Geringste, was er fordern konnte, aber ungleich mehr, als sich Napoleon durch eine militärische Drohung abtrotzen ließ.

Der Kaiser gedachte nicht um eines Strohhalms Breite zurückzuweichen, ließ es an friedlichen Worten nicht fehlen, rüstete aber umso gründlicher einen zermalmenden Schlag. Sein siegreiches Heer von 1805 stand schlagfertig fast an den südlichen Grenzen Preußens; Napoleon ließ es sich in Franken konzentrieren und bot die Kontingente des Rheinbundes auf; am 24. September verließ er Paris und begab sich an den Rhein. In seiner Kriegskasse nahm er nur 24.000 Francs mit; so sicher fühlte er sich des Sieges.

Inzwischen hatte man sich in Berlin ebenfalls für die Offensive entschieden, wenn auch keineswegs mit festem und klarem Entschluss, der nun einmal an dieser Stätte eine Unmöglichkeit war. Beim Suchen nach Bündnissen stieß man überall auf verschlossene Türen; nach all den Treulosigkeiten der preußischen Politik traute man ihr nirgends über den Weg; wer in Berlin bot eine Bürgschaft dafür, dass im letzten Augenblick nicht doch wieder eingelenkt wurde? Man suchte den Frieden mit England, man klopfte in Petersburg und Wien an; überall stieß man auf ein tiefes und nur allzu begründetes Misstrauen. So drängte Haugwitz selbst zum Angriffe, und nun fand sich wenigstens der Zar bereit, ein Hilfsheer von 70.000 Mann zu versprechen, das freilich erst zu einer Zeit eintreffen konnte, wo die Würfel längst gefallen sein mussten. Sonst hatte Preußen nur Sachsen zum Bundesgenossen, weniger gewonnen als gepresst; Napoleon erklärte, er führe den Krieg, um Sachsen vor dem Ehrgeize eines ungerechten Nachbarn zu sichern, und seine Manifeste verkündeten „den Völkern Sachsens", er komme, sie zu befreien. Jedermann wusste, dass der Dresdner Hof nur auf den Augenblick warte, wo er ohne Gefahr von Preußen abfallen könne. Kurhessen erklärte sich für neutral und ebenso Braunschweig, dessen Herzog das preußische Heer befehligen sollte.

Immer aber blieb die Offensive gelähmt durch die Hoffnung, dennoch den Frieden zu erhalten. An demselben Tage, wo Napoleon von Paris abreiste, stand das preußische Heer in der Stärke von 130.000 Mann in Thüringen, wozu 20.000 Sachsen kamen. Der König und sogar die kriegslustige Königin waren in Naumburg eingetroffen; eine große Beratung des preußischen Hauptquartiers beschloss aber, den Einfall in Franken bis auf den 8. Oktober zu verschieben, da man bis zu diesem Tage in dem preußischen Ultimatum vom 1. Oktober die Antwort Napoleons zu erwarten erklärt hatte. Die Haugwitz und Lombard hofften unglaublicherweise immer noch, der französische Kaiser werde einlenken, sich verpflichten, den Norddeutschen Bund nicht zu stören, oder gar seine Truppen hinter den Rhein zurückziehen. Napoleon aber, als ihn das Ultimatum, das ihm aus Paris nachgeschickt worden war, am 7. Oktober in Bamberg erreichte, brach in ein schallendes Gelächter aus. Er nannte in seinem ersten Bulletin den Brief des Königs „ein schlechtes Pamphlet, wie sie das englische Ministerium für fünfhundert Pfund jährlich anfertigen lasse", und rief seinen Truppen zu: „Sie wollen, dass wir beim Anblick ihrer Armee Deutschland räumen! Die Unsinnigen!! Nur unter Triumphbogen dürfen wir nach Frankreich zurückkehren."

Darauf erschien am 9. Oktober in Erfurt das preußische, von Lombard verfasste Kriegsmanifest, ein klägliches, weitläufiges Machwerk, das bis in die Tage der Revolution alle französischen Sünden schmähend und in demselben Atemzuge die preußische Nachgiebigkeit gegen diese Sünden rühmend aufzählt. Englische Blätter meinten, es führe die Sprache einer Verführten, die ihrem Verführer alle Schwachheiten vorwerfe, die sie für ihn gehabt habe. Auch fand sich darin der Satz: „Vor allen Traktaten haben die Nationen ihre Rechte", was in keines Mund eine so elende und nichtswürdige Heuchelei war, wie im Munde des altpreußischen Staates.

Der Aufmarsch

So war das junkerliche Gesindel mehr in den Krieg hinein getaumelt als hinein geschritten; es war durch die wuchtende Last seiner Verbrechen auf einen schiefen Abhang gedrängt worden, den es nun unaufhaltsam hinab rollte, bis in die Tiefen unermesslicher Schmach.

Noch ehe der erste Schuss fiel, entstand ein unbeschreiblicher Wirrwarr. Die Kriegs- und die Friedenspartei wetteiferten miteinander in unheilbarer Verblendung. Die großmäuligen Drohungen der Blücher und Rüchel standen mit den feigen Kniffen der Haugwitz und Lombard auf derselben Stufe. Es waren die entgegengesetzten Pole desselben grauenhaften Verfalls. Blücher überschlug sich in der Fanfaronade: „Die Franzosen finden ihr Grab noch diesseits des Rheins, und die Hinüberkommenden bringen angenehme Nachricht mit, wie von Roßbach", und ein anderer dieser Helden klagte gar darüber, dass die glorreiche Armee Gewehre und Säbel mit in den Krieg nähme; Knüppel reichten hin, die Franzosen aus dem Lande zu jagen.

Die einzige Entschuldigung des blöden Gebarens ließe sich etwa darin finden, dass es doch nur zitternder Angst entstammte. Die große Mehrzahl der höheren Offiziere, hilflose Greise, die zudem durch den Krieg den größten Teil ihres Einkommens verloren, war nichts weniger als kriegerisch gestimmt. Und das gleiche galt, in womöglich noch höherem Grade, von den Mannschaften. Die alten Soldaten, die meist verheiratet waren, Weib und Kind daheim ließen, als Beurlaubte oder Freiwächter wenigstens den größten Teil des Jahres ein halbwegs ungebundenes Leben geführt hatten, folgten sehr ungern dem Rufe der Kriegstrompete, die sie zu neuem Hunger und zu neuen Prügeln rief. Um sie zu Heldentaten anzufeuern, verfiel man auf den kostbaren Einfall, sie ins Theater zu führen, um sie an des armen Schillers „Wallenstein" und „Jungfrau von Orleans" zu begeistern. Damit aber nicht genug, so stimmten die preußischen Bürokraten zu dem gleichen Zwecke auch ihre eigenen Harfen; ein Kriegsrat Müchler schilderte den friderizianischen Söldnern mit des Dichters Seherblick, wie sie das französische Volksheer zerschmettern würden: „Da wichen sie, die feilen Mietlingsscharen, Und wie vor fünfzig Jahr Die Väter kühn der Feinde Sieger waren, Ward es der Enkel Schar." Aber die armen Kriegsknechte, mit dem knurrenden Magen und dem blutenden Rücken, wurden dadurch gar nicht gerührt; sie sangen bei ihren Beiwachtfeuern in Thüringen: „Fürs Vaterland zu sterben, Wünscht mancher sich; Zehntausend Taler erben, das wäre was für mich. Das Vaterland ist undankbar, Und dafür sterben? O du Narr!"

Diese Poesie hatte vor den offiziellen Kriegs- und Siegesliedern wenigstens den Vorzug, die Stimmung der Bevölkerung selbst widerzuspiegeln, die in ihrer Masse dem Kriege mit völliger Gleichgültigkeit gegenüberstand. Wie sollte es denn auch anders sein? Was sollte sie für ein „Vaterland" begeistern, das nirgends existierte als in dem Zungengedresch verächtlicher Literaten oder als grotesker Schatten im hohlen Spiegel der Gewissensangst, die nun nachgerade das preußische Junkertum überkam? Es gehört zu den anmutigsten Eigenschaften dieser Klasse, die staatliche Maschinerie zu missbrauchen, um die Massen der Bevölkerung bis aufs letzte Blut und bis aufs letzte Mark auszusaugen, und wenn sie damit in die Patsche geraten ist, mit dem ganzen sittlichen Pathos der gekränkten Unschuld zu verlangen, dass die ausgemergelten Massen nun noch die müden Glieder auf die Schlachtbank schleppen sollen, fürs „Vaterland", will sagen für die Wiederherstellung der junkerlichen Herrlichkeit. Wird dieser sonderbare Anspruch nicht erfüllt, so jammern sie darüber, dass die Massen durch „Aufklärung und Humanität" verweichlicht worden seien, was, wenn es wahr wäre, unter einem gewissen Gesichtspunkte allerdings den preußischen Junkern ihr Jena erspart haben würde. Hätten Aufklärung und Humanität damals in Deutschland so festen Fuß gefasst wie in Frankreich, so wären die ostelbischen Junker lange vor Jena zum Teufel gejagt worden.

So wie die Dinge lagen, konnte jedoch nicht eine Spur nationaler Begeisterung das „halb fabelhafte, gravitätische Spukwesen aus einer längst vergessenen Zeit" begleiten, das als preußisches Heer im Herbste 1806 ins Feld marschierte. Alle seine Gebresten waren schon bei der Mobilmachung von 1805 hervorgetreten, aber natürlich war nichts geschehen, auch in solchen Dingen nicht, die sich bis zu einem gewissen Grade hätten bessern lassen. Dank der Kompaniewirtschaft war die Bekleidung, Bewaffnung und Verpflegung des Heeres so elend wie in keiner europäischen Armee sonst. Die Röcke waren aus so grobem und lose gearbeitetem Tuche gearbeitet, dass man hätte Erbsen durchsäen können, dabei von der Brust ab kurz weggeschnitten, wodurch der Unterleib entblößt wurde. Es gab weder Mäntel noch Westen noch Unterbeinkleider; im Sommer nicht einmal tuchene Beinkleider, sondern linnene, in denen die Soldaten die kalten Herbstnächte vor der Schlacht von Jena durchhalten mussten. An Verpflegung erhielt der Mann täglich zwei Pfund Schlechtgebackenes Brot und wöchentlich ein Pfund Fleisch. Die Gewehre waren für gefälliges Aussehen bei der Parade, aber nicht für den Kampf eingerichtet; es kam vor, dass bei einem ganzen Regimente die Gewehrläufe zu dünn waren, um das Feuern mit scharfen Patronen auszuhalten.

Im Gegensatze dazu stand der schwerfällige Tross, der für die Offiziere mitgeschleppt wurde. Alles, was ihnen im Frieden annehmlich oder bequem war, führten sie mit sich: der siebzigjährige Oberbefehlshaber seine französische Mätresse, ein anderer General seinen Putenhof, ein Leutnant sein Klavier. Alle Infanterieoffiziere bis zum jüngsten Leutnant abwärts waren beritten; außerdem durfte jeder Offizier, außer bei den Husaren, mindestens ein Packpferd mitnehmen; die Mehrzahl der Kompaniechefs hatte fünf, die Minderzahl drei Pferde, und unter dem Geräte, das diese trugen, fehlte weder das Zelt noch der Feldtisch, noch der Feldstuhl, noch das Feldbett. Den endlosen Tross, der ihnen schon gesetzlich zugestanden war, vermehrten die junkerlichen Offiziere noch durch Bauernwagen und Equipagen, in denen sie oft Weiber und Kinder mit ins Feld nahmen; nahm doch auch der König seine Luise mit.

Bei der Mobilmachung von 1805 hatte sich in handgreiflichster Weise gezeigt, wie sehr das Heer durch diesen Tross behindert wurde, und einige noch halbwegs zurechnungsfähige Junker hatten geglaubt, dies Übel bis zu einem gewissen Grade einschränken zu können, ohne gleich die ganze friderizianische Herrlichkeit in die Luft zu sprengen. Aber das war ihnen sehr schlecht bekommen. Das Oberkriegskollegium antwortete ihnen höhnisch, bei der Kavallerie habe sich sogar noch eine Vermehrung der Bequemlichkeiten als notwendig erwiesen, und es sei besser, „etwas beschwerlicher zu marschieren und dagegen den Feind mit mehrerer Sicherheit zu schlagen, als leichter zu marschieren und den kürzeren zu ziehen". Als ein besonders freches Attentat wurde die Forderung abgewiesen, dass die Subalternoffiziere auf ihre Reit- und Packpferde verzichten sollten. „Ein preußischer Edelmann geht nicht zu Fuß", schnarrte Rüchel, und der Gouverneur von Berlin, ein Graf Schulenburg-Kehnert, erklärte mit wahrhaft patriotischer Entrüstung, der zahlreiche Adel, der als Subalternoffizier diene und auf eine von ganz Europa anerkannte Weise die größte Stärke und die schönste Zierde der Armee ausmache, dürfe nicht durch eine Maßregel, die ihn dem gemeinen Manne gleichsetze, gedemütigt und gekränkt werden. Die Unmöglichkeit, diesen verjunkerten Staat auch nur im Kleinen zu reformieren, konnte nicht schlagender bewiesen werden.

Wie die Ausrüstung und Organisation des Heeres, so stand auch seine Strategie und Taktik noch ganz auf friderizianischem Fuße. Mit abergläubischer Zähigkeit hielt man an der Lineartaktik und der Magazinverpflegung fest, wie sie in den Zeiten der Söldnerheere aufgekommen waren und ihren Bedürfnissen auch entsprochen hatten; außer Scharnhorst gab es vermutlich keinen Offizier im Heere, der auch nur eine Ahnung davon hatte, dass man einer neuen Kriegsweise gegenübertrat, die mit ihrem Tirailleurfeuer und ihrem Requisitionssystem eine unendlich überlegene Kraft zu entfalten vermochte. Dagegen stand in vollster Blüte, was selbst der alte Fritz als die Kriegskunst der „Stiefelettenmajore" verspottet hatte: die Exerzierkunst des Paradeplatzes, auf dem die Bataillone wie Lineale hin und her geschoben wurden. Als Hauptziel der kriegerischen Leistung galt das völlige Gleichmaß der Zöpfe. Es kam vor, dass auf großen Paraden selbst ein Feldmarschall das Normalzopfmaß aus der Tasche zog, um die Zöpfe zu messen; stimmte es einmal nicht ganz bei einem Rekruten, so hieß es: Zwanzig Hiebe dem Bauernlümmel. Noch am Tage des Gefechts bei Saalfeld erging ein Befehl, die Fleurollen egaler zu spinnen.

Danach lässt sich ungefähr denken, wie es im Generalstabe aussah. Seine besten Arbeiter waren noch die gelehrten Tüftler aus der Fremde, die von den moralischen Elementen der modernen Kriegführung nichts begriffen, die entscheidenden Momente in den örtlichen und räumlichen Verhältnissen, in Höhenzügen und Wasserläufen, im Kordon- und Postenkriege suchten, aus völlig willkürlichen Voraussetzungen ebenso gelehrte wie sinnlose Folgerungen zogen. Sie lebten ganz in strategischen und taktischen Vorstellungen, die nichts als die Überbleibsel einer längst entschwundenen Wirklichkeit waren. Die einzige Ausnahme bildete Scharnhorst, doch da er kein ostelbischer Junker war, so reichte sein Einfluss nicht weit; auch war er noch keineswegs frei von mancher unbewussten Selbsttäuschung; selbst für ihn wie für Stein bedurfte es einer harten Schule, um sie zur völligen Klarheit gelangen zu lassen.

An der Spitze des Heeres standen neben dem Braunschweiger, Möllendorff und Rüchel ein Fürst Hohenlohe, der durch die Stiftung des Rheinbundes mediatisiert worden war, aber als bis dahin souveräner Herr eine Art Nebenbuhler des Oberbefehlshabers spielte, und ein General Kalckreuth, der im Siebenjährigen Kriege Adjutant des Prinzen Heinrich gewesen war und dann lange an dessen ränkevollem Hofe gelebt hatte. Militärisch waren beide ebensolche Nullen wie die anderen.

Immerhin hatte der Herzog von Braunschweig diesmal, wie schon in den Revolutionskriegen, seine lichten Momente. Kaum begann sich die unförmliche Maschinerie des Heeres in Bewegung zu setzen, als sie auch schon in allen Fugen zu krachen begann und nicht wieder einzurenken war. So klagte der Herzog, wie er mit solchen Leuten, wie Hohenlohe, Möllendorff, Rüchel und Kalckreuth, einen Napoleon schlagen solle. Er nannte Hohenlohe einen eitlen und schwachen Mann, Rüchel einen Fanfaron, Möllendorff einen abgestumpften Greis, Kalckreuth einen listigen Ränkeschmied, die Generale aber, die in zweiter Reihe standen, talentlose Routiniers. Dies war alles sehr treffend, aber die Medaille hatte auch ihre Kehrseite. Drei Tage vor der Schlacht bei Jena erschien eine Deputation von Offizieren bei Kalckreuth und verlangte, man solle dem Herzog den Oberbefehl nehmen, da er weder wüsste, was er täte, noch was er tun wollte, weder wo er ginge, noch wo er stände, und, um die Verwirrung aufs äußerste zu bringen, sich mit seinem Generalstabschef Scharnhorst überworfen habe.

Unter solchen Vorzeichen wurde am 14. Oktober die Doppelschlacht geschlagen, die den altpreußischen Staat vernichtete.

Die Doppelschlacht

Die lächerliche Hoffnung, dass Napoleon auf das preußische Ultimatum hin die Waffen niederlegen würde, hatte das preußische Heer, das seit Ende September in Thüringen bereitstand, kostbare Tage verlieren lassen. Die einzige Möglichkeit eines Erfolges, durch einen kräftigen und raschen Vorstoß nach Franken die sich erst konzentrierenden Truppen des Feindes zu überfallen, war damit preisgegeben.

Man darf freilich die Sache nicht so auffassen, als ob der Vorstoß wirklich geführt worden wäre, wenn man jene alberne Erwartung nicht gehegt hätte. Es hätte sich dann irgendein anderer Vorwand gefunden, nicht zu handeln, wie sich auch nach dem Ausbruche des wirklichen Kampfes immer solche Vorwände fanden. Das geringe Maß von Entschlussfähigkeit, das der Herzog von Braunschweig besaß und das der verständige Rat Scharnhorsts vielleicht ein wenig stärkte, wurde in weit höherem Grade geschwächt durch die Anwesenheit des Königs im Hauptquartier. Der Herzog hatte nun eine bequeme Gelegenheit, alle Verantwortung auf den eigentlichen Kriegsherrn abzuschieben, und da dieser völlig unfähig war, Krieg zu führen, so ergab sich als die unausbleibliche Folge, dass ununterbrochen Kriegsrat gehalten wurde, was selbst schon nach der Ansicht des alten Fritz das geeignetste Mittel war, Feldzüge und Schlachten zu verlieren.

Dazu kamen die fortwährenden Reibungen zwischen dem Hauptquartier Braunschweigs und dem Hauptquartier Hohenlohes, der von dem eitlen und fahrigen Massenbach beherrscht wurde. Es ist unmöglich und heute auch ohne jedes Interesse, diese gegenseitigen Zänkereien darzustellen oder die Kreuz- und Querzüge zu schildern, die sie zur Folge hatten. Umso weniger, als es historisch zu einer völlig falschen Auffassung führt, wenn man die letzten Todessprünge des längst dem Tode geweihten Opfers als die eigentlichen Ursachen seines Todes ansehen wollte. Wären Braunschweig, Hohenlohe und Massenbach jeder mit dem dreifachen Genie des alten Fritz gesegnet gewesen und hätten sie alle drei in holdester Harmonie gehandelt, so wäre es eben das gewesen. Nicht, dass diese armen Schacher an der Spitze des Heeres standen, war die wirkliche Ursache der Niederlage, sondern die wirkliche Ursache der Niederlage bewirkte, dass solche armen Schacher an die Spitze des Heeres gelangen konnten.

War die Offensive aus nichtigen Einbildungen aufgegeben worden, so begriffen diese Gamaschenknöpfe nicht einmal, dass die straffe Konzentrierung aller militärischen Streitkräfte eine unbedingte Notwendigkeit war, wenn sie sich nicht mit sehenden Augen ans Messer liefern wollten. Am 9. August hatte man erst den größeren Teil des Heeres mobilisiert; wahrscheinlich weil man den Polen nicht traute, ließ man die Truppen in den östlichen Landesteilen in ihren Garnisonen; ihnen ging erst am 30. September der Mobilmachungsbefehl zu. In Thüringen standen den 200.000 sieggewohnten Soldaten Napoleons nur – einschließlich der Sachsen – 150.000 Mann gegenüber, und diese wurden in der unglaublichsten Weise verzettelt.

Am 9. Oktober, wo nun endlich der Kampf beginnen sollte, waren sie auf einem Raum von 120 Kilometern Ausdehnung zerstreut. Rüchel mit seinem Heerhaufen stand bei Kreuzburg und Eisenach, das Hauptheer unter dem Herzog von Braunschweig bei Gotha; seine Vorhut, eine ganze Division, unter dem Befehl des Herzogs von Weimar, dessen von Goethe so bitter verspottete Soldatenspielerei ihn doch nur zu einem Heerverderber des borussischen Kalibers gemacht hatte, irrte im Thüringer Walde herum, angeblich um auf die rückwärtigen Verbindungen des Feindes zu fallen. Weiter nach Osten, auf dem linken Ufer der Saale, kam der Heerhaufen Hohenlohes, der seine Vorhut unter dem Prinzen Louis Ferdinand südlich bis Saalfeld vorgeschoben hatte. Auf dem rechten Ufer der Saale, bei Roda, standen sächsische Truppen, die zu Hohenlohe stoßen sollten, und bei Hof eine schwache Division, bei der, wie auch in der Vorhut Hohenlohes, sächsische Truppen stark vertreten waren. Diese Division wurde von dem General Tauentzien befehligt, einem militärisch unfähigen Höfling. Endlich war noch ein preußisches Reservekorps unter einem einfältigen Herzog von Württemberg bei Halle versammelt.

Napoleon kehrte sich natürlich nicht an diplomatische Rücksichten, sondern begann den Krieg, sobald er fertig war. Am 7. Oktober ließ er drei Heersäulen marschieren, um auf dem rechten Saaleufer, auf dem Gelände zwischen Thüringer Wald und Erzgebirge, gegen Leipzig vorzustoßen. Sein Feldzugsplan war ebenso einfach wie klar. Er wusste, wie es im Lager der Gegner aussah: „Alle aufgefangenen Briefe zeigen", so schrieb er an einen seiner Generale, „dass der Feind den Kopf verloren hat. Sie beraten Tag und Nacht und wissen nicht, was sie tun sollen." Da sie selbst es nicht wussten, so konnte es auch Napoleon nicht wissen; marschierte er aber auf Leipzig und Berlin, so mussten sie sich ihm irgendwo stellen, und dann war nichts sicherer, als dass er sie über den Haufen rannte.

Seine ersten Schläge trafen am 9. Oktober die Division Tauentzien, am 10. Oktober die Vorhut Hohenlohes. Beide Gefechte zeigten bereits, was bevorstand. Vor den überlegenen Kräften der Franzosen zog sich Tauentzien zwar von Hof auf Schleiz zurück, vertrödelte hier aber die Zeit, wurde eingeholt und verlor 600 Mann. Ein preußisches Husarenregiment und zwei sächsische Schwadronen Chevauxlegers wurden gänzlich zusammengehauen; die Kanonen des sächsischen Infanterieregiments Maximilian feuerten ohne Unterschied auf Freund und Feind. Nun ging die Flucht umso hastiger weiter, bis die Division ganz aufgelöst und erschöpft bei Mittel-Pöllnitz eintraf, wo sie einen noch grimmigeren Feind fand: den Hunger. Die verrostete Verpflegungsmaschinerie versagte völlig, während die Franzosen sich in der reichen Gegend durch ihr Requisitionssystem leicht versorgten.

Viel tiefer war der niederschmetternde Eindruck, den am nächsten Tage das Gefecht bei Saalfeld machte. An der Spitze von 8000 Mann versuchte der Prinz Louis Ferdinand, sich dem Vormarsche von 14.000 Franzosen zu widersetzen. Es ist darüber gestritten worden, ob er den aussichtslosen Kampf in törichtem Übermut oder in hoffnungsloser Verzweiflung aufgenommen habe; genug, er fiel im Handgemenge, und das Gefecht kostete 1800 Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen; dazu gerieten 15 preußische und 18 sächsische Geschütze mit ihren Munitionswagen und der ganzen Bagage in die Hände der Franzosen. Die preußisch-sächsischen Truppen hatten sehr schlecht bestanden; die Kavallerie war abermals zusammengehauen, ganze Batterien waren von den Kanonieren im Stiche gelassen worden; ein Artillerieunteroffizier, der zwei Geschütze befehligte, war weder durch Vorstellungen noch Misshandlungen zum Feuern auf der Stelle zu bewegen, als die feindliche Kavallerie in der wirksamsten Schussweite sich entfaltete.

Im Hauptquartier griff nun ein panischer Schrecken um sich. Man beschloss die Rückwärtskonzentration des Heeres auf Weimar und Jena; das Hauptheer sollte sich bei Weimar, der Hohenlohesche Heeresteil bei Jena sammeln. Das rechte Saaleufer wurde völlig geräumt bis auf den letzten Mann, so dass man jede Fühlung mit dem Feinde verlor; die Übergänge über die Saale blieben unbesetzt; im Heere selbst entstand am Nachmittage des 11. Oktober ein entsetzliches Tohuwabohu auf das bloße Gerücht vom Herannahen der Franzosen. Eine amtliche Darstellung enthält darüber kaum glaubliche Einzelheiten. Kanonen und Munitionswagen fuhren sich dermaßen fest, dass alle Auswege wie verbarrikadiert waren. Sächsische Artillerie protzte gegen Jena ab. Die vom Hunger geplagten sächsischen Soldaten warfen ihre Gewehre fort und versteckten sich in den Häusern. Man musste die Soldaten dazu prügeln, die Kanonen und Wagen wieder auseinander zu bringen. Preußische Soldaten plünderten die sächsische, sächsische Soldaten die preußische Bagage. Außerhalb der Stadt waren alle Furten und Wege mit weggeworfenen Gewehren, Bajonetten, Taschen besät; in den Gräben steckten umgeworfene, von der Mannschaft verlassene Geschütze. „Ein ähnlicher Vorgang dürfte sich kaum in der ganzen Kriegsgeschichte finden", meint der amtliche Historiker.

Wie eine Herde zitternder Schafe zusammengepfercht, stand nun das glorreiche preußisch-sächsische Kriegsheer um Weimar und Jena. Es war noch immer möglich, die Saale zu überschreiten und auf die Flanke des Feindes zu fallen, aber dazu fehlte die Kraft, der Mut, der Wille. Dagegen übersah nunmehr Napoleon klar die Sachlage; er hatte die Preußen noch überschätzt, so gering er sie schätzte, als er annahm, dass sie sich ihm auf dem Vormarsch gegen Leipzig in den Weg stellen würden; so entschloss er sich sofort, ihnen den Weg nach Berlin zu sperren. Er ließ seine Heersäulen eine große Linksschwenkung ausführen und Front gegen die Saale nehmen; am 12. Oktober, an dem das preußisch-sächsische Heer in dumpfer Untätigkeit verharrte, besetzten seine Truppen schon Naumburg und standen damit im Rücken der Feinde.

Nun schickte sich der Herzog von Braunschweig abermals zur Retirade an, natürlich auch erst nach langen Kriegsratsberatungen und einer Zeitvertrödelung, die ihm verhängnisvoll werden sollte. Er befahl den Abmarsch über die Unstrut auf Merseburg, um den Rücken wieder freizubekommen, sich mit dem Reservekorps des Herzogs von Württemberg zu vereinigen und dann die Entscheidungsschlacht in dem Flachlande zwischen Saale und Elbe anzunehmen. Daraus wäre natürlich auch nichts geworden, wenn er seine Absicht hätte ausführen können. Aber er konnte sie nicht mehr ausführen.

Er wollte zunächst mit dem Hauptheere abmarschieren; Hohenlohe sollte bei Jena, Rüchel bei Weimar stehenbleiben, um den Abzug zu decken; dann sollten sie folgen, aber jeden Kampf mit dem Feinde vermeiden. Die einzige Möglichkeit des Erfolges bot größte Schnelligkeit; wäre man am 13. Oktober um drei Uhr früh aufgebrochen und um neun Uhr in Auerstedt angelangt, so hätte man den Weg noch offen gefunden. Aber der Herzog hielt es für nötig, nach seiner Gewohnheit seine Absicht mit aller Welt zu beschwatzen; auch wollte der General Schmettau seinen nächtlichen Schweiß abwarten und sich nicht zu früh der frischen Morgenluft aussetzen. Erst gegen zwölf Uhr mittags brachen die fünf Divisionen des Hauptheeres auf; erst am Abend und zum Teil spät in der Nacht kamen die Truppen nach Auerstedt, wo sie frierend und hungernd lagerten, den Anbruch des Tages abzuwarten.

Zu dieser Zeit war der französische Angriff auf die preußisch-sächsischen Truppen Hohenlohes schon in vollem Gange. Napoleon hatte den 13. Oktober zu einem Ruhetage für seine Truppen bestimmt gehabt, die seit einer Woche ununterbrochen marschiert waren; sobald er von dem beabsichtigten Abmarsch Braunschweigs hörte – er scheint durch seine Späher im feindlichen Lager benachrichtigt worden zu sein, denn obgleich er sich in Gera befand, wusste er schon am 13. Oktober um neun Uhr morgens davon –, befahl er die Konzentrierung gewaltiger Streitkräfte auf Jena und eilte selbst dahin. Die sichere Beute sollte seiner eisernen Faust nicht mehr auf Tage entweichen. Er fand seine Truppen schon auf dem jenseitigen Ufer der Saale, deren Übergänge unverteidigt waren; die Stadt Jena war in ihrem Besitze, und auch den Landgrafenberg hatten sie erstiegen, wo die Hochebene offen vor ihnen lag, auf der die Truppen Hohenlohes lagerten. Hohenlohes Hauptquartier war in Kapellendorf, halbwegs zwischen Jena und Weimar. Er hatte an diesem Tage eine Hungerrevolte des sächsischen Heeresteiles zu dämpfen gehabt; da es ihm notdürftig gelang, scheint er sich eingebildet zu haben, sein Heerhaufen, der militärisch und moralisch längst außer Rand und Band gekommen war, sei wieder völlig eingerenkt. Er war so üppig, Freiwillige vor die Front zu fordern für eine Rekognoszierung des Feindes, sah auch die Franzosen auf dem Landgrafenberge, und zwar noch in so geringer Anzahl, dass er sie mit leichter Mühe hätte herunterwerfen können, kehrte aber in voller Seelenruhe nach Kapellendorf zurück und legte sich gemächlich aufs Ohr.

Anders Napoleon, der die gefährdete Lage seiner Truppen mit klarem Blick erkannte und die ganze Nacht daran arbeiten ließ, er selbst mit der Fackel in der Faust voran, immer neue Bataillone und Kanonen die steilen Höhen hinaufzuschaffen. Am frühen Morgen des 14. Oktober hatte er auf dem Landgrafenberge eine Macht beisammen, die ihm um sechs Uhr gestattete, das Signal zum Angriff mit sicherer Aussicht auf Erfolg zu geben. Er warf erst die Vorhut von 8000 Mann zusammen, die jetzt Tauentzien befehligte. Während dieses Kampfes blieb es im preußischen Hauptquartier noch völlig ruhig; Hohenlohe schrieb einen Bericht an den König, und seine Umgebung amüsierte sich mit einem französischen Kammerherrn, der die – in hart überlegenem Stile gehaltene – Antwort Napoleons auf den Brief Friedrich Wilhelms überbringen sollte und von den Husaren aufgefangen worden war.

Erst die flüchtigen Truppen Tauentziens belehrten den Fürsten Hohenlohe, dass Gefahr im Verzuge sei. Um acht Uhr schrieb er an Rüchel nach Weimar, den er so schnell als möglich mit seinem Heeresteil herbeizueilen bat. Er selbst suchte seine Truppen aus ihren weit entlegenen, meilenweit zerstreuten Quartieren zu sammeln; wie in dem ganzen Feldzuge, so war auch in der einzelnen Schlacht die Zersplitterung der Streitkräfte eine ehrwürdige preußische Gewohnheit. Außer den 8000 Mann Tauentziens gingen 5000 Mann unter dem General Holtzendorff auf einem abgesonderten Teile des Schlachtfeldes verloren. Hohenlohe brachte höchstens noch 25.000 Mann zusammen, die er nach den Regeln der Lineartaktik avancieren und ihr ungezieltes Massenfeuer abgeben ließ.

Es war das viel gerühmte, angeblich unwiderstehliche Mittel der friderizianischen Taktik. Diesmal aber blieb es völlig wirkungslos; es schlug gar nicht an bei einem Gegner, der es im zerstreuten Gefecht zur Meisterschaft gebracht hatte; die preußisch-sächsischen Truppen erlitten die schwersten Verluste, ohne Gleiches mit Gleichem vergelten zu können. „Die Unmöglichkeit, etwas gegen das verheerende Feuer der feindlichen Tirailleure zu tun, brachte die Mannschaft außer Fassung", heißt es in dem amtlichen Berichte des sächsischen Generals Lecoq. Es gelang nicht, die Franzosen aus Vierzehnheiligen zu vertreiben, wo sie sich eingenistet hatten; aus den Gebäuden und Hecken des Dorfes schossen die französischen Schützen in die nahe vor ihnen stehenden preußischen Linien wie in Scheiben.

Die einzige Rettung vor einer völlig vernichtenden Niederlage wäre noch ein frühzeitiger Rückzug gewesen. Aber Hohenlohe war jedes Entschlusses unfähig; in dumpfer Betäubung wartete er auf Rüchel, und Rüchel kam nicht. Weshalb der Bramarbas, der vom frühen Morgen an den Kanonendonner hörte und von mehr als einer Botschaft Hohenlohes erreicht worden war, so lange trödelte, ist niemals aufgeklärt worden. Dagegen erhielt Napoleon Nachschub auf Nachschub; um ein Uhr rollte er durch einen überlegenen Stoß die preußisch-sächsische Linie auf, und ein Strom von Flüchtlingen ergoss sich über das Schlachtfeld. Nur das sächsische Grenadierbataillon Winkel hielt sich tapfer; es nahm den Fürsten Hohenlohe in seine Mitte und machte einen geordneten Rückzug.

In dem Augenblick, wo die Schlacht rettungslos verloren war, um zwei Uhr, erschien Rüchel endlich mit seinen 15.000 Mann. Noch ein halbstündiger blutiger Kampf, und auch sie waren vom Schlachtfelde gefegt.

Elender fast noch kämpfte und unterlag an demselben Tage das preußische Hauptheer bei Auerstedt. Bei Jena hatten etwa 53.000 preußisch-sächsische Truppen gegen nahezu doppelt soviel Franzosen und ein feudal-fürstlicher Strohkopf gegen den genialen Kriegsmeister der bürgerlichen Revolution gefochten; bei Auerstedt unterlagen 50.000 Preußen, die der König von Preußen und der Herzog von Braunschweig führten, etwa 27.000 Franzosen unter dem Befehle eines gewöhnlichen Marschalls. Schon am Abend des 13. war es unter den preußischen Truppen zu argen Tumulten gekommen; in ihrer bitteren Not, da es an Lebensmitteln, Holz und Stroh fehlte, hatten sie Auerstedt geplündert, wo der König und der Herzog hausten; an eine Rekognoszierung der Umgegend hatte niemand gedacht. Als es dann am 14. Oktober um sechs Uhr früh zum Aufbruch ging, stieß man im dichten Morgennebel auf das Armeekorps des Marschalls Davoust, der auf Befehl Napoleons von Naumburg kam, um die Feinde im Rücken zu fassen.

An der Lust anzugreifen fehlte es hier den Preußen nicht. Da der Herzog von Weimar mit der Vorhut des Hauptheeres sich noch immer irgendwo im Thüringer Wald herumtrieb, hatte man Blücher vom Rüchelschen Heerhaufen kommen lassen, um eine neue Vorhut zu bilden. Doch brachte er in der herrschenden Unordnung nicht mehr als sechs Schwadronen und eine reitende Batterie zusammen, womit er den Feind hindern sollte, das Dorf Hassenhausen zu besetzen. Er säuberte den Ort auch von feindlichen Reitern, stieß aber jenseits auf eine Infanterielinie, die er im Nebel für eine Hecke gehalten hatte, und wurde von ihr mit einem verheerenden Feuer empfangen, so dass er seine Batterie im Stiche lassen musste, während seine Schwadronen in wilder Flucht von dannen stoben. Die Franzosen besetzten nun Hassenhausen, und im Ringen um das Dorf entwickelten sich die Dinge ganz ähnlich wie bei Jena im Ringen um Vierzehnheiligen. Die lange Linie der preußischen Schlachtordnung erwies sich völlig unfähig, gegen die Tirailleurtaktik der Franzosen etwas auszurichten.

Dennoch hätte die erdrückende Übermacht auf preußischer Seite nicht jede Möglichkeit eines Erfolges ausgeschlossen, wenn nicht der Herzog von Braunschweig gleich beim Beginn der Schlacht den einzigen Mann, der helfen konnte, seinen Generalstabschef Scharnhorst, in einem Anfall ungnädiger Laune auf den linken Flügel verbannt hätte, wo Scharnhorst sein Bestes tat, aber auf den allgemeinen Gang der Schlacht keinen Einfluss üben konnte. Bald darauf wurden dem Herzog beide Augen ausgeschossen, und so hörte jede Führung der preußischen Truppen überhaupt auf. Gänzlich unfähig, wie der König war, hatte er doch nicht die Einsicht und die Selbstverleugnung, einen anderen Oberbefehlshaber zu ernennen; auf ihn in erster Reihe fällt die Schmach dieser Niederlage. Jeder General trieb auf eigne Faust, was ihm beliebte, und oft genug waren sie dabei von den verächtlichsten Beweggründen geleitet; ein Generalleutnant der Kavallerie, der einen Befehl übernehmen sollte, erklärte unumwunden, er sei seit Beginn des Feldzuges so gekränkt und zurückgesetzt worden, dass er keinen Beruf in sich spüre, das mindeste aus freien Stücken zu tun. Der General Kalckreuth stand mit der Reserve, 13 Bataillonen und 13 Kanonen, auf einer Anhöhe, 4000 Schritte hinter dem Platze, wo die Entscheidung lag, „und sah der zu seinen Füßen tobenden, von dem verhassten Braunschweiger geleiteten Schlacht zu, als sei es ein Theaterstück, das ihn nichts angehe"; allen jüngeren Offizieren, die ihn aufforderten, die sich unaufhaltsam verblutenden Regimenter zu unterstützen, wies er kaltblütig seine Instruktion vor, die ihn zu nichts mehr verpflichte. Durch stumpfsinnige Maßregeln anderer Führer wurden andere Truppenteile dem Kampfplatze ferngehalten; zwei Fünftel des preußischen Hauptheeres haben an der Schlacht überhaupt keinen Anteil genommen.

Sobald dann Davoust sich anschickte, die schon erschütterte Schlachtlinie der Preußen zu umklammern, blieb nur der Rückzug übrig. Als einer der letzten verließ Scharnhorst das Schlachtfeld, zu Fuß, wie ein gemeiner Musketier, denn sein Pferd war ihm erschossen worden, aus einer Wunde blutend, deren Schmerzen er nicht empfand: So brannte ihm das Herz vor Scham und rasendem Zorn.

Der Rückzug

Immer war das Heer von Auerstedt nicht so völlig geschlagen wie das Heer von Jena; war ihm der Weg, den es zur Elbe einschlagen wollte, durch Davoust verlegt, so blieb ihm noch die Straße über Artern an der oberen Unstrut, die einzige, auf der es hoffen konnte, die Elbe vor den Franzosen zu erreichen. Aber hier griff wieder der Unverstand des Königs hemmend ein; er sehnte sich nach seinen Hohenlohe und Rüchel, bei denen er Trost in Tränen zu finden hoffte, und befahl den Rückzug auf Jena und Weimar.

Nicht lange, und ihn ereilte die Kunde von dem, was bei Jena geschehen war. Bei Weimar leuchteten schon die Wachtfeuer der siegreichen Franzosen, der Weg nach Erfurt war gesperrt. So bog man nach rechts ab, um über Sömmerda, Nordhausen und den Harz nach Magdeburg zu gelangen. Bei Buttelstedt flossen die Ströme der Flüchtlinge von Jena und Auerstedt zusammen, und nun ging verloren, was die Bataillone, die bei Auerstedt gekämpft hatten, noch an innerem Halt besaßen. Es kam die Nacht, von der Gneisenau später sagte: „Lieber hundertmal sterben, als das noch einmal erleben", von der eine amtliche Darstellung erzählt: „Keiner kannte die Gegend und die Wege; Boten waren nicht aufzutreiben; Infanterie, Kavallerie, Bagagewagen, Geschütze drängten sich zu wirren Klumpen in den tief eingeschnittenen Hohlwegen zusammen. Man hörte aus den dichten Kolonnen heraus Flintenschüsse fallen. Die Nacht war so dunkel, dass man sich an den Patronentaschen der Vordermänner festhalten musste, um nicht abzukommen. Einzelne geschlossen gebliebene Abteilungen, wie das Gardegrenadierbataillon, wurden in die flüchtigen Massen hineingerissen." So wälzte sich die breiartige Masse dahin, stockend und stolpernd bei jedem Schritt und doch mit unaufhaltsamer Schnelligkeit; „die Truppen, die bis dahin so geringes im Marschieren geleistet hatten, erreichten noch in der auf die Schlacht folgenden Nacht Sömmerda, vierzig Kilometer nordwestlich Jena", klagt aus schmerzbewegter Seele ein Nachfahr der Hohenlohe und Rüchel.

Teile der Flüchtlinge waren auf Erfurt abgekommen, doch kapitulierte diese Festung schon in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober, als einige französische Kavallerie vor ihren Wällen erschienen waren. Erfurt wimmelte von Generalen, von denen keiner daran dachte, weder die Truppen aus der Stadt zu ziehen noch sich zu verteidigen; der Feldmarschall Möllendorff brach vor Altersschwäche zusammen und verlor die Besinnung; der Prinz von Oranien, ein naher Verwandter des Königs, diktierte einem Generalstabsoffizier die Bedingungen der Kapitulation in die Feder. 10.000 Mann und sehr große Munitionsvorräte fielen in die Hände des Feindes.

Der große Strom der Flucht ging nun auf dem weiten Umwege über den Harz nach Magdeburg. Voran eilte der König; die Königin hatte die Armee schon am Vorabend von Auerstedt verlassen. Ehe sich Friedrich Wilhelm auf den Weg machte, sandte er am 15. morgens noch einen demütig kriecherischen Brief an Napoleon, worin er sich bereit erklärte, „Alles der Vergessenheit anheimzugeben, was uns entzweite, da doch eigentlich unsere Freundschaft über alle Zweifel erhaben sein sollte. Ew. Majestät werden mich bereit finden, Allem zuzustimmen, was auf immer unsere Einigkeit herstellen kann. Ew. Majestät erhabene Seele und Aufrichtigkeit sind mir zum Voraus sichere Bürgschaften dafür, dass Sie nichts verlangen werden, was gegen meine Ehre und die Sicherheit meiner Staaten ist." Man begreift leicht die Verachtung, womit Napoleon dies Gewimmer gelesen hat; der Flügeladjutant, der den Brief überbracht hatte, musste aus seiner mündlichen Unterredung mit dem Kaiser berichten, dass ihr Resultat „nicht günstig für die Wünsche Ew. Majestät ausgefallen" sei. Das hinderte den König jedoch nicht, am 18. durch Lucchesini einen zweiten Brief ganz desselben Kalibers an den Kaiser zu senden.

Wie von seinem Lombard und Lucchesini, so wollte Friedrich Wilhelm auch von seinen Hohenlohe und Kalckreuth nicht lassen; an Hohenlohe übertrug er das Oberkommando der preußischen Streitkräfte, als er selbst sich aus dem Staube machte. Nur Kalckreuth sollte den selbständigen Befehl über die Truppen behalten, mit denen er bei Auerstedt nicht ins Feuer zu bringen gewesen war! Trotzdem tobte der Neidhart: „Hat der König dem Fürsten das Kommando übergeben, so mag er sehen, was er an ihm hat; ich kümmere mich um nichts mehr." Dabei war er ebenso unfähig wie Hohenlohe; am 15. gab er in Sömmerda den Befehl aus: „Es soll den Truppen Brot gegeben werden, und wenn kein Brot da ist, soll ihnen der Brotgroschen gegeben werden", ein irrsinniges Gestammel, das selbst den preußischen Prinzen August zu der wenigstens logischen Übersetzung veranlasste: Gebt den Leuten Geld, was ihr nicht habt, damit sie Brot kaufen können, wo keins zu kaufen ist. Ebendieser Prinz, ein Bruder Louis Ferdinands, und Blücher hinderten denn auch, dass der Feigling Kalckreuth am 16. mit seinen beiden Divisionen bei Weißensee vor 800 Reitern kapitulierte. Danach verschwand er, jedoch um bald wieder aufzutauchen.

Hohenlohe hatte nun den alleinigen Oberbefehl, aber noch ganz zerrüttet von seiner Niederlage, konnte er nichts retten, wenn wirklich noch etwas zu retten gewesen wäre. In Nordhausen kamen die ärgsten Plünderungsszenen vor; die Befehle der Offiziere wurden von der Mannschaft missachtet oder selbst verhöhnt; die Straßen bedeckten sich mit Nachzüglern; die Desertion nahm von Tag zu Tag zu. Der bittere Hunger trieb nicht nur die Ausländer, sondern auch die Inländer von der Fahne, dazu sicherlich auch die sehr begreifliche Abneigung, sich von diesen Junkern, die nun so gottsjämmerlich geprügelt worden waren, noch weiter gottsjämmerlich prügeln zu lassen. Als es einem Leutnant Hellwig mit fünfzig Husaren gelang, bei Eisenach die Eskorte der 10.000 Kriegsgefangenen von Erfurt zu sprengen und diese zu befreien, weigerten sie sich Mann für Mann, wieder Dienst zu tun.

Einige Ordnung wurde nur bei der schweren Artillerie geschaffen, dreißig Zwölfpfündern, den letzten, die das Heer noch besaß. Sie konnte mit ihren abgetriebenen Pferden die steilen Gebirgswege nicht erklimmen; so wies Scharnhorst ihr die Straße, die den Harz im Westen und Südwesten umgeht. Er selbst behielt sich die Führung der Kolonne vor; als die zu ihrem Schutze bestimmten Mannschaften ausblieben, wandte er sich an Blücher, der noch ein Bataillon und ein gemischtes Kavalleriekommando zur Hand hatte. Am 17. Oktober brachen sie auf; es war derselbe Tag, wo das preußische Reservekorps bei Halle geschlagen wurde und unter schweren Verlusten nach Magdeburg flüchtete, womit für den Feind das letzte Hindernis auf der offenen Straße nach Berlin beseitigt war. Unter großen Strapazen gelangten Blücher und Scharnhorst bis Wolfenbüttel, wo sie den Herzog von Weimar trafen, den die Nachricht von der Niederlage bei Jena aus seinen abenteuerlichen Rekognoszierungsfahrten im Thüringer Walde aufgeschreckt hatte. Er hatte sich an Erfurt vorüber in schnellen Märschen über Langensalza und Mühlhausen nach Heiligenstadt gewandt, von wo er dieselbe Straße erreichte, die Blücher und Scharnhorst mit ihrer Artilleriekolonne zogen. Der Herzog hatte immer noch 11.000 Mann mit sich. Auf Blüchers Vorschlag gab er die Absicht auf, nach Magdeburg zu ziehen; wollten sie noch die Elbe erreichen, so war die größte Geschwindigkeit notwendig; da auch der Elbübergang bei Tangermünde nicht mehr sicher war, marschierten sie auf Sandau; am 24. Oktober überschritten Blücher und Scharnhorst mit ihrer Artilleriekolonne, ein paar Tage darauf der Herzog von Weimar die Elbe.

Hohenlohe seinerseits erreichte Magdeburg am 20. Oktober mit den Trümmern des Heeres, die durch Desertion, beschwerliche Wege, mangelhafte Verpflegung und die drängende Verfolgung des Feindes immer noch so zerrüttet waren wie am Tage nach der Niederlage. In Magdeburg war nichts vorgekehrt, um sie zu erfrischen; es gab weder Brot noch Fourage noch Munition; ein unermesslicher Wagentross versperrte die Straßen, in denen sich schon verkleidete französische Offiziere herumtrieben. Dazu standen die Franzosen bei Wittenberg bereits an der Elbe; nicht mehr hinter diesem Strome, sondern nur noch hinter der Oder war auf einige Ruhe und Sicherheit zu rechnen.

So brach Hohenlohe mit den elenden Resten des Heeres am 21. wieder auf, um über Burg, Genthin, Rathenow, Ruppin und Prenzlau nach Stettin zu marschieren.

Prenzlau und Ratkau

Die drei ersten Märsche von Magdeburg hielten sich ziemlich auf der unmittelbaren Straße nach Stettin. Das war auch absolut notwendig, denn am 23. Oktober waren drei französische Armeekorps schon in Treuenbrietzen, nicht mehr weit von Berlin. Nur wenn Hohenlohe den kürzesten Weg einschlug, starke Märsche nicht scheute und entschlossen jeden Feind angriff, der ihm den Weg versperren wollte, war zu hoffen, dass er seine Truppen noch retten könne.

Allein damit war schon gesagt, dass diese Hoffnung sich niemals verwirklichen würde. Den ersten Fehler machte Hohenlohe, als er am 24., statt von Rathenow nach Friesack zu marschieren, den Umweg über Neustadt an der Dosse machte und dadurch einen vollen Tag verlor. Es geschah auf den Rat Massenbachs, der von irgendeiner seiner geographisch-strategischen Schrullen geplagt wurde.

In Neustadt trafen Blücher und Scharnhorst mit Hohenlohe zusammen. Auf dessen Vorschlag übernahmen sie die Führung der Nachhut, die aus den Trümmern des Reservekorps bestand und durch die Truppen des Herzogs von Weimar verstärkt werden sollte, sobald diese die Elbe überschritten hätten.

Es sollte nicht mehr dazu kommen. Am 25. waren die Franzosen in Berlin eingezogen, und an demselben Tage kapitulierte die Festung Spandau. Sofort nahmen sie die Verfolgung Hohenlohes auf; am 26. schwärmten ihre Reiter schon in der Flanke der preußischen Truppen. Diese waren aufs äußerste abgespannt und ermüdet, blieben am Wege liegen, fluchten ihren Offizieren; es half nichts, dass Hohenlohe einmal einen Soldaten vor der Front erschießen ließ; er musste zu seinem Entsetzen erleben, dass mehrere Soldaten sich selbst das Leben nahmen, weil ihnen der Tod willkommener war als die Fortdauer ihrer Strapazen. Auch Blücher, dem Hohenlohe bei der Annäherung des Feindes befohlen hatte, sich schnell an die Haupttruppe zu ziehen, antwortete unwirsch, „er fürchte die Nachtmärsche mehr als den Feind". Je näher die Mannschaften ihren heimischen Kantons kamen, desto mehr nahm die Desertion zu.

Dennoch waren die Truppen noch nicht völlig verloren, als Hohenlohe am 28. Oktober mit 10.000 Mann Infanterie und 1800 Reitern bei Prenzlau kapitulierte. Die gänzliche Abspannung seiner Leute, die am Tage vorher 14 Stunden marschiert waren, dann schlecht bekleidet die kalte Nacht auf freiem Felde zugebracht hatten, die kindische Gespensterseherei seines Generalstabschefs Massenbach und endlich auch der Hokuspokus, den die französischen Generale mit dem Fürsten selbst trieben, hatten dem armen Tropfe den letzten Rest von Verstand geraubt, ihm und beiläufig auch all seinen Stabsoffizieren, aus deren Kreise sich nicht eine Stimme des Widerspruchs erhob, als er sie um ihre Meinung fragte, ob die Waffen gestreckt werden sollten.

Die Nachhut unter Blücher und Scharnhorst war eben im Begriff, auf Prenzlau zu marschieren, als sie die Nachricht von Hohenlohes Kapitulation erhielt. Ihre Führer entschlossen sich nunmehr, westwärts auszuweichen und, vereint mit dem Heeresteil des Herzogs von Weimar, nach Hannover und Westfalen vorzustoßen, um einen Teil der feindlichen Streitkräfte aus den preußischen Stammlanden zu ziehen, dadurch den endlich mobilgemachten Truppen aus den östlichen Landesteilen und den heranrückenden Russen den Weg frei zu machen. Inzwischen aber hatte der Herzog von Weimar auf Befehl Napoleons seinen Dienst als preußischer General eingestellt, und die von ihm geführten Truppen befanden sich auf dem Wege nach Rostock, um sich hier einzuschiffen. Blüchers Boten fanden sie anfangs nicht, doch durch Zufall kreuzten sich die Marschlinien beider Haufen am 30. Oktober in Mecklenburg-Strelitz, und der General Winning, der Nachfolger des Herzogs von Weimar, stellte sich unter Blüchers Befehle. Dieser hatte jetzt eine Truppenmacht von 22.000 Mann, die freilich innerlich demoralisiert war; es half nur wenig, dass er die Offiziere an der Ehre zu packen suchte und am 31. einen Parolebefehl erließ, worin jedem, der nicht Lust hätte, den Rückzug mitzumachen, freigestellt wurde, umzukehren.

Aussichtslos war das Unternehmen von vornherein. Drei französische Armeekorps in der Stärke von 50.000 Mann hängten sich an die Fersen der ermatteten Schar. Sie wehrte sich tapfer, aber sie konnte gar nicht daran denken, die Elbe zu überschreiten; gelang es ihr nicht, über See zu entkommen, so war ihre Kapitulation unvermeidlich. Bereits am 4. November war sie von der Übermacht nahezu eingekreist, und sie hätte rühmlicher geendet, wenn sie ihren zähen Widerstand nicht noch durch die nutz- und sinnlose Opferung der Stadt Lübeck um einen Tag verzögert hätte.

Am Abend des 5. November warf sich Blücher in die freie Reichsstadt, die weder mit Frankreich noch mit Preußen im Kriegszustande war. Er schrieb sofort 80.000 Brote aus Roggen und Weizen, 40.000 Pfund Rind- und Schweinefleisch, 30.000 Flaschen Wein und Branntwein, 50.000 Dukaten u. a. m. aus und suchte die verfallenen Befestigungen in der Eile auszubessern. Aber am nächsten Nachmittage waren die Franzosen schon Herren der Stadt. Blücher selbst war mit einem Teile seiner Truppen noch einmal entkommen, jedoch schon am nächsten Tage, in der Frühe des 7. November, musste er bei Ratkau die Waffen strecken mit den 7500 Mann, die er noch bei sich hatte.

Das unglückliche Lübeck büßte diesen barbarischen Heroismus mit einer mehrtägigen Plünderung, der die französischen Generale nur mit großer Mühe steuern konnten.

Die Kapitulationen der Festungen

Die Kapitulationen von Prenzlau und Stettin waren die größten, wenn auch nicht die einzigen Waffenstreckungen auf offenem Felde; auch von den Kapitulationen der Festungen können hier nur die wichtigsten registriert werden. Es genügt zu sagen, dass überall – mit wenigen Ausnahmen – die junkerlichen Kommandanten dieselbe feige, verräterische Gesinnung bekundeten.

In Erfurt hatte ein naher Verwandter des Königshauses den Reigen eröffnet, dann folgte Spandau, die Zitadelle Berlins. Wie alles im altpreußischen Staate verfault und verrottet war, so auch die Rüstung der Festungen. Spandau war gar nicht armiert; erst nach dem Verluste der Doppelschlacht hatte man angefangen, einige Geschütze und Ingenieure von Berlin hinzuschicken, aber keine Munition. Am 23. Oktober versprach der Kommandant, ein Major Benekendorf, er wolle dem Feinde nur die Trümmer der Festung überlassen, zwei Tage darauf übergab er sie, ohne dass auch nur ein Schuss gefallen wäre. Ein Kriegsrat, der von ihm einberufen worden war, hatte, mit der einzigen Ausnahme des Ingenieurhauptmanns, für die Übergabe gestimmt.

Am 30. Oktober fiel Stettin. Es war auch nicht auf einen gewaltsamen Angriff vorbereitet gewesen, aber doch seit dem 4. Oktober so in Verteidigungszustand gesetzt worden, dass es gegen einen Handstreich völlig gesichert erschien und erst nach einer dreiwöchigen regelmäßigen Belagerung genommen werden konnte. Die Besatzung bestand aus 100 Offizieren und 5184 Mann; an Geschütz waren 187 völlig brauchbare und 94 für den Notfall noch zu benutzende Stücke vorhanden; Munition und Lebensmittel gab es im Überfluss. Aber der Gouverneur Romberg war ein Mann von 81 Jahren, der sich später darauf berief, dass ihm diese Stellung von dem weisen König als Ruheposten überwiesen worden sei. Als nach der Kapitulation Hohenlohes einige Trupps französischer Kavallerie vor Stettin erschienen und ein französischer Husarenoffizier mit einem Trompeter munter hineinritt, um den Gouverneur zur Kapitulation aufzufordern, erklärte dieser zwar, er werde die ihm anvertraute Festung aufs äußerste verteidigen, aber schon ein paar Stunden darauf war ihm das Herz in die Hosen gefallen, und er verlor alle Fassung, als ein zweiter Parlamentär mit dreisten Drohungen erschien. Ein Kriegsrat wurde nicht gehalten, jedoch die beiden Kommandanten und andere Offiziere stimmten zu. Vor 800 Mann feindlicher Kavallerie und 2 Geschützen streckte die ganze Besatzung die Gewehre: „Die Husaren Ew. Majestät werden von den Toren der Stadt Besitz nehmen", meldete mit blutigem Hohn ein französischer Marschall an Napoleon.

Am nächsten Tage fiel in gleich schmählicher Weise Küstrin, die andere Oderfestung. Auch sie war völlig mit Geschütz und Munition ausgerüstet, Lebensmittel waren für drei Monate herbeigeschafft; die Besatzung genügte, 2400 Mann, darunter 1600 völlig dienstfähige Mannschaften. Kommandant war der Oberst Ingersleben, der es ebenfalls nicht auf einen einzigen Kanonenschuss ankommen ließ, sondern die Festung sofort übergab, als sich die Vorhut einer französischen Division in ihrer Nähe zeigte; selbst das flehentliche Bitten seiner Frau, die ihn noch anhielt, als er sich zu den Franzosen über die Oder setzen lassen wollte, „er möchte seine Familie nicht unglücklich machen", konnte ihn nicht abhalten, sich kopfüber in die Schande zu stürzen. Im Kriegsrat hatte wenigstens ein tapferer Ingenieurleutnant energisch widersprochen. Auch in der Mannschaft gärte es; die Artilleristen auf den Wällen mussten mit Gewalt von den Geschützen entfernt werden.

Am 8. November kapitulierte Magdeburg, nachdem es am 4. und 5. schwach bombardiert worden war. Der Gouverneur v. Kleist war ein Mann von 73 Jahren, ein echt preußischer Junker, der noch am 1. November bramarbasiert hatte, er werde die Stadt nicht übergeben, ehe ihm das Schnupftuch in der Tasche brenne. Schon am 6. ließ er sich auf Verhandlungen mit dem Feinde ein, obgleich Magdeburg bei irgend ernster Gegenwehr nur durch einen förmlichen Angriff erobert werden konnte. Freilich fehlte es auch in dieser stärksten und wichtigsten Festung des Staates an vielem, so fast ganz an Kavallerie und gänzlich an Mineurs. Es war ferner versäumt worden, Vieh in die Stadt zu schaffen, wozu in der reichen Gegend des rechten Elbufers Gelegenheit und Zeit genug gewesen wäre; immerhin war an Getreide und Mehl kein Mangel.

Die Offiziere der Garnison waren nicht alle so feige wie der Gouverneur, und auch viele Mannschaften wollten den „alten Hund von General massakrieren". Kleist wagte nicht, einen förmlichen Kriegsrat zu berufen, zu dem alle Stabsoffiziere der Garnison hätten Zutritt haben müssen; er versammelte nur die in der Stadt anwesenden Generale, und auch denen nahm er die Dinge über den Kopf weg, indem er ihre Einwände barsch zurückwies und sie förmlich zur Unterschrift des Protokolls kommandierte, worin die Kapitulation beschlossen wurde. In die Hände der Feinde fielen 22.000 Mann von allen Waffen, 20 Generale, 800 Offiziere, 700 Kanonen, eine Million Pfund Pulver, 80.000 gefüllte Bomben, Eisen im Überfluss, ein Pontontrain, eine Masse Fahnen und Standarten.

In gleich schmachvoller Weise kapitulierten Hameln in Hannover, Schweidnitz in Schlesien und andere Plätze. Es gab nur wenige Ausnahmen von der Regel dieser ehrlosen Feigheit: Kosel in Schlesien, Graudenz in Westpreußen und namentlich Kolberg in Pommern. Hier kommandierte Gneisenau, ein Mann schon nahe den Fünfzigern, der, armer Teufel von Haus aus, seit Jahrzehnten in kleinen Garnisonen versauert war, aber durch geistige Arbeit sich frisch erhalten hatte und deshalb als „Hauptmann von Kapernaum" den läppischen Spott der strohköpfigen Junker erdulden musste: neben Scharnhorst der einzige Offizier des Heeres, der die moderne Kriegsweise der Franzosen verstand und praktisch anzuwenden wusste.

Später, als die ehrvergessenen und eidbrüchigen Festungskommandanten zur Rechenschaft gezogen wurden, dank namentlich dem energischen Betreiben Scharnhorsts, machten sie allerlei faule Redensarten von den humanen Rücksichten, von denen sie sich hätten leiten lassen. Daraus haben dann die heutigen Junker das Märchen destilliert, das friderizianische Heer sei durch Aufklärung und Humanität verweichlicht worden. Als ob in die hohlen Schädel der Ingersleben und Kleist und Romberg je der Schatten eines Gedankens von Kant oder Lessing oder Schiller gefallen wäre!

Napoleon in Berlin

Ebenso unschuldig waren Aufklärung und Humanität daran, dass die Massen der preußischen Bevölkerung nur ein äußerst bescheidenes Maß von Mitgefühl für die geprügelten Junker bekundeten, und oft genug selbst das gerade Gegenteil von Mitgefühl. Es ist nicht zu melden, dass die sich blitzschnell durch das Land verbreitende Kunde: Die Junker haben gehörige Schmiere gekriegt, das Signal zu einer allgemeinen Landestrauer gegeben hätte.

Nichts komischer, als wenn heute noch ein kommandierender General in die Jeremiade ausbricht: „Statt der Aufwallung eines entrüsteten Nationalgefühls, das zu den Waffen ruft, um die Niederlage des Heeres zu rächen, nehmen wir Gleichgültigkeit, hin und wieder sogar Schadenfreude wahr, vor allen Dingen aber eine das Ehrgefühl beleidigende Unterwerfung unter die Macht der vollendeten Tatsachen … Die große Zahl der Aufgeklärten, zumal in den Städten, fand sich mit betrübender Gewandtheit in die neue Lage der Dinge." Alles das ist vollkommen richtig, nur dass die Aufklärung damit nicht das mindeste zu tun hatte; was hier in die Halme schoss, war allein die Saat der Junker. Die Flut der Pamphlete, die sich jetzt über eine Klasse ergoss, die sich in der Stunde der Gefahr so erbärmlich und feige gezeigt hatte, wie sie in den Tagen einer wohlfeilen Sicherheit hochnäsig und unverschämt gewesen war, mag von sehr zweifelhaftem Werte gewesen sein, aber wie hatten sich die Junker zu beklagen, wenn im Sumpfe, den sie durch eine schamlos eigennützige Interessenpolitik geschaffen hatten, nur Sumpfgewächse gediehen?

Im Übrigen waren sie die ersten, die der städtischen Bevölkerung das Vorbild hündischer Kriecherei vor dem Sieger gaben. Als die erste Kunde von der verlorenen Schlacht am 17. Oktober in Berlin eintraf, ließ der Gouverneur, Graf Schulenburg-Kehnert, der sowohl General wie Minister war, das berühmt gewordene Plakat an die Mauern schlagen: „Der König hat eine Bataille verloren. Die erste Bürgerpflicht ist Ruhe. Ich fordere hierzu alle Einwohner Berlins auf. Der König und seine Brüder leben." Die „Ruhe als erste Bürgerpflicht" ist ein geflügeltes Spottwort geworden, aber die Patrioten, die es gern im Munde führen, spotten keines geringeren als des Königs Friedrich. Denn ebendieses Wort war das A und O seiner gesamten Kriegs- und Staatsweisheit, und Graf Schulenburg ist nur der würdige Jünger des Herrn und Meisters gewesen, als er dies Plakat veröffentlichte.

Dann aber riss der Feigling mit der ganzen Garnison aus und überließ die kostbaren Waffenvorräte des Zeughauses dem Feinde. Sein Nachfolger und Schwiegersohn, ein Graf Hatzfeldt, gebärdete sich schon so, als ob er französischer Gouverneur der Hauptstadt wäre. Ein längeres Proklama, das er am 19. Oktober erließ, ist fast noch charakteristischer als der Anschlag seines Vorgängers. Er warnte vor den „schrecklichsten Folgen, die der mindeste Widerstand oder irgendein unruhiges Benehmen der Einwohner über die Hauptstadt verbreiten würde"; der Überwinder ehre nur ruhige männliche Hingebung im Unglück. „Ich verbiete durchaus alles Zusammenlaufen, alles Schreien auf den Straßen, alle öffentliche Teilnahme an den so verschiedentlich einlaufenden Kriegsgerüchten; denn ruhige Fassung ist dermalen unser Los; unsere Aussichten müssen sich nicht über dasjenige entfernen, was in unseren Mauern vorgeht: dieses ist nur unser einziges höheres Interesse, mit welchem wir uns allein beschäftigen müssen." So am 19. Oktober, als man in Berlin noch nicht mehr wusste, als dass eine Schlacht verloren war.

Als dann Napoleon am 27. Oktober in Berlin eingezogen war, unter großem militärischem Gepränge, leisteten ihm sieben Minister und die ganze Beamtenschaft den Eid der Treue. Das zivile Gerüst des altpreußischen Staates brach noch jämmerlicher zusammen als sein militärisches. Als ein Mann benahm sich unter all den Jammerseelen von adligen Beamten allein der Minister v. Stein, der Berlin am 20. Oktober verließ, aber erst, nachdem er alle Kassen seines Ressorts durch energische und umsichtige Anordnungen gerettet hatte. Wo sollte da die städtische Bevölkerung, gehudelt und unterdrückt, wie sie seit Jahrzehnten war, die Kraft zum Widerstande finden? Dass sich die feilen Literaten, die zwei Monate früher wie besessen den Sieg der preußischen Waffen vorher verkündet hatten, nun vor den wirklichen Siegern in den Staub warfen, verstand sich am Rande; von den Männern mit wirklichem literarischem Namen, deren es freilich nicht viele in Berlin gab, hat es nur einer getan. Der Historiker Johannes Müller, der „deutsche Tacitus", wie man ihn damals nannte, hatte zu den lautesten Kriegsrufern gehört; er sah in Napoleon einen „kleinen Menschen", der nur durch die „Niedergeworfenheit anderer groß" geworden sei; nun pries er „als das höchste Glück, dass der Sieg dem Imperator und einer Nation gegeben ward, welche doch milde Sitten und für Wissenschaften, mehr als andere, Empfänglichkeit und Schätzung hat". Mit diesem einen Überläufer braucht sich das damalige Bürgertum noch gerade nicht zu schämen gegenüber dem Junkertum, das Dutzende und Dutzende von solchen Überläufern aus den höchsten Stellen des Heeres und der Bürokratie gestellt hat.

Man darf auch nicht übersehen, dass in den bürgerlichen Kreisen die Empfindung verbreitet sein musste, mit den französischen Bajonetten käme der historische Fortschritt ins Land. Es ist wieder sehr abgeschmackt, wenn heute ein kommandierender General schreibt: „Man tat jetzt militärischen Dienst für den Fremden, während wenige Jahre vorher jeder Versuch, die Kantonfreiheit der Hauptstadt aufzuheben, als ein schmähliches Attentat auf die Privilegien der Bürgerschaft bezeichnet worden war." Ein solches Attentat war wirklich die Zumutung, dass sich die gewerbtätige Bevölkerung nun auch noch unter die Fuchtel junkerlicher Rüpel begeben solle. Auch tat die Berliner Bürgerschaft nicht „militärischen Dienst für den Fremden", sondern die Sache hing so zusammen, dass Napoleon nach seinem Einzüge in Berlin sofort städtische Behörden einrichtete und die städtische Polizei einer bewaffneten Bürgergarde von 2000 Mann überwies. Das mag nur ein „Schattenspiel" gewesen sein, wie ein bürgerlicher Historiker meint, aber die einheimischen Despoten hatten sich ja nicht einmal zu diesem „Schattenspiel" aufzuschwingen gewagt.

Auf seiner Flucht war der König Friedrich Wilhelm scheu an seiner allezeit getreuen Hauptstadt vorübergestrichen; aus Küstrin richtete er am 25. Oktober einen kriecherischen Brief an Napoleon, worin er wimmerte: „Sie sind zu gerecht, mein Herr Bruder, um mich des unüberlegten Bruchs des Bandes anzuklagen, das meine persönliche Neigung für Sie mir doppelt teuer macht. Sie sind zu groß, als dass das Ergebnis eines einzigen Tages Sie veranlassen könnte, mich geringer zu schätzen. Indem ich den Marquis von Lucchesini in Ew. Majestät Hauptquartier sandte, um dort über den Waffenstillstand und den Frieden zu verhandeln, glaube ich den aufrichtigen Wunsch bekundet zu haben, dass die Beziehungen, wie sie einzig zwischen uns bestehen sollten, wieder aufgenommen werden möchten. Darf ich Ihnen, Sire, ein Geständnis machen? Es schmerzt mich tief, noch ohne Nachrichten über den Empfang zu sein, der den Eröffnungen dieses Ministers bereitet worden ist. Wenn er ein solcher gewesen ist, wie ihn mein Vertrauen zu den Entschließungen Ew. Majestät erwarten lässt, warum bin ich nicht davon unterrichtet worden? Die Rücksendung der russischen Armeen würde die sofortige Folge sein." Wenn der König selbst in so speichelleckerischer Weise an den fremden Eroberer schrieb, so sollten die heutigen Junker mit der damaligen städtischen Bevölkerung nicht gar so hart wegen mangelnden Heldenmuts ins Gericht gehen.

Inzwischen hatten Napoleons Diplomaten mit Lucchesini und Zastrow verhandelt, und am 30. Oktober wurde in Charlottenburg ein Abkommen getroffen, wonach Napoleon alles Land links der Elbe (mit Ausnahme Magdeburgs und der Altmark), hundert Millionen Francs Kontribution und den Verzicht Preußens auf jede föderative Stellung in Deutschland verlangte. Diese Friedensbedingungen waren nicht übermäßig hart, doch fügte ihnen Napoleon mündlich noch hinzu, dass, falls die Russen, die wieder einmal im Kriege mit der Türkei lagen, in die Moldau und Walachei vorrückten, der König seine Truppen mit den französischen Truppen vereinigen solle, um das Osmanische Reich zu verteidigen. Diese Steigerung der französischen Forderungen hatte der edle Hohenzoller wahrscheinlich seinem intellektuell und moralisch gleich unqualifizierbaren Angebote zu danken, seine russischen Bundesgenossen, die Ende Oktober an die preußische Grenze gelangt waren, wieder heimzuschicken, falls Napoleon seinen herzbrechenden Klagen ein geneigtes Ohr liehe.

Der König war inzwischen auf seiner Retirade nach Graudenz gelangt, wo er am 6. November seine Brüder, sechs Generale, darunter Kalckreuth, Schulenburg, Köckeritz, sowie vier Minister, darunter Haugwitz und Stein, zusammenberief, um die französischen Friedensbedingungen zu beraten. Haugwitz, der den Vortrag hatte, erklärte sich sogar für den Eintritt in den Rheinbund, doch wollte die Konferenz davon nichts wissen. Auch die mündliche Bedingung Napoleons lehnte sie ab; in keinem Falle dürfe Preußen sich zum Kampfe gegen Russland verpflichten lassen, auch dann nicht, wenn Russland das Osmanische Reich angreife oder seine Truppen durch die preußischen Provinzen gegen Frankreich marschieren lasse. Aber sonst genehmigte sie den Charlottenburger Vertrag so, wie ihn Lucchesini und Zastrow abgeschlossen hatten.

Am 7. November ging dann ein neuer Jammerbrief des Königs an Napoleon ab. Nachdem er die Grundlagen des Friedens angenommen habe, wünsche er die freundschaftlichen Beziehungen mit Sr. Kaiserlichen Majestät, die eine kurze Spanne des Krieges unterbrochen habe, wieder aufzunehmen. „Es ist süß für mich, mein Herr Bruder, von diesem Augenblick an meinen aufrichtigen Wunsch, sie zu nähren, durch einen Beweis des Vertrauens zu bekunden, und ich glaube ihn Ew. Kaiserlichen Majestät dadurch zu geben, dass ich nicht einmal die Zeichnung des Friedensvertrages abwarte, um den Marsch der russischen Truppen aufzuhalten. Ich bin von dem wärmsten Wunsche beseelt, dass Ew. Majestät in meinen Palästen in einer Weise empfangen und behandelt werde, die Ihnen angenehm sein muss, und ich habe deshalb eifrigst alle die Maßnahmen getroffen, welche die Umstände gestatteten. Möchten sie das Gelingen verbürgen!" Jedoch ehe dieser Bettelbrief in Berlin eintraf, hatten sich die Umstände wesentlich geändert.

Durch die Kapitulationen waren die Gebiete diesseits der Oder jetzt völlig frei von preußischen Feldtruppen, und auch die Oderlinie war nach dem Fall Stettins und Küstrins nicht mehr zu halten. Dazu flammte in Südpreußen und Neuostpreußen ein polnischer Aufstand auf; auch in seinem östlichen Teile brach der altpreußische Staat durch seine Verbrechen in sich zusammen. Die noch vorhandene preußische Feldarmee von 25.000 Mann, die aus den erst am 30. September mobilisierten ost-, süd- und neuostpreußischen Truppen bestand, sank durch die massenhaften Desertionen der polnischen Mannschaften auf etwa die Hälfte ihres Bestandes herab; dazu kam, dass die Russen nunmehr ein sehr dringendes Interesse daran hatten, dass die polnische Insurrektion nicht auf ihre Anteile an dem polnischen Raube übergriffe, und somit gar nicht daran dachten, sich so leichterhand heimwärts schicken zu lassen, wie der König von Preußen in seinen Briefen an Napoleon versprochen hatte.

Für den französischen Kaiser spannte sich danach die Auseinandersetzung mit Preußen in seine größeren Kämpfe mit Russland und namentlich England. Am 10. November verkündete er in einem Bulletin, die französische Armee werde Berlin nicht verlassen, ehe die Pforte gegen russische Angriffe sichergestellt, die Kolonien Spaniens, Hollands und Frankreichs von England zurückgegeben und der allgemeine Friede hergestellt sei. So auch hatte Talleyrand den preußischen Unterhändlern zu eröffnen, erstens, dass diejenigen Länder, die durch das Gesetz des Krieges in die Gewalt des Kaisers gekommen seien, als Kompensation dienen müssten für die Kolonien, die Frankreich, Holland und Spanien an England verloren hätten, und zweitens, dass der Kaiser sich zu keiner Zurückgabe der von ihm eroberten Länder verstehen werde, bevor nicht der Pforte der volle Genuss ihrer Rechte über die Moldau und Walachei wieder eingeräumt worden sei.

Daraufhin ließ Napoleon den preußischen Unterhändlern einen neuen, nicht mehr Friedens-, sondern nur noch Waffenstillstandsvertrag diktieren, der bis zum 21. November in Graudenz vom Könige unterzeichnet sein müsste. Nach diesem Vertrage sollten die preußischen Truppen sich auf Königsberg zurückziehen, der größte Teil Schlesiens und Südpreußens sollte den Franzosen überlassen, ferner sollten ihnen acht preußische Festungen, die noch nicht kapituliert hatten, darunter Danzig, Kolberg, Graudenz, Glogau und Breslau, eingeräumt werden, und endlich sollte der preußische König den Rückmarsch der russischen Truppen in ihre Heimat bewirken. Darüber, was er im Frieden von Preußen verlangen würde, schwieg Napoleon sich ganz aus; was sich schon aus seiner Absicht ergab, Preußen als Pfand für die von England eroberten Kolonien zu behalten. Gleichwohl unterzeichneten Lucchesini und Zastrow auch diesen Waffenstillstandsvertrag am 16. November, und Napoleon sandte seinen Unterhändler, den General Duroc, mit dem Dokument an den preußischen König.

Am 21. November erließ dann Napoleon aus Berlin das bekannte Dekret, das allen Handel und brieflichen Verkehr mit Großbritannien verbot, alle Waren, die aus britischen Manufakturen und Kolonien kamen, der Konfiskation unterwarf und jeden Engländer als Kriegsgefangenen zu ergreifen befahl. Dann verlegte er sein Hauptquartier nach Posen, um seine Anstalten für den Winterfeldzug zu treffen.

Der sächsische Verrat

In Posen vollendete er zunächst das Gericht über die kleinen norddeutschen Fürsten, das er gleich nach Jena begonnen hatte. Er hatte den Kurfürsten von Hessen-Kassel verjagt wegen dessen zweideutigen Benehmens in den Tagen vor Jena, auch das Haus Braunschweig des Thrones für verlustig erklärt zur Strafe für den preußischen Oberbefehl des Herzogs, der inzwischen eines elenden Todes verblichen war. Der Herzog von Weimar war noch gerade mit einem blauen Auge davongekommen, aus Achtung vor seiner Frau, wie Napoleon dem tapferen Helden eröffnen ließ; die Herzogin Luise, die ihr legitimer Gatte über seinen Mätressen schnöde vernachlässigte, hatte dem Eroberer bei seinem Aufenthalte in Weimar durch ihr entschlossenes Verhalten imponiert. Nun wallfahrtete das kleine Fürstenvolk aus dem nördlichen Deutschland nach Posen, um Gnade vor den Augen des Siegers zu finden, und zum dritten Mal begann das ekelhafte Schauspiel des Länderschachers; wieder verschwendete dies fürstliche Gezücht das Gold, das es aus dem Mark und Schweiß seiner Untertanen gemünzt hatte, um sein Hütlein oder sein Krönlein zu retten.

Im Allgemeinen glückte es ihm diesmal besser als bei den beiden früheren Malen. Inmitten der weltumwälzenden Pläne, die Napoleon erwog, behandelte er das ganze Geschäft mit großer Geringschätzung; er begnügte sich damit, dass all diese winzigen Despötlein dem Rheinbunde beitraten und sich im Kriegsfalle zur Stellung eines bestimmten Kontingents bequemten. So verpflichteten sich die sächsischen Herzogtümer Weimar, Gotha, Meiningen, Hildburghausen, Coburg, zusammen 2800 Mann zu stellen. Weimar musste jedoch noch eine Kriegssteuer von 2.200.000 Francs zahlen, womit das arme Ländchen – außer harten Requisitionen, die es schon betroffen hatten – die alberne Soldatenspielerei seines Angestammten allzu teuer büßen musste. Später hat Napoleon wohl ärgerlich gesagt, bei diesem Geschäfte sei er zum ersten Mal betrogen worden; hätte er gewusst, wo die Lippe, Reuß und Waldeck eigentlich säßen, so würden sie ohne alle Redensarten expediert worden sein. Seiner damaligen Nachlässigkeit verdankt heute noch die Landkarte des nördlichen Deutschlands ihr buntscheckiges Aussehen.

Weitaus am besten von all diesen Despoten fuhr der Kurfürst von Sachsen. Im geheimen hatte er längst nach dem fetten Bissen des Rheinbundes gegiert, und die herrschenden Klassen Sachsens waren dabei ganz seiner Meinung; schon am Tage vor der Schlacht vor Jena hatte die „wohldenkende Bürgerschaft" von Leipzig sich entschlossen, sich nicht nur unter allen Umständen ruhig zu verhalten, sondern auch den Feind, wenn er kommen sollte, durch „eine bescheidene und gutmütige Aufnahme" zu ehren. Freilich konnten sich die Pfeffersäcke wohl sorgen, da das erste Ziel der französischen Heersäulen, als sie aus Franken aufbrachen, eben Leipzig war, und all ihre im Voraus zu Protokoll gegebene Untertänigkeit rettete sie auch nicht davor, dass Leipzig vier Tage nach der Schlacht von französischen Truppen besetzt und als „Hauptniederlage der englischen Waren und darum als gefährliche Feindin Frankreichs" schwer gezüchtigt wurde. Alle englischen Waren, die sich in Leipzig fanden, wurden für das französische Heer konfisziert.

Jedoch die alte Eifersucht der Albertiner gegen die Hohenzollern blieb dem Sieger unvergessen. Am Morgen nach der Schlacht bei Jena ließ Napoleon die gefangenen sächsischen Offiziere zu sich entbieten und verkündete ihnen, er habe nur die Waffen ergriffen, um die Unabhängigkeit ihres Landes zu sichern und es vor der Verschlingung durch Preußen zu bewahren. Sachsen solle dem Rheinbunde unter Frankreichs Schutz beitreten; dieser Schutz sei nichts Neues, denn ohne ihn wäre Sachsen seit zwei Jahrhunderten eine Beute Österreichs oder Preußens geworden. Gegen das Ehrenwort, nicht wider Frankreich zu kämpfen, entließ Napoleon die sechstausend gefangenen Sachsen in die Heimat; was an sächsischen Truppen noch bei dem geschlagenen preußischen Heere war, trollte sich dann auf eigene Faust nach Hause.

So viele Güte des Siegers rührte natürlich das Herz des sächsischen Kurfürsten. Er war sofort bereit zum Verrat an seinem bisherigen Bundesgenossen, doch ergab sich noch eine kleine Zögerung dadurch, dass Napoleon aus aufgefangenen Briefen den Verdacht schöpfte, dass der Kurfürst Friedrich August ein doppeltes Spiel spiele. Nie hat sich ein armer Sünder von der Anklage des Vatermordes ängstlicher zu reinigen gesucht, als der Kurfürst von diesem schwarzen Verdachte. Er eilte selbst nach Berlin, doch kostete es viel Schweiß und namentlich viel Geld – nach dem Zeugnis des sächsischen Ministers Senff soll Talleyrand allein eine runde Million erhalten haben –, bis sich Napoleons Miene wieder aufheiterte. Wer war seliger als Friedrich August! „Zweimal", schrieb er voll taumelnden Entzückens, „zweimal stand es in der Hand dieses mächtigen Mannes, mich zu verderben, und er tat es nicht. Dessen werde ich immerdar eingedenk sein." In Posen wurde am 11. Dezember der Vertrag geschlossen, durch den der Kurfürst die Königskrone erhielt, dem Rheinbunde mit einem Kontingent von 20.000 Mann beitrat, schon im gegenwärtigen Kriege eine Hilfstruppe von 6000 Mann gegen Preußen stellte und als Belohnung ein Stück preußischen Landes erhielt, den Cottbuser Kreis.

In Kursachsen aber", schreibt der geborene Sachse Treitschke, „feierte die deutsche Untertänigkeit ihre Saturnalien. Wie fühlte man sich so glücklich, dem stolzen preußischen Nachbarn endlich wieder im Range gleichzustehen! Auf Neujahr 1807 veranstaltete die Stadt Leipzig ein prächtiges Freudenfest zu Ehren der neuen Rautenkrone. Die Sonne Napoleons, das prahlerische Sinnbild, das er von seinem Vorfahren Ludwig XIV. entlehnt hatte, leuchtete weithin durch die geschmückten Gassen. Auf dem Markte prangte der Altar des Vaterlandes; die Studenten rückten in feierlichem Zuge heran und verbrannten dort ihre Fackeln unter dem Jubelgesange: Gerettet ist das Vaterland! Auch die Kadaver in der akademischen Anatomie schlossen sich dem kursächsischen Nationalvergnügen an; eine erleuchtete Inschrift über der Eingangstür verkündete: Selbst die Toten rufen: Lebe!"

Friedrich August aber blieb dem Schwure treu, nie zu vergessen, was er dem „mächtigen Mann" verdanke. So hat sich keiner der Legitimen sonst im Schmutze tiefster Knechtseligkeit vor dem „korsischen Usurpator" gewälzt wie Friedrich August. Dabei muss ihm jedoch als mildernder Umstand angerechnet werden, dass es mit seiner eigenen Legitimität nur so so stand, wie er selbst am besten wusste. Denn den Boten seiner Mutter, der dem Regensburger Reichstage melden sollte, dass sie ihren Erstgeborenen im ehebrecherischen Bette empfangen habe, hielt er wider Gesetz und Recht bis zu dessen Tode auf dem Königstein gefangen.

Jenseits der Weichsel

Inzwischen hatte sich der preußische König über die Annahme der Waffenstillstandsbedingungen zu entscheiden, die ihm der Gesandte Napoleons überbrachte. Er berief wieder eine Konferenz seiner Generale und Minister, ungefähr dieselben, wie früher schon nach Graudenz, diesmal nach Osterode; denn inzwischen war er schon über die Weichsel geflohen.

Die Konferenz tagte am 20. und 21. November. Lucchesini und Zastrow hatten die heimliche Botschaft gesandt, es sei von der größten Wichtigkeit für die Erhaltung Preußens, dass Napoleon überhaupt nur erst einen Vertrag mit diesem Staate unterschreibe und ihn dadurch als solchen anerkenne; geschehe das nicht, so werde er die Vernichtung Preußens beschließen. Stein wies die abgeschmackte Finte mit einer verächtlichen Handbewegung zurück, legte dann die Beweggründe Napoleons richtig dar und fügte hinzu: Preußen habe gar kein Mittel, den Rückzug der Russen durchzusetzen. Ziehe der Zar seine Truppen nicht zurück, so dauere der Krieg eben fort, und die ganze Wirkung des Waffenstillstandes würde sein, dass Preußen seine letzten Festungen darangegeben und seine letzten Truppen aus dem Felde der Entscheidung gebracht habe. Allein so klar diese Ausführungen waren, so stimmten von den elf Teilnehmern der Konferenz sieben für die Genehmigung des Waffenstillstandes, darunter fast alle anwesenden Generale, der edle Kalckreuth an der Spitze; in der Minderheit stimmten mit Stein nur der Minister Voß, der Kabinettsrat Beyme und der Generaladjutant Köckeritz.

Jedoch der König entschied im Sinne der Minderheit und sandte den Boten Napoleons zurück, ohne den Vertrag unterzeichnet zu haben. Deshalb feiern preußische Historiker diesen 21. November als den großen Wendepunkt, wo die Männer sich von den Buben getrennt und mit dem Heldenkönig an der Spitze alle herrlichen Tugenden des altpreußischen Staates wiedergeboren hätten. In diesem Falle ist der patriotische Widersinn geradezu handgreiflich, denn die drei Mitglieder der Konferenz, die mit Stein stimmten, waren mindestens in demselben Maße „Buben" wie die Mehrheit und sonst heftige Gegner Steins: Voß ein märkischer Urjunker, die anderen beiden, neben Haugwitz und Lombard, die eigentlichen Träger der Kabinettspolitik, die nach Jena geführt hatte. Aber sie waren auch Höflinge und stimmten mit Stein, nicht weil sie durch seine Gründe überzeugt worden wären, sondern weil sie wussten, dass der König inzwischen umgestimmt worden war; ihnen gegenüber machte Haugwitz fast noch den Eindruck eines Mannes, da er sich von den Geschäften des Auswärtigen Ministeriums zurückzog, als der König den von ihm befürworteten Beschluss der Mehrheit vom 21. November verworfen hatte.

Was den König umstimmte, war die Ankunft der russischen Truppen an der Weichsel und ein Brief des Zaren voll der inbrünstigsten Freundschafts- und Liebesbeteuerungen, den ihm am 14. November ein Graf Woronzow noch nach Graudenz überbracht hatte. Unter dem russischen Joche fühlte er sich allemal wohler als unter dem französischen. Allein deshalb zog er seine Natur nicht aus. Als Duroc unverrichtetersache nach Posen ins französische Hauptquartier zurückgekehrt war, entließ nunmehr Napoleon die preußischen Unterhändler und sagte dem General Zastrow in der Abschiedsaudienz, das ganze Gewicht der Begebenheiten werde fortan auf Preußen fallen; wenn die Franzosen über die Russen siegten, gebe es keinen König von Preußen mehr. Zugleich gab er ihm einen Brief an den König mit, worin es hieß: „Sie waren imstande, mit einigen Opfern alles ins Reine zu bringen. Sie haben nach dem Würfelbecher gegriffen, die Würfel werden nun entscheiden." Dieser Brief erregte in dem Könige wieder so heillose Angst, dass er statt Hardenbergs, den ihm Stein empfahl, vielmehr ebendiesen Zastrow zu Haugwitzens Nachfolger im Ministerium des Auswärtigen bestellte, also einen Mann, der die Haugwitzische Politik von Anfang bis zu Ende mitgemacht hatte und womöglich ein noch ärgerer Verräter war als Haugwitz selbst.

Das einzige Opfer der angeblichen königlichen Ermannung wurde der einzige Mann in des Königs Umgebung. Stein war zu sehr Franzosenfeind, aus Gründen immerhin, die in seiner historischen Stellung begreiflich waren, als dass er nicht die Gefahren der Russenfreundschaft unterschätzt hätte: Immer aber war er sich klar darüber, dass sich die Franzosen nur mit ihren eigenen Waffen schlagen ließen, dass der altpreußische Staat, wie er sich ausdrückte, überhaupt erst eine Staatsverfassung haben müsse, ehe er auch nur kämpfen, geschweige denn siegen könne. Stein nahm nun die Pläne wieder auf, die er schon im Frühjahr betrieben hatte; er wollte ein wirkliches Ministerium an Stelle der unverantwortlichen Clique setzen, die den Staat aus einer Niederlage in die andere stürzte.

Die Umstände schienen äußerlich günstig zu liegen. Lombard hatte schon im Oktober der allgemeinen Verachtung weichen müssen, allerdings geehrt durch „ein höchst schmeichelhaftes Handschreiben" des Königs; nun war auch Haugwitz gegangen; formell entlassen waren freilich beide noch nicht. So blieben noch die Beyme, Köckeritz und Zastrow zu entfernen, und sie wünschte auch der Zar beseitigt, da sie nach seiner Überzeugung im Interesse Frankreichs ständen. Schwerer fiel für Stein ins Gewicht, dass namentlich Beyme, in dem er gewissermaßen den Kopf des Wurmes sah, nicht nur dem Petersburger Hofe verdächtig und widerwärtig, sondern auch im höchsten Grade der Nation verhasst sei, so dass der König nur durch Beymes Entlassung das Vertrauen seiner Untertanen zurückgewinnen könne.

Auf Beymes Person spitzte sich schließlich der Kampf zu, der sich gerade dadurch als ein Kampf gegen ein System offenbarte, dass Beyme immerhin noch der erträglichste und verständigste der bisherigen Machthaber war. Nach langem und zähem Widerstande bequemte sich der König dazu, eine Art dreiköpfigen Ministerrats einzurichten, worin Rüchel die militärischen, Stein die finanziellen und Zastrow die auswärtigen Angelegenheiten verwalten sollte, doch solle Beyme ständiger Protokollführer dieses Ministerrats sein. Stein lehnte sofort jede Teilnahme an einer solchen Missgeburt ab, doch bestand der König darauf, dass er daran teilnehme, und verfügte demgemäß, sobald etwas zu verfügen war.

Denn im Dezember mussten Hof und Regierung nach Königsberg flüchten; bis auf einige Bruchstücke der östlichen Provinzen gab es nichts mehr zu regieren, und der neue Ministerrat hatte wenig zu tun. Erst am 30. Dezember war eine Sache zu erledigen, die Stein anging. Zur Zeit der Friedens- und Waffenstillstandsverhandlungen hatte der König der Berliner Bank befohlen, 100.000 Taler an das französische Hofmarschallamt zu zahlen, um die Kosten des kaiserlichen Hofhalts in dem eroberten Berlin zu bestreiten; er hatte dabei Stein, den Chef der Bank, nicht um Rat gefragt oder auch nur benachrichtigt. Nun fragte die Bank an, wie es fortan mit der Zahlung gehalten werden solle, und der König sandte das Schreiben an Stein zur Erledigung im Ministerrate. Stein aber erklärte, er gehöre dem Ministerrat nicht an und könne am wenigsten in dieser Angelegenheit einen gutachtlichen Bericht abstatten, da ihm die Gründe der Bewilligung unbekannt seien. In grimmiger Laune fügte er hinzu: „Beispiellos ist es übrigens wohl, dass die Kosten des Hofstaats des Eroberers von dem aus diesen Provinzen gedrängten Monarchen getragen werden sollen", und in einer Randbemerkung spottete er über die Traktierung Napoleons.

Es dauerte einige Tage, ehe die Antwort kam, denn mit der Jahreswende hatte der König auch Königsberg verlassen und war nach Memel geflohen, in die äußerste Stadt der Monarchie. Stein wollte eben dahin folgen, als er am 3. Januar 1807 eine echt königliche Antwort erhielt. Darin gestand der König in seinem holperigen Deutsch – denn seine Muttersprache zu beherrschen war ihm so wenig gegeben wie seinen glorreichen Ahnen –, dass er von jeher einen Widerwillen gegen Stein gehegt, diesen Widerwillen anfangs aber überwunden habe, bis ihn Steins oppositionelle Haltung in den Krisen des verflossenen Jahres wieder erweckt habe. „Aus allem diesem habe ich mit großem Leidwesen ersehen müssen, dass ich mich leider nicht anfänglich in Ihnen geirrt habe, sondern dass Sie vielmehr als ein widerspenstiger, trotziger, hartnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener anzusehen sind, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staats im Auge zu haben, nur durch Kapricen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Hass und Erbitterung handelt. Dergleichen Staatsbeamte sind aber gerade diejenigen, deren Verfahrungsart am allernachteiligsten und gefährlichsten für die Zusammenhaltung des Ganzen wirkt. Es tut mir wahrlich wehe, dass Sie mich in den Fall gesetzt haben, so klar und deutlich zu Ihnen reden zu müssen. Da Sie indessen vorgeben, ein wahrheitsliebender Mann zu sein, so habe ich Ihnen auf gut Deutsch meine Meinung gesagt, indem ich noch hinzufügen muss, dass, wenn Sie nicht Ihr respektwidriges und unanständiges Benehmen zu ändern willens sind, der Staat keine große Rechnung auf Ihre ferneren Dienste machen kann." Auf diesen Wink mit dem Zaunpfahl reichte Stein sofort seine Entlassung ein, die mit trockener Grobheit angenommen wurde: Er war aus den preußischen Diensten gejagt worden wie ein toller Hund.

König Friedrich Wilhelm III. aber zeigte durch dies Schreiben, dass er auf der langen Fluchtreise von Jena bis Memel, auf einer Straße, auf der jeder Meilenstein eine neue Niederlage gesehen hatte, auf der alles verlorengegangen war und zuerst die Ehre, doch ein köstliches Kleinod unversehrt und unverstümmelt gerettet hatte: die ganze strahlende selbstzufriedene Borniertheit des Gottesgnadentums.

Der Feldzug in Ostpreußen

Der Feldzug, der vom Dezember 1806 bis Juni 1807 in den preußischen Landesteilen östlich der Weichsel geführt wurde, war ein Kampf zwischen Franzosen und Russen, bei dem die Preußen eine ganz untergeordnete Rolle spielten; sie stellten den Russen eine kleine Hilfstruppe und verteidigten mit russischer Hilfe die Festung Danzig. Sonst war ihre Beteiligung rein passiv; Ostpreußen wurde aufs grausamste verheert, von den Russen noch viel grausamer als von den Franzosen.

Es ist auch nur chronologisch, nicht historisch richtig, den Feldzug in Ostpreußen als eine Fortsetzung des Feldzuges in Thüringen zu betrachten. In Thüringen war ein feudaler, durch und durch verfaulter Staat von dem Erben der bürgerlichen Revolution zerschmettert worden; vor dem französischen Volksheere war nach einem prahlerischen, aber nicht unwahren Bilde Napoleons das preußische Söldnerheer verschwunden wie der Morgennebel vor der Sonne. In Ostpreußen stieß die erobernde Propaganda der bürgerlichen Revolution unmittelbar zusammen mit den wüsten Eroberungsinstinkten einer asiatischen Despotie. Wohl hatten französische und russische Heere schon in den Revolutionskriegen miteinander gerungen, aber auf italienischem, schweizerischem und mährischem Boden; so Auge in Auge hatten sie sich noch nicht gesehen, als nunmehr, wo ein französisches Heer an der russischen Grenze stand.

Auf beiden Seiten regte sich das unheimliche Gefühl, dass hier Gegner aufeinanderstießen, von denen jeder für den anderen unüberwindlich war. In so rauen und unwirtlichen Gegenden hatten die französischen Truppen noch niemals gekriegt; die Kunst ihrer Tirailleure, die bisher mit ihrem wohlgezielten Feuer die dünnen und langen Linien der Söldnerheere aufzurollen wussten, erlahmte an den festen, endlosen Reihen hintereinander geschichteter Massen der russischen Infanterie, die an alle Unbilden des nordischen Klimas gewöhnt war; Napoleon musste bis zu einem gewissen Grade auf die alte, von ihm überwundene Kriegsweise zurückgreifen, indem er seine Truppen in Winterquartiere legte und zunächst die in seinem Rücken befindlichen Festungen zu brechen unternahm. Auf der anderen Seite war den russischen Machthabern alle Lust vergangen, mit dem revolutionären Feuer zu spielen, als das französische Heer an ihren Grenzen stand. Sie fürchteten nicht nur die Insurrektion in den ehemals polnischen Landesteilen, sondern weit mehr noch, dass Napoleon das russische Volk weit ins Land hinein zum Aufruhr bringen könne, wenn er die Grenze überschritte und den Leibeigenen die Freiheit verspräche.

An Zahl war das französische Heer den russisch-preußischen Truppen weit überlegen: etwa 140.000 gegen 105.000 Mann. Noch weit größer war der Unterschied in der Führung; dem Kriegsmeister Napoleon stand in dem russischen Oberbefehlshaber ein ganz mittelmäßiger Gamaschenknopf gegenüber, General Bennigsen, ein geborener Hannoveraner, der seine Würde vornehmlich der ängstlichen Scheu verdankte, die er als Mörder des Zaren Paul dem Sohne seines Opfers einflößte. Er machte im Januar 1807 einen ungeschickten Vorstoß gegen die Winterquartiere der Franzosen, und Napoleon glaubte nach seiner gewohnten Art die Gelegenheit benutzen und mit einem furchtbaren Gewaltschlage das russisch-preußische Heer bis an oder über die russische Grenze zurückwerfen zu können. Aber nach anfänglichem Zurückweichen stellte sich Bennigsen bei Preußisch-Eylau zur Schlacht; am 7. und 8. Februar 1807 entbrannte der Kampf so mörderisch wie vielleicht noch nie in dieser schlachtenreichen Zeit; schon geriet der rechte Flügel der Russen ins Weichen, als die preußische Hilfstruppe von 6000 Mann, die angeblich von dem schwachsinnigen Junker L'Estocq, tatsächlich aber von Scharnhorst befehligt wurde, gerade noch rechtzeitig eintraf, um ihn zu stützen. Die Schlacht blieb unentschieden; es war die erste, die Napoleon nicht gewann, und obgleich er sie in seinen Bulletins als Sieg ausgab, fielen die Papiere an der Pariser Börse wie nach einer Niederlage.

Fünf Tage darauf sandte der französische Kaiser den General Bertrand an den preußischen König und bot ihm den Frieden an. Er wünsche dem Unglück des Landes ein Ziel zu setzen und die preußische Monarchie wiederherzustellen, die als Zwischenmacht der Ruhe Europas wegen notwendig sei; auf Polen lege er keinen Wert mehr, seitdem er die Polen kenne; sobald der Friede geschlossen worden sei, werde er seine Truppen aus den preußischen Provinzen zurückziehen. Der König aber gab eine abschlägliche Antwort; er werde seinen Bundesgenossen treu bleiben, den Russen wie den Engländern, mit denen er eben Frieden geschlossen hatte.

In den patriotischen Geschichtsbüchern figuriert dieser Handel als schlagender Beweis für die „korsische Tücke" und die „preußische Treue". Es wird dabei unterstellt, dass Napoleon durch gleisnerische Vorspiegelungen die preußische Hilfe habe gewinnen wollen, um erst Russland niederzuwerfen, dann aber Preußen um so ärger zu demütigen, wobei er jedoch an der ritterlichen Gesinnung des preußischen Königs seinen Meister gefunden habe. Es ist nun aber nicht abzusehen, was dem französischen Kaiser an den paar tausend Mann preußischer Hilfstruppen hätte liegen sollen bei der ziffernmäßigen Überlegenheit, die er ohnehin besaß. Der Schlachtensieg stand für ihn ganz außer Frage, da er bis zur besseren Jahreszeit ungleich stärkere Kräfte heranziehen konnte, als die schon bis zum Tode erschöpften Russen und Preußen. Die wirklichen Schwierigkeiten, die er zu überwinden hatte, lagen ganz woanders; sie waren nicht zu beseitigen mit den Hintergedanken, die er bei seinem Friedensantrage gehabt haben sollte, sondern nur auf dem Wege, den er offen mit diesem Antrage beschritt.

Napoleon wollte aus dem Kriege heraus, den er an der russischen Grenze führte, und die preußische Monarchie wollte er wiederherstellen, freilich nicht, um den ostelbischen Junkern oder der Dynastie Hohenzollern ein Gaudium zu bereiten, sondern um das zivilisierte Europa vor dem Drucke der russischen Eroberungswut zu schützen. In ähnlicher Lage war einst König Friedrich seiner Sucht des Länderschachers erlegen: Vor die Wahl gestellt, entweder Polen als europäische Vormauer gegen Russland zu erhalten oder sich selbst die Wucht der russischen Eroberungsgier auf den Hals zu ziehen, hatte er das schlechtere Teil erwählt, so klar er die Folgen durchschaute. Vor dieser selbstmörderischen Politik empfand Napoleon ein natürliches Grauen; der Erbe der bürgerlichen Revolution scheute vor dem großen Sündenfalle zurück, der ihm in seiner Lage sonst nur noch übrig blieb und ihm zum Verhängnis werden musste, wie er ihm tatsächlich zum Verhängnis geworden ist, nämlich mit einem asiatischen Despotismus die Herrschaft über die Welt zu teilen.

Sowenig ihn „korsische Tücke" bei seinem Vorschlage leitete, sowenig wurde er von „preußischer Treue" abschlägig beschieden. Es sei denn, dass man auch von der Keuschheit einer gefälligen Dame reden dürfte, wenn sie dem hundertsten Liebhaber einen Korb gibt, nachdem sie mit neunundneunzig willig geschäkert hat. Der französische Antrag traf in Memel, wie üblich, auf die helle Konfusion. Zastrow als Auswärtiger Minister wollte ihn annehmen, freilich nur aus schlotternder Angst, ohne zu begreifen, um was es sich handelte. Hardenberg aber war dagegen, jedoch auch nur, weil er nicht einsah, dass Napoleons Antrag die Handhabe bot, die einer kräftigen und selbständigen Politik wohl ermöglichen konnte, dem von Grund aus reformierten Preußen eine selbständige Stellung zwischen Frankreich und Russland zu sichern. Hardenberg begriff weder die Notwendigkeit der inneren Reform in dem notwendigen Maße noch auch hatte er sich völlig von der Haugwitzschen Kabinettspolitik frei gemacht, an deren Sünden er allzu reichlichen Anteil gehabt hatte. Vom Baseler Frieden bis kurz vor der Schlacht vor Jena war er ein eifriger Befürworter des französischen Bündnisses gewesen, als eines Gegengewichts gegen den österreichischen Einfluss in Deutschland; jetzt hatte er sich ganz auf die Gegenseite geworfen und schwur auf den österreichisch-preußischen Dualismus als das einzige Heil Deutschlands. Er wollte von einem französischen Bündnis schlechterdings nichts mehr wissen und fand beim Könige umso willigeres Gehör, als dieser vom Zaren ganz und gar eingeseift worden war, von ihm allein die völlige Wiederherstellung des altpreußischen Staats erwartete.

Die Russen waren in weit höherem Grade als die Franzosen auf die preußische Hilfe angewiesen, selbst schon rein militärisch; für sie bedeuteten bereits die paar tausend Mann etwas, die sie bei Preußisch-Eylau vor einer entschiedenen Niederlage gerettet hatten. Dann aber lag ihnen daran, Ostpreußen zu behaupten, was bei einem französisch-preußischen Bündnis unmöglich gewesen wäre. Und zwar wollten sie darin bleiben, um die Provinz zu einer völligen Wüste und so den französischen Heeren das Überschreiten der russischen Grenze unmöglich zu machen. Die russischen Bundesgenossen verheerten die Provinz so entsetzlich, dass die unglücklichen Bewohner auf den Knien das Herannahen der Franzosen erflehten.

Knesebeck, ein höherer preußischer Offizier, schrieb an Scharnhorst und bat ihn, für den Frieden zu wirken: „Die Not und Druck des Landmanns unter dem Kantschu überschreitet alle Grenzen. Die Leute in den mehrsten Dörfern sind so rein ausgeplündert, dass sie sich das wenige, wovon sie leben, von den Kosaken erbetteln müssen. Viele sterben dabei vor Hunger, und man hat in mehreren Dörfern, wo Truppen eingerückt sind, unbegrabene Leichen in den Häusern gefunden … Sie können es mir glauben, man denkt jetzt an nichts anderes, als das Land zu verwüsten und durch diese Wüste sich selbst zu decken … Sie selbst, mein würdigster Freund, können diese russische Wirtschaft und diese Politik, so wie ich sie jetzt durch meinen langen Aufenthalt bei dieser Armee kenne, unmöglich ganz so glauben. Aber was ich Ihnen sage, ist die reinste Wahrheit. Die Menschen wollen nichts tun, als unser Land verwüsten und aussaugen, um sich selbst durch diese Wüste zu decken. Der edle Alexander mag befehlen da hinten, was er will, es wird doch nichts geschehen."

Es geschah auch wirklich nichts, denn der „edle Alexander" hatte nichts Besseres zu tun, als den preußischen König am Narrenseile zu führen. Aus Petersburg ließ er ihm entbieten, eher werde er seine Krone opfern, als zugeben, dass der König ein Sandkorn seines Staates verliere. Dann kam der Zar selbst mit neuen Truppen heran, die er dem Könige in einer Parade vorführte, um ihn dann, wie er es liebte, in einer schauspielerischen Szene vor versammeltem Kriegsvolke zu umarmen und unter Tränen auszurufen: „Nicht wahr, keiner von uns beiden fällt allein? Entweder beide zusammen oder keiner von beiden?" Der blöde Tor von König glaubte das alles und ergrimmte gar sehr gegen Napoleon, dem er eben erst die Stiefel geküsst hatte.

Einstweilen glaubte der zarische Komödiant auch noch an seine Mätzchen. Er wollte noch immer den Heerführer der feudalen Reaktion spielen; am 26. April brachte er mit Hardenberg den Bartensteiner Vertrag fertig als Grundstein einer neuen Koalition. Beide Mächte verpflichteten sich, die Waffen nicht eher niederzulegen, als bis Deutschland befreit und Frankreich über den Rhein zurückgeworfen sei. Das linke Rheinufer sollte durch eine Reihe von Festungen gesichert, Österreich im Südwesten durch Tirol und die Minciolinie geschützt werden; statt des Rheinbundes sollte ein deutscher Bund souveräner Staaten unter der gemeinsamen Führung Österreichs und Preußens entstehen; Preußen sollte natürlich mit Abrundungen und verstärkten Grenzen aus dem Grabe erweckt werden; auch die Vergrößerung des welfischen Hausbesitzes auf deutschem Boden war vorgesehen. Man wollte dadurch England gewinnen, das mit seinen Subsidienzahlungen sehr flau geworden war, nachdem sich Frankreich und Russland ineinander verbissen hatten. Es hatte gar nichts dagegen, dass sich beide Mächte gegenseitig abmatteten; namentlich weigerte sich die englische Regierung, zum größten Kummer des Zaren, einen Pump von sechs Millionen Pfund Sterling zu garantieren, den er auf dem englischen Geldmarkt anzulegen gedachte. Eine dringendere Sorge erwuchs ihm aber noch aus dem wachsenden Widerwillen des russischen Heeres gegen den Krieg. Seit der Schlacht von Eylau waren die kriegerischen Operationen ganz ins Stocken geraten; nur Danzig wurde von den Franzosen belagert, ohne dass Bennigsen einen ernsthaften Versuch machte, die Festung zu entsetzen; sie kapitulierte am 23. Mai. Kalckreuth hatte sie schlecht genug verteidigt, aber da er sich ein paar Monate gehalten hatte, so gewann er doch in dieser Zeit der biblischen Wunder, wo die Mauern preußischer Festungen schon vor einem bloßen Trompetenstoße des Feindes zusammenzubrechen pflegten, eine Art von Ansehen, das er alsbald zum völligen Verderben des preußischen Staats anwenden konnte und auch anwandte.

Der Fall von Danzig veranlasste Bennigsen, einige tölpelhafte Bewegungen gegen den Feind zu machen, der sich inzwischen auf 200.000 Mann verstärkt hatte, während das preußisch-russische Heer sich trotz aller Zuzüge auf höchstens 120.000 Mann belief. Napoleon griff schnell zu, und nun gelang ihm, was ihm im Februar misslungen war; am 14. Juni zersprengte er in der Schlacht bei Friedland das feindliche Heer, das in wilder Flucht bis nach Tilsit zurückwich, dicht an die russische Grenze.

Bennigsen selbst machte nun den Dolmetsch des Heeres, das ungestüm den Frieden verlangte, und schon drei Tage nach der Schlacht bei Friedland sandte der Zar seine Unterhändler an Napoleon, ohne seinen preußischen Bundesgenossen auch nur zu fragen.

Der Tilsiter Friede

Im französischen Hauptquartier fanden die Friedensboten des Zaren bereitwillige Aufnahme; auch Napoleon war des Krieges überdrüssig. Am 21. Juni wurde ein Waffenstillstand zwischen Franzosen und Russen abgeschlossen, von dem jedoch Preußen ausgeschlossen blieb.

Es geschah auf Napoleons Verlangen und nicht etwa, weil man in Memel noch kriegslustig gewesen wäre. Vielmehr waren hier die Köckeritz und Zastrow wieder obenauf; „ich verspreche mir", schrieb Stein, „nichts von den Ingredienzien des Hofes von Memel; es ist eine geistlose, geschmacklose Zusammensetzung, keiner als der faulenden Gärung fähig; ich erwarte mir von leeren, wüsten und platten Leuten nichts". Das eifrigste Bestreben dieser Leute ging dahin, Hardenberg von den Waffenstillstandsverhandlungen fernzuhalten und statt seiner den „alten Bösewicht" Kalckreuth als preußischen Unterhändler ins französische Hauptquartier zu senden.

Es gelang ihnen auch, immerhin mit der Einschränkung, dass Kalckreuth bei den Franzosen anklopfen sollte, ob Hardenberg als Friedensunterhändler genehm sein würde. Umgehend sandte der elende Intrigant einen Adjutanten zurück, der nicht grell genug zu schildern wusste, wie erzürnt Napoleon auf Hardenberg sei; lieber werde der Kaiser noch vierzig Jahre Krieg führen, als mit Hardenberg unterhandeln. Kalckreuth schloss dann am 25. Juni einen Waffenstillstand ab, worin er einwilligte, dass die noch belagerten Festungen während der Waffenruhe nicht mit Lebensmitteln versorgt werden dürften, während er nichts darüber bestimmen ließ, was aus den Besatzungen werden sollte, wenn der Hunger sie in dieser Zeit zur Kapitulation zwänge.

Am selben Tage hatte Napoleon mit dem Zaren die erste Zusammenkunft auf einem Floß, mitten im Memelstrom bei Tilsit. Das Ergebnis ist weltbekannt. Beide beschlossen, sich die Herrschaft über die Welt zu teilen, beide betrogene Betrüger. Napoleons ganzer Groll ergoss sich nun über den preußischen König, der sein zarisches Satrapentum bitter büßen musste und aufs schmählichste von seinem Lehnsherrn verraten wurde. Während der Kaiser und der Zar in Tilsit miteinander schmausten und zechten, wurde Friedrich Wilhelm in allen Ecken und Winkeln herum geknufft, als ein überlästiges Möbel, das jedem im Wege stand.

Immer noch blieb – wenn es erlaubt ist, einen paradoxen Zustand mit einem paradoxen Worte zu kennzeichnen – seine Beschränktheit schrankenlos. Er ließ sich von seiner kläglichen Umgebung dazu breitschlagen, seine Frau nach Tilsit kommen zu lassen, um von Napoleon mildere Friedensbedingungen zu erbitten. Sie hatte ehedem mit schriller Stimme gerufen: Das Ungeheuer muss niedergeschlagen werden! und war dann mit ins Feld gezogen, um dies heroische Programm auszuführen; wenn Napoleon sie dafür in seinen Bulletins mit ein paar derben Wachtstubenwitzen regalierte, so war das nicht großmütig und nicht einmal höflich, aber immerhin auch nicht solch Verbrechen an einer „engelgleichen Gestalt", wie die preußischen Patrioten darin sahen und sehen. Fasste man aber einmal die Sache so tragisch auf, dann war es ein unglaubliches Stück, dass die Königin wirklich in Tilsit erschien und bei Napoleon antichambrierte.

Er spielte diesmal den höflichen Mann, machte galante Redensarten, so viel preußischer Patriotismus irgend begehren mochte. Dann aber lachte er hell auf, als die Kalckreuth und Konsorten ihn darauf festnageln wollten: Das seien Höflichkeitsphrasen, die zu nichts verpflichteten. An seine Frau meldete er: Sie war sehr kokett, aber sei nicht eifersüchtig; dergleichen gleitet an mir ab wie Wasser am Wachstuch.

Er war unerbittlich; wie vorher schon den Waffenstillstand, so weigerte er sich jetzt, gleichzeitig den Frieden mit Preußen und mit Russland zu schließen. Am 7. Juli einigte er sich mit dem Zaren, der nicht nur keinen Verlust an Land und Leuten erlitt, sondern aus der preußischen Beute noch das Gebiet von Bialystok, einen Landstrich von 206 Geviertmeilen und 184.000 Einwohnern, zuerteilt erhielt, ihn auch mit der vollkommenen Seelenruhe des untadeligen Biedermannes annahm. Ja, er blähte sich noch als Wohltäter seines preußischen Satrapen auf, weil sich Napoleon in dem französisch-russischen Friedensvertrage bereit erklärte, „aus Achtung vor dem Kaiser aller Reußen und um den aufrichtigen Wunsch zu betätigen, beide Nationen durch unauflösliche Bande der Freundschaft und des Vertrauens zu verbinden", dem Könige von Preußen einen Teil seine Gebiete zurückzugeben, die in der Urkunde einzeln aufgezählt wurden. Es war die kleinere Hälfte des altpreußischen Staates; entrissen blieben ihm alle Gebiete jenseits der Elbe und die ehemals polnischen Landesteile, die als Herzogtum Warschau dem neuen Könige von Sachsen zuerteilt wurden, der dieses Eigentum als ehedem preußischer Verbündeter in die Tasche steckte, ebenfalls mit der vollkommenen Seelenruhe des untadeligen Biedermannes.

Nach der Einigung zwischen Frankreich und Russland wurde dem preußischen Unterhändler von Napoleon bedeutet, dass der preußische Staat und die hohenzollernsche Dynastie nur seiner Nachsicht und der Freundschaft Russlands ihr ferneres Dasein zu danken hätten. Das Weitere wäre bei Talleyrand zu erfragen, der seinerseits den französisch-preußischen Friedensvertrag mit den Bestimmungen, die schon in der französisch-russischen Urkunde vorhanden waren, und mit dem Bedeuten vorlegte, zu handeln sei weiter nichts, sondern nur zu unterschreiben, und zwar binnen zweier Tage, da der Kaiser sobald als möglich nach Frankreich zurückzukehren wünsche.

Jedoch ertrug Kalckreuths Genialität diese Einengung nicht, ohne sich drei Tage später um so herrlicher zu entladen. Am 12. Juli schloss er mit Berthier, dem Generalstabschef Napoleons, in Königsberg eine Konvention ab, wonach die Räumung der von den Franzosen besetzten Provinzen des preußischen Staates am 20. Juli beginnen und am 1. November vollendet sein solle. Jedoch solle die Räumung erst erfolgen, wenn die dem Lande auferlegten Kontributionen abgetragen worden seien, über deren Höhe weder im Friedensvertrage noch in der Konvention irgend etwas festgesetzt wurde, so dass sie ganz dem Belieben Napoleons überlassen blieb. Erst wenn diese Kontribution abgezahlt wäre, sollten die Einkünfte des Staates wieder in die königlichen Kassen fließen und bis dahin auch die im Lande zurückbleibenden französischen Truppen sämtlich vom Lande verpflegt werden, wobei wiederum dem Belieben Napoleons überlassen wurde, ob es 200 oder 200.000 Mann sein sollten.

Genug, diese Militärkonvention ließ die kleinere Hälfte des Staates, die dem hohenzollernschen Könige zurückgegeben werden sollte, an Händen und Füßen geknebelt in der Gewalt des Eroberers. Ein deutscher Patriot meinte damals, der preußische Unterhändler dieser Konvention gehöre ins Irrenhaus oder an den Galgen. Glücklicherweise wachte aber eine höhere Vorsehung über dem Träger der preußischen Staatsräson. Kalckreuth ist erst im Jahre 1818 als königlich preußischer Generalfeldmarschall und Gouverneur von Berlin, hoch geehrt von seinem dankbaren Könige und Vaterlande, sanft und selig entschlafen.

Schluss

Ins Irrenhaus oder an den Galgen – man wäre versucht, die Geschichte des ostelbischen Junkertums zur Zeit von Jena in dieser Alternative zusammenzufassen. Allein das hieße an der Oberfläche der Dinge haftenbleiben mit moralischen Betrachtungen, die mit historischen Erkenntnissen nichts zu tun haben.

So wie die damaligen Junker waren, so mussten sie sein, dank der furchtbaren Fäulnis, worin der altpreußische Staat verkam. Wenn es kein Bürgertum gab, das ihr Rückgrat brach, so dienten sie wider ihren Willen dem historischen Fortschritt, indem sie durch ihre treulose und verräterische Politik eine Fremdherrschaft heraufbeschworen, die als solche ein historischer Fortschritt war. Graf Posadowsky, immerhin der verständigste der gegenwärtigen preußischen Minister, erfreute und erleuchtete den deutschen Reichstag im vergangenen Winter durch eine Vorlesung über „die politisch und wirtschaftlich fürchterliche Zeit der Franzosenwirtschaft in Deutschland"; etwa in dem Stile, worin eine alte brave Großmutter in der Kinderstube ihren Enkelchen Historie dozieren mag, erläuterte er, „was die Franzosenherrschaft in Deutschland bedeutete an Rechtlosigkeit und Knechtschaft". Nun besteht nirgendwo ein Zweifel an der Unannehmlichkeit der Fremdherrschaft, und gerade von der Seite, gegen die Graf Posadowsky polemisierte, wird bereitwillig anerkannt, dass es tausendmal besser gewesen wäre, wenn eine große deutsche Revolution mit dem feudalen Junker- und Pfaffentum ebenso energischen und kurzen Prozess gemacht hätte wie die große französische Revolution. Allein da das nun einmal nicht geschehen ist und nach den historischen Existenzbedingungen Deutschlands auch nicht geschehen konnte, so ist es allein die napoleonische Fremdherrschaft gewesen, die Deutschland vor dem Schicksale Polens bewahrt hat.

Nicht nur dadurch, dass sie den altpreußischen Staat und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerbrach, sondern auch dadurch, dass sie bürgerliche Reformen einleitete. Wie die napoleonischen Vasallen in den Staaten des Rheinbundes mit solchen Reformen beginnen mussten, so musste es auch der preußische Staat tun, und zwar gezwungen durch die Fremdherrschaft. Es gehört zu den ärgsten Geschichtsfälschungen zu sagen, dass König- und Junkertum, durch die bitteren Erfahrungen von Jena belehrt, in sich gegangen wären und die Bahn der Reformen betreten hätten. Schon die Zeit von Jena bis Tilsit liefert tausendfältigen Beweis dagegen; ein Vierteljahr nach Jena, als Friedrich Wilhelm III. durch einen „ungeheuren, unbegreiflichen" Brief den Freiherrn vom Stein davongejagt hatte, schrieb Niebuhr, der bedeutendste unter den damaligen Historikern: „Nur durch ein solches Maß der Verblendung und des Wahnsinns lässt sich der Gang der Auflösung begreifen, der dieses Land zum Untergange geführt hat." Der König und die Junker sind selbst durch Jena nicht belehrt worden; es war vielmehr Napoleon, der dem Könige nach dem Tilsiter Frieden die Wiederberufung Steins anbefahl.

Man hat diese bei Steins bekannter Franzosenfeindschaft scheinbar unerklärliche Handlungsweise Napoleons aus dem Behagen erklären wollen, das der französische Kaiser empfunden habe, dem von ihm grenzenlos verachteten Preußenkönige einen von diesem eben mit Schimpf und Schande verjagten Minister wieder aufzuzwingen. Möglich, dass ein ähnlicher Gesichtspunkt mitgespielt hat; da Friedrich Wilhelm III. bei seinen Zusammenkünften mit Napoleon in Tilsit unanständig genug gewesen war, auf Stein zu lästern, so wäre es nicht einmal Schadenfreude, sondern eine ganz anständige Regung des französischen Kaisers gewesen, einen so edlen Fürsten durch die Wiederberufung Steins zu strafen.

Indessen ob nun solch ein Gesichtspunkt mitgespielt hat oder nicht, so ist er jedenfalls in dem großen historischen Zusammenhange der Dinge sehr nebensächlich gewesen. Wenn der Erbe der bürgerlichen Revolution die Wiedereinsetzung Steins verlangte, so folgte er einem Gebote der Selbsterhaltung, das sich dann in der Dialektik des historischen Prozesses freilich auch als ein Gebot der Selbstvernichtung erweisen sollte. Denn die bürgerlichen Reformen, die den historischen Rechtstitel seiner Eroberungen bildeten, erweckten auf die Dauer, und um so lebhafter, je weiter sie sich erstreckten, das nationale Bewusstsein der Völker, das im feudalen Kastenstaate nicht erwachen konnte, aber, sobald es einmal erwacht war, das drückende Joch der Fremdherrschaft abschütteln musste.

Diesen historischen Prozess im einzelnen zu schildern würde über den Rahmen dieser Schrift weit hinausführen; hier mag es genügen, die Tatsache festzustellen, dass die Reformen nach Jena allein dem Drucke und Zwange der Fremdherrschaft zu danken gewesen sind, nicht aber dem ostelbischen Junkertum, das diese Reformen und ihre Träger, wie viel oder wie wenig an ihnen war, mit dem giftigsten, kein noch so schlechtes und noch so schändliches Mittel verschmähenden Hasse bekämpft hat.

Unter dem zähesten Widerstande des Junkertums hat sich noch jeder historische Fortschritt auf deutschem Boden vollzogen, und ehe die Nation nicht diesen Alp aus ihrem Nacken geschüttelt hat, ermangelt sie des historischen Rechts, sich zu den großen Kulturvölkern des zwanzigsten Jahrhunderts zu zählen.

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