Franz Mehring 19060000 Jena und Tilsit

Franz Mehring: Jena und Tilsit. Ein Kapitel ostelbischer Junkergeschichte

1906

[Franz Mehring: Jena und Tilsit. Ein Kapitel ostelbischer Junkergeschichte, Leipzig 1906, S. 1-120. Nach Gesammelte Schriften, Band 6, S. 7-151]

In der deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts sind die historischen Schicksalstage nicht die Schlacht bei Leipzig und nicht die Schlacht bei Sedan, sondern der 14. Oktober 1806, als der altpreußische Staat von dem Erben der bürgerlichen Revolution in tausend Trümmer zerschmettert wurde, und der 18. März 1848, als proletarische Barrikadenkämpfer die feudalen Garderegimenter aus der preußischen Hauptstadt trieben.

An diesen Tagen erhielt die ostelbische Junkerherrschaft, die als erstickender Alp auf dem deutschen Kulturleben lastet, entscheidende, wenn auch noch keine vernichtenden Schläge. Entscheidende Schläge, denn sie hat nach der Schlacht bei Jena die friderizianische Herrlichkeit so wenig wiederherstellen können, wie nach dem Berliner Barrikadenkampfe die vormärzliche Herrlichkeit. Aber noch keine vernichtenden Schläge, denn weder im Jahre 1806 noch im Jahre 1848 ist ihr das Heft gänzlich aus der Hand gewunden worden.

In wechselnden Formen haben sich die ostelbischen Junker immer wieder oben gehalten, in erster Reihe dank der mangelnden Kraft oder dem mangelnden Willen des deutschen Bürgertums, dann auch dank der Gunst oder der Ohnmacht der preußischen Krone und nicht zuletzt dank der stierköpfigen Hartnäckigkeit, womit sie jedes Interesse der Nation zertreten, sobald es ihre Klasseninteressen gefährdet. Sie kennen weder Gram noch Scham, weder Bildung noch Kultur, und die angeborene Farbe der Entschließung wird ihnen nie durch des Gedankens Blässe angekränkelt.

Nach dem politischen Bankrott, in den sich die deutsche Bourgeoisie selbstmörderisch gestürzt hat, bläht sich das ostelbische Junkertum um so dreister auf, und es führt heute eine Sprache, wie sie kaum in den Tagen vor Jena erhört gewesen ist. Ja, mit kecker Stirn nimmt es selbst die Schuld an Jena auf sich, indem es diese schimpflichste Niederlage, von der die Geschichte zu erzählen weiß, in einen Kampf bei den Thermopylen verwandelt, in eine glorreiche Opferung der Junker für eine Nation, die durch Aufklärung entnervt und durch Humanität verweichlicht war. Man lese nur die Schrift, die der General v. d. Goltz, der kommandierende General in der Stadt, wo Kant in den Jahrzehnten vor Jena die Aufklärung und die Humanität vertrat, zur hundertsten Wiederkehr des Tages von Jena veröffentlicht hat.

Bezeichnend genug für das deutsche Bürgertum, dass seine Presse solchen junkerlichen Schnurren und Schrullen noch mehr oder minder lärmenden Beifall klatscht. Jedoch diese Toten mögen ihre Toten begraben! Was auf den nachfolgenden Seiten versucht werden soll, ist eben nur, dem deutschen Proletariat die historische Wahrheit über Jena und Tilsit zu vermitteln, das will sagen derjenigen Klasse, die jeden neuen Tag ihre Waffen schärft, um den dritten und diesmal vernichtenden Stoß gegen die ostelbische Junkerherrschaft zu führen.

I.

Der altpreußische Staat

II.

Die Französische Revolution

III.

Die Katastrophe


Quellennachweise

Höpfner, Der Krieg von 1806 und 1807, eine bekanntlich aus den Akten des amtlichen Kriegsarchivs geschöpfte Darstellung, die bereits 1850 erschien, „unparteiisch und ungeschminkt“1, wie Engels sie einmal nennt.

Nicht das gleiche Lob gebührt einer Reihe älterer historischer Werke, die ich benutzt habe: Häusser, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Begründung des Deutschen Bundes; Droysen, Leben Yorcks; Sybel, Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1800; Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert; Bernhardi, Geschichte Russlands; hin und wieder auch Philippson, Geschichte des preußischen Staatswesens vom Tode Friedrichs des Großen bis zu den Freiheitskriegen.

Alle diese Werke sind mehr oder weniger borussifiziert, aber dennoch unentbehrlich, weil ihren Verfassern die amtlichen Archive in Deutschland und zum Teil auch im Auslande zugänglich gewesen sind. Namentlich Sybels Werk muss noch immer benutzt werden, um den Zusammenhang der französischen und der polnischen Zustände im Zeitalter der Revolutionszeit zu verstehen, so tendenziös der Verfasser sowohl nach der französischen wie nach der polnischen Seite verfährt. Immerhin lässt sich die Tendenz bei diesen Historikern mit der nötigen Vorsicht einigermaßen ausschalten, zumal da sie längst verwittert ist und bis zu einem gewissen Grade von selbst abbröckelt.

Bedeutend über dieser Reihe älterer Werke steht eine Reihe historischer Darstellungen aus neuerer Zeit, von denen ich nur die Biographien König Friedrichs von Koser, Gneisenaus von H. Delbrück, Scharnhorsts und Steins von M. Lehmann nennen will. Wenngleich alle diese Autoren den bürgerlich-preußischen Standpunkt nicht verleugnen, so sehen sie die Dinge doch viel ehrlicher, klarer und nüchterner als die Sybel und Treitschke. Namentlich die Biographien Scharnhorsts und Steins enthalten wertvolle Fingerzeige.

Für das erste Kapitel, den altpreußischen Staat, ist außer Koser und Lehmann vielfach die ältere friderizianische Literatur herangezogen worden, doch will ich sie nicht im Einzelnen aufzählen. Ich begnüge mich, auf die kürzlich erschienene zweite Auflage meiner Lessing-Legende zu verweisen, wo ich diese Literatur verzeichnet und mich in einem ausführlichen Vorworte zu den neueren Streitfragen der friderizianischen Forschung geäußert habe.

Von Schriften, die zum Säkulartage von Jena erschienen sind, sei ein Werk des Großen Generalstabs hervorgehoben: 1806, das preußische Offizierskorps und die Untersuchung der Kriegsereignisse. Es ist aus mehr als 600 Aktenbänden des Kriegsarchivs herausgearbeitet worden und bestätigt, was auch sonst schon bekannt war, dass nach Jena verhältnismäßig wenige Bestrafungen von Offizieren stattgefunden haben. Daraus folgt jedoch nicht, wie die patriotische Presse mit einem logischen Kopfsprunge behauptet, dass der Kern des damaligen Offizierskorps gut und tüchtig gewesen sei, sondern vielmehr nur, dass eine Krähe der anderen die Augen nicht aushackt; nur die außerordentliche Laxheit der damaligen Kriegsgerichte, die zum Beispiel Droysen in seiner Biographie Yorcks schon vor sechzig Jahren hervorhob, findet dadurch eine amtliche Bestätigung.

C. Freiherr v. d. Goltz, General der Infanterie: Von Roßbach bis Jena und Auerstedt, ist eine wissenschaftlich wertlose, aber politisch insofern ganz nützliche Schrift, als sie zeigt, dass die ostelbischen Junker zu der Rasse gehören, die nichts lernt und nichts vergisst. In meinem Texte habe ich gelegentlich einen kritischen Blick auf sie geworfen, ihre eigentümlichen Zitierkünste aber näher beleuchtet in der Neuen Zeit, Nr. 43 des laufenden Jahrgangs.