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N. K. Krupskaja 19130400 Die Frage der Arbeitsschule auf der Deutschen Lehrerversammlung zu Berlin

N. K. Krupskaja: Die Frage der Arbeitsschule

auf der Deutschen Lehrerversammlung zu Berlin1

[Erschienen in Swobodnoje Wospitanie 1912/13 Nr. 7, Nachdruck in N. K. Krupskaja Pedagogitscheskie Sotschinenija, Tom 1, Moskwa 1957, S. 183-195, deutsch in Sozialistische Pädagogik, Band 1, Berlin 1967, S. 220-230]

Deutschland gehört zu jenen Ländern, die in letzter Zeit gewaltige Fortschritte auf dem Gebiet der Industrie gemacht haben, und die Frage der Arbeitsschule wurde dort durch den eigentlichen Gang der ökonomischen Entwicklung aufgeworfen. Für Deutschland ist das keine theoretische Frage mehr, sie ist dort zu einer aktuellen Frage geworden.

Es gab eine Zeit, da die Industrie nur den disziplinierten, verlässlichen, gewissenhaften und gehorsamen Arbeiter benötigte. Irgendwelche Initiative wurde von ihm nicht verlangt, einen eigenen Beitrag zu seiner Arbeit leistete er nicht und konnte er nicht leisten, er war nichts weiter als ein lebendiger Automat.

Auch die deutsche Volksschule, in der die heranwachsende Generation der Volksmassen unterrichtet wird, bemühte sich, oft unbewusst, ihre Schüler zu „vorbildlichen“ Arbeitern zu erziehen. Daher dieser ganze, durch Prügel unterstützte schulische Drill, daher die übermäßigen Forderungen nach Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und bis zur Virtuosität entwickelter Sorgfältigkeit. Das nannte man Herausbildung des Charakters, und das betrachtete man als das Allerwichtigste. Die Entwicklung der Individualität des Schülers rückte in den Hintergrund. Wozu auch sollten die Begabungen des Kindes erst entwickelt werden, da es ihnen sowieso bestimmt war zu verkümmern: Wenn der Schüler herangewachsen ist, wird er in die Fabrik gehen und dann monate- und jahrelang irgendwelche einfachen mechanischen Handgriffe ausführen … Doch die Zeiten änderten sich.

Wie Ernst Weber, der Referent zur Frage der Arbeitsschule, auf der Deutschen Lehrerversammlung zu Berlin (im Frühjahr 1912) erklärte, „verlangte der Weltmarkt von den Deutschen einen Bruch mit der Formel: ,Billig und schlecht'. Leistungen, die nicht der Schablone ihre Entstehung verdankten, Produkte, die uns nicht jeder außerdeutsche Arbeiter ohne weiteres nachahmen konnte, Original-, Qualitätsleistungen forderte die neue Zeit.“2

Zur Herstellung derartiger Produkte braucht man bereits einen anderen Arbeiter – den selbständigen, initiativreichen Arbeiter, der ein schöpferisches Element in seine Arbeit zu bringen vermag.

Und so sehen wir, wie sich die deutsche Volksschule unter dem Druck der an die Industrie gestellten Anforderungen zu reformieren beginnt. Die Initiative zu dieser Reform kommt sozusagen von oben. Ein typisches Beispiel dafür ist der Münchener Stadtschulrat Kerschensteiner.

In der „Swobodnoje Wospitanie“ gab es einen diesem Reformer gewidmeten Artikel. Darin wurden die charakteristischen Züge der Reformschule Kerschensteiners hervorgehoben: neben der neuen Methode, die als Grundlage die schöpferische Arbeit einführt, strenge Disziplin und besondere Vorbereitung auf die künftige Berufsbildung.

Kerschensteiners Ziel besteht darin, durch die Arbeitsschule einen Stamm von Arbeitern zu schaffen, die darauf vorbereitet sind, die durch die industrielle Entwicklung gestellte Aufgabe zu erfüllen. Die Entwicklung der Individualität des Kindes ist sozusagen ein Nebenergebnis. Kerschensteiner ist deshalb bereit, zugunsten der Erwerbung von Berufsfertigkeiten auf die allgemeine Entwicklung des Schülers zu verzichten. Deshalb verlangt er auch die Heranziehung von Facharbeitern für den Handfertigkeitsunterricht.

Während aber bei Kerschensteiner immerhin Fragen der Methode im Vordergrund stehen und gerade die Arbeitsmethode das charakteristische Merkmal bildet, das seine Schulen von einer Reihe anderer Schulen unterscheidet, gibt es in Deutschland nicht wenige Anhänger der Arbeitsschule, bei denen die Berufsbildung im Vordergrund steht. Sie setzen die Arbeitsschule mit der Berufsschule gleich. Die Frage, ob die Volksschule eine allgemeinbildende oder eine Berufsschule sein soll, ist alt.

Die allgemeinbildende Schule hat (im Prinzip) die allgemeine Entwicklung des Kindes, die Erweiterung seines Gesichtskreises und die allgemeine Entwicklung seiner Fähigkeiten zum Ziel, sie will es auf das Leben im weitesten Sinne des Wortes vorbereiten und ihm Verständnis für alles v ermitteln, was in seiner Umgebung geschieht.

Die Berufsschule verzichtet auf die allgemeine Entwicklung zugunsten einer mechanischen Ausbildung.

Ziel der allgemeinbildenden Schule ist die menschliche Persönlichkeit, Ziel der Berufsschule der beruflich ausgebildete Arbeiter.

Zwar wurde auch die allgemeinbildende Schule häufig zu einer Art Berufsschule, namentlich in solchen Fällen, wo die Aufmerksamkeit auf die Erziehung der Schüler zu widerspruchslosem Gehorsam, Verlässlichkeit und Sorgfältigkeit konzentriert war, also Eigenschaften, die von den Unternehmern besonders geschätzt wurden. Eine solche Schule hatte nicht die Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes, sondern die Herausbildung eines „vorbildlichen“ Arbeiters zum Ziel. Sie unterschied sich nur dadurch von der Berufsschule, dass sie bestrebt war, geistige Fertigkeiten herauszubilden, wie sie die Großindustrie benötigte, während die Berufsschule danach strebte, mechanische Fertigkeiten herauszubilden.

Trotz einer derartigen Entstellung des Gedankens der allgemeinbildenden Schule hat die Idee an sich nichts von ihrer Eindeutigkeit verloren.

Der fortschrittliche Teil der deutschen Lehrerschaft ist stets für die allgemeinbildende Schule eingetreten.

Die Versammlungen des Deutschen Lehrervereins, der 1871 gegründet wurde und jetzt 124.000 Mitglieder zählt3, haben sich wiederholt gegen die Einführung des Handfertigkeitsunterrichts ausgesprochen. In diesem Sinne äußerten sich die Versammlungen in den Jahren 1875, 1882, 1889 und 1900.4

Die Tatsache, dass die ersten Versuche der Arbeitsschule sehr deutlich von den Zielen der Berufsbildung bestimmt waren, veranlasste den fortgeschrittenen Teil der deutschen Lehrerschaft, zunächst eine fast feindliche Einstellung gegenüber der Arbeitsschule einzunehmen. In der Arbeitsschule sahen sie einen Versuch, durch die Hintertür die Berufsbildung in die allgemeinbildende Schule einzuschmuggeln.

Das Leben forderte in Deutschland immer gebieterischer eine Reform der alten Schule, und die Arbeitsmethode lenkte immer mehr die Aufmerksamkeit auf sich. Die Lehrer begannen sie teilweise in ihren Schulen anzuwenden. Die Arbeitsschule wurde für die deutschen Lehrer zu einer brennenden Tagesfrage.

Jetzt sind die fortschrittlichen Lehrer die Pioniere der von der Berufsausbildung befreiten Arbeitsschule. Der reaktionäre Teil der Lehrerschaft führt dagegen in der Überzeugung, dass die Arbeitsmethode unvermeidlich eine Veränderung des ganzen Systems des Schullebens zur Folge hat und der freien Erziehung Tür und Tor öffnet, einen wütenden Kampf gegen die Arbeitsschule und sieht in ihr eine gewisse Untergrabung der Grundlagen.

Obwohl eine sehr umfangreiche Literatur über die Arbeitsschule vorliegt, herrscht bei vielen jedoch noch Unklarheit über diese Frage.

Im Frühjahr 1912 fand in Berlin eine Deutsche Lehrerversammlung statt. Erster Punkt der Tagesordnung war die Frage der Arbeitsschule.

Auf der Versammlung waren etwa 8000 Personen anwesend, Delegierte von Lehrervereinen aus Österreich, Frankreich, Schweden und Belgien.

Referent zur Frage der Arbeitsschule war Ernst Weber (aus München), ein früherer Gegner, jetzt aber Anhänger der Arbeitsschule.

Seiner Meinung nach beruht die Bewegung für eine Reform der heutigen Schule im Geiste der Arbeitsschule auf folgenden Grundideen.

Der Drang nach Einheit, der die große Kulturbewegung kennzeichnete, spiegelte sich wider in dem Streben nach Einheit innerhalb der einzelnen Menschennatur.

Auch die mannigfachen Kräfte des werdenden Menschen sollten einheitlicher erzogen und gebildet werden, als es bisher der Fall war.

Ein gerechter Ausgleich wurde angestrebt: ein Ausgleich zunächst in der Pflege der seelischen Kräfte.

Die neue Bewegung suchte ihre Aufgabe vor allem in der Überwindung eines extremen Intellektualismus. Nicht der Verstand, nicht das Gedächtnis allein, auch das Gefühlsleben, auch die Phantasie, auch der Wille sollten Berücksichtigung finden. Wer möchte bestreiten, dass dieser Ausgleich nötig war!

Die Wissenschaft vom Seelenleben, die Psychologie, hatte eine Wandlung ihrer Anschauungen erfahren: dem Intellektualismus eines Herbart, der in der Vorstellung das grundlegende Moment der Seele fand, war der Voluntarismus eines Wundt gefolgt: Nicht die Vorstellung, sondern der Reflex, der Trieb, die Lust- und Unlustempfindung wurden die psychischen Urelemente. Seelische Provinzen, die man vordem mehr oder minder brach liegen ließ, forderten neue Kultur.

Es war auch hier ein sozial und national bedingter Gesichtspunkt mitbestimmend, was diese Wandlung in der Wertung der seelischen Kräfte hervorrief: Der Weltmarkt verlangte von den Deutschen einen Bruch mit der Formel: ,Billig und schlecht'. Leistungen, die nicht der Schablone ihre Entstehung verdankten, Produkte, die uns nicht jeder außerdeutsche Arbeiter ohne weiteres nachahmen konnte, Original-, Qualitätsleistungen forderte die neue Zeit.

Die Pädagogik zog ihre Konsequenzen: Soll der werdende Mensch befähigt werden, Eigenartiges zu leisten, so darf seine Eigenart, so dürfen vor allem sein Wollen und Streben nicht systematisch unterdrückt werden. Die Individualität kam zu ihrem Recht. Die Reform brachte nicht nur einen Ausgleich innerhalb der seelischen Kräfte, sie schuf ihn auch innerhalb der aktiven und passiven Formen menschlichen Verhaltens. Man fand, dass die Schüler zu sehr aufnehmende, nachahmende Wesen seien, dass sie mit Stoffen überfüttert würden, und dass diese Stoffmast die geistige Verdauung hinderte, die Schaffenslust erstickte. Man forderte, dass zum Eindruck auch der Ausdruck, zur Rezeptivität auch die Aktivität, zur Nachahmung die Produktion treten müsse. Man verlangte mit besonderem Nachdruck Erziehung zum praktischen Handeln, zur Tat.

Das alte Prinzip der Selbsttätigkeit, das man wohl nie vergessen hatte zu betonen, das man aber bei der Überfülle der Lernstoffe nicht immer entsprechend verwirklichen konnte, forderte wieder energisch Berücksichtigung, ja wird zu einer Art Zentralforderung innerhalb der neuen Bewegung. An Stelle bloßer Mitteilung durch den Lehrer und gedächtnismäßiger Aufnahme durch den Schüler sollte die selbständige Beobachtung treten. Das Wissen sollte übergeführt werden in Können, Kenntnisse sollten Taten erzeugen.

Wahre Selbsttätigkeit wächst aus dem Innern heraus; wahre Eigentätigkeit lässt sich nicht befehlen; wahre Selbsttätigkeit ist verankert im Grundcharakter der menschlichen Natur, im freien Wollen.

Diese Erkenntnis brachte einen Ausgleich auch innerhalb der Erziehungsmittel: einen Ausgleich zwischen Freiheit und Zwang. Denn darauf kam es der Reform vor allem an: die Eigentätigkeit des Kindes in Schwingung zu setzen. Was das Kind impulsiv, was es aus natürlichem Drang, was es aus spontanem Trieb heraus tun möchte, das sollte nicht mehr unterdrückt, das sollte im Gegenteil gepflegt werden. Wahrung der natürlichen Rechte des Kindes! hieß die Losung. Nicht was der Lehrer wollte, dass das Kind wollen sollte, durfte die Richtschnur abgeben, sondern was das Kind aus ureigenem Drang heraus selbst erstrebte. Bei jeder pädagogischen Maßregel, bei der Zielsetzung wie bei der Auswahl der Mittel, sollte sich der Lehrer nur als Vormund des Kindes, nicht als Herrscher fühlen. Bei jedem Schritte, den er tat, sollte er sich fragen, ob das Kind, das er führte, dereinst diesen Schritt aus freier Entscheidung wohl auch tun würde.

Diese Orientierung der gesamten Erziehertätigkeit vom Kinde aus verlangte eine stärkere Berücksichtigung der kindlichen Eigenart. Die moderne Kinderpsychologie hatte gefunden, dass das Seelenleben der Kinder sich in seiner charakteristischen Eigentümlichkeit keineswegs mit dem des erwachsenen Menschen deckt. Sie hatte innerhalb der Altersstufen eine Anzahl von Typen entdeckt, die sich scharf gegeneinander abgrenzten. Besonders aber trat eine psychologische Tatsache immer klarer hervor: die Tatsache, dass das Interesse des Kindes sich mit besonderer Wucht dem Konkreten, dem Sichtbaren und Greifbaren, dem Körperhaften zuwendet, dass der Wirklichkeitssinn des Kindes stärker ist als sein Abstraktionsvermögen, dass das lebendige Leben, die Vollblütigkeit des Tatsachenerlebnisses, das Kind unmittelbarer zu erfassen vermag als die unkörperliche Welt wissenschaftlicher Gedankenverknüpfung.

Wollte man jenes Oberziel, die Pflege der Eigentätigkeit und die Berücksichtigung der kindlichen Eigenart, in rechter Weise erreichen, so durfte man eben diesen Wirklichkeitssinn, diesen Drang nach dem Konkreten, dieses frei Gewollte, nicht unbeachtet lassen, Diese Erkenntnis führte zu neuen Ausgleichen: zu einem Ausgleich zwischen Schule und Leben. Die wirkliche Umgebung, die Heimat, wurde Ausgangspunkt aller didaktischen Maßnahmen. Der Ruf ,Hinaus ins Freie!‘, der einst die Künstler lockte, er gewann neue Bedeutung auch für die Schule. Auch das Draußen strebte nach Anschluss an das Schulleben: Schulgärten, Terrarien und Aquarien gelangten zur Einführung. Einzelne Fächer – Lesen, Schreiben und Rechnen – suchten ihre Ausgangspunkte und ihre Anwendungsmöglichkeiten mehr als bisher in der Wirklichkeit der Alltagserlebnisse. Gleichzeitig strebte man nach einer Anknüpfung der kindischen Tätigkeit an das Spielleben des Kindes. Die Schroffheit des Übergangs sollte gemildert werden, die den kleinen ABC-Schützen beim Eintritt in die Schule verschüchterte und freudlos werden ließ im harten Zwang der neuen Pflicht.

Die Erkenntnis endlich, dass die Eigentätigkeit des Kindes sich mit Vorliebe in der Welt des Konkreten, des Körperhaften, bewegt, brachte zu all den genannten Ausgleichen auch den Ausgleich in der Pflege der menschlichen Organe: Man forderte Vollsinnigkeit der Aufnahmetätigkeit, Vollsinnigkeit in der Anwendung des Gelernten und Erarbeiteten. Nicht nur Ohr und Mund, auch Auge und Hand forderten Kultur. Nicht nur Gesichts- und Gehörsinn, auch der Muskelsinn verlangte Pflege. Der Zeichenunterricht erfuhr seine Umgestaltung, Handarbeit, Werkunterricht, Schülerwerkstätten verlangten Aufnahme in den Unterrichtsbetrieb unserer Schulen. Man erhoffte sich von derartigen Neuerungen neue Ausgleiche zwischen geistiger und körperlicher Bildung und Erziehung. Man sieht darin zugleich einen Ausgleich innerhalb der didaktischen Methoden, einen Ausgleich zwischen Beobachtung, Erarbeitung und Darstellung, eine geistig-körperliche Organisation der gesamten Bildungsarbeit und letzten Endes einen Ausgleich zwischen Abstrakt- und Konkretkultur überhaupt.“5

Ernst Weber sucht also zu beweisen, dass man nur die Entwicklung der Eigenart des Kindes als Ziel zu setzen brauche, und die Logik der Dinge werde unausbleiblich die Notwendigkeit einer Reform im Geiste der Arbeitsschule ergeben. Wer A sage, müsse auch B sagen …

Dem muss man unbedingt zustimmen. Keineswegs zustimmen kann man dagegen Ernst Webers „Theorie des Ausgleichs“. Sie erweckt den Eindruck von etwas äußerst Gekünsteltem. Warum ist die Ablösung des Herbartschen Intellektualismus6, den die Wissenschaft für falsch hielt, durch den Wundtschen Voluntarismus berechtigt, während beispielsweise die Ablösung des Zwangs durch die Freiheit unberechtigt ist und ein gewisser Ausgleich zwischen Freiheit und Zwang gefordert wird? Das alles ist äußerst unbegründet.

Die „Theorie des Ausgleichs“ erweist Ernst Weber einen schlechten Dienst, wenn er auf Grund dieser Theorie die Anhänger der Arbeitsschule kritisiert. Jede den Ausgleich störende Abweichung sei ein Fehler, eine Entstellung der Bewegung.

Für eine solche Entstellung hält Weber die Forderung nach völliger Freiheit in der Schule. Dies sei eine Störung des Ausgleichs zwischen Freiheit und Zwang. Und Weber ist gezwungen, sich auf den schlüpfrigen Weg der Verteidigung des Zwangs zu begeben: „Kinder wollen geführt, geleitet sein“, „es gibt keinen Weg zur Freiheit, der nicht über den Gehorsam führt“, „unsere Schüler haben neben Rechten auch Pflichten“, „das Kind ist vorerst ein unfreies Wesen, bestimmt und beherrscht durch seine Affekte und Begierden, darum ist neben vernünftiger Freiheit auch ein vernünftiger Zwang geboten“, „die Tugenden der Ehrerbietung und des Gehorsams, der Bescheidenheit und der Dankbarkeit sind nicht als Kennzeichen der Schwächen, sondern der Stärke, der Selbstzucht zu werten“.7

Früher hatte Weber erklärt, wahre Selbsttätigkeit sei mit Zwang usw. unvereinbar, als es aber darum ging, dass die Arbeitsschule, damit sich die Individualität des Kindes entwickeln könne, unbedingt eine freie Schule sein müsse, kam er mit der Theorie des Ausgleichs und redete von Dankbarkeit und Ehrerbietung.

Eine ebensolche Störung des Ausgleichs, diesmal zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, sieht Weber in den Ansichten der „Manualisten“.

Darunter verstehe ich jene Reformer“, sagt er, „die in der manuellen Tätigkeit das Allheilmittel für die Schäden unseres Schulbetriebes erblicken; jene Reformer, die in der Handarbeit das beste Erziehungs- und Unterrichtsmittel überhaupt gefunden zu haben glauben, die absolut nötige Grundlage für alle wissenschaftliche, künstlerische und moralische Erziehung; jene Reformer, die nicht nur eine bestimmte Zahl von Wochenstunden für die Erlernung handwerklicher Techniken bereitgestellt haben wollen, sondern auch in allen übrigen Unterrichtsfächern Handarbeit fordern, sei es als Ausgangspunkt für geistige Arbeit oder als Stufe der Übung und Anwendung. Unter Handfertigkeitlern oder Manualisten verstehe ich endlich jene Reformer, die so weit gehen, dass sie einen Handwerker – einen gelernten Schlosser oder Schreiner oder sonst einen Handwerksmeister oder -gesellen in die Volksschule stellen, damit er handwerkstechnische Fertigkeiten vermittelt.“8

Hier wirft Ernst Weber diejenigen, die sich nicht mit einigen Wochenstunden für den Handarbeitsunterricht zufriedengeben und die Handarbeit nicht als besonderes Unterrichtsfach, sondern als unbedingt notwendige Grundlage jeder wissenschaftlichen, künstlerischen und sittlichen Errziehung betrachten, mit denjenigen, die von der Gesamtzahl der Unterrichtsstunden eine möglichst große Zahl für den Werkunterricht abzweigen wollen, in einen Topf. Das sind natürlich zwei grundverschiedene Dinge, aber Ernst Weber ist der Meinung, dass beide von der Norm abweichen und den Ausgleich zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zu stören suchen.

Ernst Weber wendet sich gegen diejenigen, die in ihrer Begeisterung für manuelle Tätigkeit als Methode zu weit gehen, und weist darauf hin, dass bei Verwendung manueller Tätigkeit ein gewisses Maßhalten geboten sei. Nicht unbedingt jeder Lehrstoff müsse manuell erarbeitet werden. Das Kind sei fähig, nicht nur das zu verstehen, was es selbst gestalte. Um den Mechanismus eines Luftschiffs oder einer Lokomotive zu verstehen, sei es nicht notwendig, diese mit eigenen Händen herzustellen. Der Missbrauch der Arbeitsmethode führe zu einer Vergeudung von Zeit und Mitteln.

Ferner ist der Referent der Ansicht, dass die Arbeitsmethode bei einer ganzen Reihe von Unterrichtsfächern, beispielsweise Literatur, Geschichte, Religion usw., nicht anwendbar ist.

Da die Arbeitsmethode auf der Psychologie des Kindes begründet sei, dem nur das Konkrete und Greifbare verständlich sei, so müsse schließlich bei steigender Entwicklung und größerer Abstraktionsfähigkeit des Kindes die manuelle Tätigkeit allmählich in den Hintergrund treten. Die Arbeitsmethode sei nur eine der didaktischen Methoden und nicht die einzig zweckmäßige Methode.

Mit noch größerem Nachdruck wendet sich Ernst Weber gegen jene Arbeitsschulpädagogen, die wie Kerschensteiner einen systematischen fachlichen Arbeitsunterricht in jeder Klasse, von der ersten bis zur achten, fordern. In diesem Zusammenhang zitiert er die Ausführungen Kerschensteiners auf der Dresdner Tagung9 und polemisiert dagegen. Kerschensteiner hatte dort folgendes gesagt: „Die geistigen, sittlichen und manuellen Gewohnheiten, die in ihm erworben werden, übertragen sich unweigerlich auf die manuelle Betätigung in den übrigen Unterrichtsgebieten und verdrängen dort den schädlichen Dilettantismus. Die so erzogenen Kinder lehnen es dann überhaupt ab, Arbeiten, die sie nur unvollkommen erledigen können, auszuführen, und suchen die gleiche Sorgfalt des Ausdrucks, der ihnen im fachlichen Arbeitsunterricht zur Natur geworden ist, auf die ihnen im übrigen Unterricht gestellten Aufgaben zu übertragen, sofern ihre Reife diesen Aufgaben entspricht.“10

Ernst Weber aber ist der Meinung, dass die Kinder nicht reif genug seien, um die Handwerkstechnik zu erlernen. Gute Leistungen erforderten große technische Vollkommenheit. Wie die Erfahrung lehre, seien soll he Leistungen in der Regel ein Produkt der Lehrer- und nicht der Schülerselbsttätigkeit. Durch Drill lasse sich wohl eine gewisse technische Gewandtheit erreichen. Dabei aber werde die Selbsttätigkeit und Eigenart des Schülers unterdrückt, manuelle Tätigkeit werde zur Schablone, zum Mechanismus, zum Manualismus. Manuelle Tätigkeit sei nur als Ausdrucksmittel für das Innenleben des Schülers von Wert. Und von diesem Standpunkt sei es ganz unwichtig, ob eine Sache technisch vollkommen hergestellt sei; wichtig sei nicht der Gegenstand an sich, sondern die innere Arbeit, die der Schüler leiste, während er daran bastle.

Aber selbst bei technischer Vollkommenheit der vom Schüler hergestellten Gegenstände führe das Erlernen irgendeiner Handwerkstechnik nur zu einem teilweisen Ergebnis. Die Erlernung der Technik des Tischlerhandwerks beispielsweise vermittle noch keine Fertigkeiten in der Technik des Buchbinder- oder Schlosserhandwerks usw. Ein Handwerk, dessen Erlernung universale technische Fertigkeiten vermittle, gebe es nicht. Im Schulleben aber seien die mannigfaltigsten Fähigkeiten und Fertigkeiten erforderlich. Die Frage nach der erzieherischen Bedeutung der handwerklichen Tätigkeit und besonders der gemeinsamen Arbeit, die nicht immer durchführbar sei, bleibe nach Webers Meinung offen.

Ohne in das Extrem der Handfertigkeitler zu verfallen, müssen die gesunden Grundgedanken der Reformbewegung für die Arbeitsschule nutzbar gemacht werden.

Die neue Bewegung stellt die deutsche Lehrerschaft vor neue Aufgaben. Um sie erfüllen zu können, müssen die Lehrer auf die Erweiterung ihrer Kenntnisse bedacht sein, vieles gründlich neu durchdenken und klarstellen und für die Entwicklung ihrer eigenen Individualität Sorge tragen.

Der deutsche Lehrer braucht aber auch eine Erweiterung der äußeren Rechte, er braucht eine gewisse Freiheit in der Wahl und Verteilung des Lehrstoffs, in der Kombinierung pädagogischer Methoden usw. Die Reform verlangt, dass der Lehrer der Individualität des Schülers gerecht wird und dass er selbst im Unterricht individuell vorgehen darf. Das alles ist bei einer kleinlichen bürokratischen Regelung des Schullebens durch In Behörden unmöglich.

Zum Schluss unterbreitete der Referent der Versammlung folgende Leitsätze:

1. Die deutsche Lehrerversammlung wendet sich gegen eine ,Arbeitsschule', die manuelle Tätigkeit hauptsächlich um der Handgeschicklichkeit willen und im Hinblick auf einen späteren Beruf fordert, und darum gegen die Einführung des Handfertigkeitsunterrichts als beziehungsloses Fach.

2. Sie erklärt sich jedoch für eine ,Arbeitsschule', die danach strebt, die Arbeit in den Dienst der geistigen Bildung zu stellen, einen wünschenswerten Ausgleich in der Pflege der seelischen Kräfte und der Sinnesorgane herbeizuführen und mehr als bisher dem inneren Erleben, der Lust zum körperhaften Gestalten, der kindlichen Selbsttätigkeit und Eigenart gerecht zu werden.

3. In dieser Ausdeutung lässt sie auch die Handtätigkeit als eines der Mittel gelten, die nach jenem Ziele führen. Sie betont jedoch, dass manuelle Tätigkeit – auch als methodisch dienendes Prinzip – nur in einzelnen Fächern und auf bestimmten Entwicklungsstufen Anwendung finden kann.

4. Mit allem Nachdruck weist die Deutsche Lehrerversammlung darauf hin, dass die unter dem Begriff ,Arbeitsschule' sich sammelnden Reformideen nur dann Reformtaten werden können, wenn dem Lehrer größere Selbständigkeit in Hinsicht auf Masse, Auswahl, Verteilung und Behandlung des Lehrstoffes gewährt wird. Darum fordert sie Fernhaltung eines bürokratischen Aufsichtssystems, das jeder individuellen pädagogischen Arbeit unübersteigbare Schranken in den Weg stellt.“11

Ernst Webers Bericht löste leidenschaftliche Diskussionen aus. Einerseits äußerten die Arbeitsschulgegner Bedenken gegen die Ausführungen des Referenten …

Schließlich nahm die Versammlung mit großer Mehrheit die Leitsätze des Referenten ohne jede Änderung an.

Bedauerlich ist natürlich, dass die Abänderungsanträge der Hamburger und Sachsen12 nicht angenommen wurden, aber auch in der angenommenen Form sind die Leitsätze von großer Bedeutung. Man darf nicht vergessen, dass 124.000 deutsche Lehrer diese Thesen mehr oder weniger gut ihrer Arbeit zugrunde legen werden, dass die Überlegungen der besten von ihnen in dieser Richtung weitergehen werden, dass die Frage der „Arbeitsschule“ eine praktische Basis gefunden hat und dass es sich nicht um einen Einzelversuch, um eine Einzelschule für einige hundert Kinder der wohlhabenden Klasse, sondern um die Volksschule handelt.

Ja, ein Schritt vorwärts ist getan, die kindliche Persönlichkeit tritt in ihre Rechte!

1 Vgl. Bericht über die Deutsche Lehrerversammlung zu Berlin. Pfingsten 1912. Herausgegeben vom Geschäftsführenden Ausschuss des Deutschen Lehrervereins. Kommissionsverlag von Julius Klinkhardt, Leipzig und Berlin.

Über Probleme der Arbeitsschule referierte Dr. Ernst Weber (München). In der Diskussion zu diesem Referat sprachen 8 Redner.

Eine inhaltliche Übersicht über die „Leitsätze und Beschlüsse der Deutschen Lehrertage und Lehrerversammlungen“ gibt C. L. A. Pretzel in: Geschichte des Deutschen Lehrervereins in den ersten fünfzig Jahren seines Bestehens. Leipzig 1921, Seite 235-269.

2 VgI. Bericht über die Deutsche Lehrerversammlung zu Berlin. Pfingsten 1912. Herausgegeben vom Geschäftsführenden Ausschuss des Deutschen Lehrervereins. Kommissionsverlag von Julius Klinkhardt, Leipzig und Berlin, Seite 38.

3 Zur Gründung des Deutschen Lehrervereins und zur Entwicklung der Mitgliederbewegung vgl. C. L. A. Pretzel: Geschichte des Deutschen Lehrervereins in den ersten fünfzig Jahren seines Bestehens. Leipzig 1921, Seite 85-93 und Seite 112/113.

4 Vgl. C. L. A. Pretzel: Geschichte des Deutschen Lehrervereins in den ersten fünfzig Jahren seines Bestehens. A. a. O., Seite 251/252.

5 Bericht über die Deutsche Lehrerversammlung zu Berlin – Pfingsten 1912. A. a. O., Seite 38/40.

6 Vgl. Geschichte der Erziehung. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1966, Seite 252 ff.

7 Ebenda, Seite 42/43.

8 Ebenda, Seite 43.

9 Gemeint ist der Dresdner Kongress für Jugendbildung und Jugendkunde 1911.

Kerschensteiner sprach über den Begriff der Arbeitsschule. Vgl. Erster Deutscher Kongress für Jugendbildung und Jugendkunde zu Dresden am 6., 7. und 8. Oktober 1911. Erster Teil. Die Arbeitsschule. Vorträge und Verhandlungen am Freitag, dem 6. Oktober 1911. Leipzig und Berlin 1912. Die von Ernst Weber zitierten Ausführungen Kerschensteiners vgl. Seite 12.

10 Ebenda, Seite 49.

11 Ebenda, Seite 58/59.

12 Gläser (Hamburg) wendete sich z. B. gegen die im 3. Leitsatz enthaltene Einengung, dass manuelle Tätigkeit „nur in einzelnen Fächern und auf bestimmten Entwicklungsstufen Anwendung finden kann“. Näheres zur Diskussion vgl. Bericht über die Deutsche Lehrerversammlung zu Berlin – Pfingsten 1912. A. a. O., Seite 62-88.

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