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N. K. Krupskaja 19240321 Wie soll man den Leninismus studieren?

N. K. Krupskaja: Wie soll man den Leninismus studieren?1

[Zuerst veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Sputnik Komraunista“ Nr. 1 (April), S. 64-68. Nach N. K. Krupskaja: Das ist Lenin. Eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel. Berlin 1966, S. 466-473]

Man muss lehren, das Wesen des Leninismus zu begreifen

Genossen! Beim Studium des Leninismus ist das Wichtigste natürlich nicht das Merken von Einzelheiten, genauen Bezeichnungen Daten, Originalworten usw. Man muss diejenigen, die sich mit dem Leninismus befassen wollen, lehren, Lenin zu begreifen. Lenin begreifen, den Leninismus verstehen – darin besteht die Hauptaufgabe beim Studium der Werke Lenins.

Einmal kam ich mit Wladimir Iljitsch über das Studium des Marxismus an der Swerdlow-Universität ins Gespräch. Ich hatte ihm einen Bericht der Swerdlow-Universitat vorgelesen, in dem gesagt wurde, mit welcher Begeisterung die Studenten die Werttheorie studieren. Es wurde berichtet, wie ein Student, der die ganze Nacht darüber gestritten hatte, auf welche Weise der Wert definiert werden kann, gegen Morgen so verwirrt war, dass er auf die Straße rannte, den ersten besten Passanten anhielt und ihn danach fragte, wie er den Wert definiere. Als ich das Wladimir Iljitsch erzählte, meinte er, dass sei kein Marxismus, beim Studium von Marx dürfe man nicht lediglich auf Genauigkeit der Definitionen, der Formulierungen nach allen Regeln der Wissenschaft bedacht sein, dürfe man sich nicht in Einzelheiten verlieren. Beim Studium des Marxismus komme es hauptsächlich auf das Verständnis seines Geistes, auf das Verständnis der grundlegenden Ideen an, auf die Fähigkeit, den Marxismus auf die Wirklichkeit anzuwenden.

Notwendig ist ein ernstes Studium des Marxismus

Wenn wir also bestimmen wollen, Genossen, was Leninismus ist, so müssen wir sagen, er ist Marxismus, angewandt auf unsere Wirklichkeit, auf unsere heutige Wirklichkeit. Die Methoden, deren sich Lenin beim Studium dieser Wirklichkeit, bei der Einwirkung auf sie bediente, sind dem Wesen der Sache nach nichts anderes als die Methoden des Marxismus. Wenn Sie also in den Zirkeln, in den Kursen, in denen Sie unterrichten werden, erreichen wollen, dass die Lehrgangsteilnehmer, die Hörer, den Leninismus so gut wie möglich begreifen, dann müssen sie erst einmal erreichen, dass die Teilnehmer begreifen, worin der Marxismus besteht, worauf die marxistische Methode, das marxistische Herangehen an die Wirklichkeit, beruht. Man muss zeigen, wie Marx den Klassenkampf auffasste, man muss zeigen, wie und in welcher Richtung die Entwicklung der Gesellschaft verläuft, wie Marx mit seiner Theorie zur Entwicklung des Klassenkampfes beigetragen hat, wie er der Arbeiterklasse geholfen hat, sich der Aufgaben bewusst zu werden, die die Geschichte ihr gestellt hat. Aus diesem Grund muss man dem Studium des Marxismus, dem Studium seiner Grundlagen, die ernsteste Aufmerksamkeit zuwenden. Die heutige Jugend vergisst sehr häufig diese Seite der Sache, und häufig geht sie an die Untersuchung von Fragen der gegenwärtigen Wirklichkeit nicht vom Standpunkt des Marxismus aus heran, sondern beginnt ganz abstrakt über Kleinigkeiten zu streiten, ohne in das Wesen der Sache einzudringen. Die alte Generation, die durch langes Suchen zum Marxismus gelangt ist, kennt den Marxismus natürlich, die junge Generation aber ist auf anderem Wege zu ihm gekommen. Sie wuchs im Feuer des revolutionären Klassenkampfes heran, und viele Fragen, die einstmals strittig waren, erscheinen ihr bereits als unanfechtbar. Man darf diese Tatsache nicht vergessen, und man muss der jungen Generation zum Verständnis der marxistischen Methode verhelfen, man muss ihr die Weltanschauung des wissenschaftlichen Sozialismus vermitteln, ihr das Rüstzeug in die Hand legen, das ihr helfen wird, sich in der verwickelten heutigen Wirklichkeit zurechtzufinden.

Womit soll man das Studium des Leninismus beginnen?

Wie fängt man die Sache am besten an? Erstens muss man den Kursusteilnehmern eine Vorstellung davon vermitteln, was wissenschaftlicher Sozialismus, was Marxismus ist. Man muss an Hand dessen, wie sich Lenin zu den Grundfragen unserer Wirklichkeit verhielt, zeigen, dass er ein konsequenter Marxist war und dass darin seine Stärke lag. Hier ist es nicht wichtig, mühsam zusammenzusuchen und festzustellen, wie Lenin sich über alle möglichen Detailfragen ausgesprochen hat, wichtig ist nicht, Zitat an Zitat zu reihen, man muss vielmehr das Grundlegende nehmen, das Wesentlichste, das Charakteristischste auswählen und auf diese Weise die Hauptlinie feststellen, die gründlich studiert werden muss.

Wer den Leninismus studiert, der muss sich vor allem eingehend klarmachen, wie Lenin an die Untersuchung und Beurteilung der Erscheinungen der jeweiligen Wirklichkeit heranging.

Lenin war stets bestrebt, sich darüber klarzuwerden, welche Rolle die jeweilige Erscheinung im Gesamtkampf der Arbeiterklasse für das Erreichen ihrer Endideale spielt. Und diese Beurteilung der Erscheinungen, diese Fähigkeit, ihren Platz in der gesamten Kette zu bestimmen, ist für uns außerordentlich wichtig, wenn wir herausfinden wollen, wie die Erscheinungen zu beeinflussen sind.

Man muss die persönlichen Belange berücksichtigen

Weiter, wie soll man das Studium selbst gestalten? Ich stelle mir die Sache wie folgt vor. Außerordentlich wichtig ist es, sich auf den Kursusteilnehmer zu orientieren, seine persönlichen Erfahrungen in Betracht zu ziehen, auf seine emotionellen Erlebnisse Rücksicht zu nehmen. Hat man es mit Bauern zu tun, so ist es wichtig, die Bauernfrage zu nehmen und vor allem zu studieren, wie Lenin zur Bauernfrage stand, wenn es sich aber um Industriearbeiter handelt, die bereits die Bindung zum Dorf verloren haben, so ist es wichtig, die Diktatur des Proletariats und die Rolle der Arbeiterklasse zu behandeln, überhaupt von einem Standpunkt an die Sache heranzugehen, der dem Arbeiter naheliegt. Eben diese Fähigkeit, gerade das auszuwählen, was einen Menschen am meisten interessiert, was am engsten mit seinen persönlichen Erlebnissen, mit seinen Erfahrungen, verbunden ist, ist sehr wichtig.

Ich hatte in letzter Zelt Gelegenheit, mehrere populäre Lenin-Biographien, die für die Bauernmassen bestimmt sind, im Manuskript durchzusehen. Und was zeigte sich? In diesen Biographien wurde sehr eingehend beispielsweise von Parteitagsdebatten, von den Menschewiki usw. gesprochen. Man vergaß nur, von einem zu sprechen: von der Einstellung Lenins zur Bodenfrage. Für Bauern schreiben und nicht auf das eingehen, was diese am meisten interessiert – das ist allerdings eine Schlaubergerei!

Die Erscheinungen sind in ihrer konkreten Situation zur betrachten

Wie soll man den Leninismus studieren? Ich würde zu folgendem raten: Man nehme die Einstellung Lenins zu einer bestimmten Frage im Laufe vieler Jahre und prüfe, wie er diese Frage in verschiedenen konkreten Situationen gelöst hat. So kann man beispielsweise mit der Bauernfrage verfahren. Man sollte untersuchen, weshalb früher von den Bodenabschnitten und von der Rückerstattung der Loskaufzahlungen gesprochen wurde, weshalb dann aber im Oktober 1917 das Dekret über den Boden herauskam, das die Konfiskation aller Gutsländereien und ihre Übereignung an das Volk anordnete. Zu betrachten, welche Formen ein und dieselbe Idee in verschiedenen konkreten Situationen annahm, ist außerordentlich wichtig, wenn man verstehen will, was der Leninismus ist.

Hat man auf diese Weise mit den Kursusteilnehmern die Evolution analysiert, die in der Betrachtung ihnen vertrauter Fragen vor sich gegangen ist, so sollte man, meine ich, eine bestimmte Frage der gegenwärtigen Wirklichkeit wählen und sich bemühen, diese konkrete Frage der Gegenwart allseitig zu beleuchten, an sie mit der gleichen Methode heranzugehen, die Lenin beim Studium der Wirklichkeit anzuwenden pflegte.

Mir scheint, dass ein so beschaffenes Studium der Werke Lenins das geben würde, was angestrebt werden muss, das Verständnis für Lenin, das Verständnis für den Geist seiner Werke, obgleich es wahrscheinlich keine mechanische Detailkenntnis dieser Werke vermitteln würde. So sollte man, denke ich, an das Studium des Leninismus herangehen.

Alle Marxisten, auch Lenin, betrachteten stets jede beliebige Erscheinung in ihrem konkreten Zusammenhang. Mir fällt ein Zitat aus einem Werk ein, das seinerzeit auf unsere Generation großen Einfluss ausgeübt hat. Ich meine die „Historischen Briefe“ Mirtows. Dort heißt es an einer Stelle, jedes Banner, das in einem gegebenen Augenblick revolutionär ist, könne später zu einem reaktionären Banner werden. Wenn wir nun unsere jüngste revolutionäre Vergangenheit betrachten, so sehen wir beispielsweise, wie die Konstituierende Versammlung, die anfänglich eine revolutionäre Losung war, zu einer Losung der Reaktion wurde. Als es zu Anfang noch keinerlei Arbeitermacht gab, als der Zarismus herrschte, da war die Losung der Konstituierenden Versammlung eine Parole, die Kampf für die freie Entwicklung der Arbeiterklasse bedeutete, die ihr die Möglichkeit geben sollte, sich weiter zu organisieren und sich weiter zu entwickeln. Unter der Sowjetmacht aber, nach dem II. Sowjetkongress, bedeutete die Konstituierende Versammlung schon etwas ganz anderes. Sie bedeutete, dass die revolutionäre Macht der Arbeiter und Bauern, die in Gestalt der Sowjets ins Leben gerufen worden war, vor der Konstituierenden Versammlung, der Macht der Bourgeoisie, das Feld räumen sollte, und damit hatte sich eine Losung, die früher einmal revolutionär gewesen war, im nächsten Augenblick als reaktionär erwiesen. Wer den Geist des Kampfes erfasst hatte, wer mit den Endzielen des Kampfes vertraut war und nicht auf den Buchstaben sah, der verstand auch, so wie das die Bolschewiki begriffen, dass die Konstituierende Versammlung im Interesse der Sache der Arbeiterklasse aufgelöst werden musste.

Wer die Erscheinungen außerhalb ihrer konkreten Entwicklungssituation zu betrachten pflegte, der konnte das absolut nicht begreifen und fand hier einen inneren Widerspruch. Indessen kam gerade hierin eine bestimmte Konsequenz zum Ausdruck, eine Folgerichtigkeit, die durch das Endziel des revolutionären Kampfes bestimmt war.

Gerade diese Fähigkeit, eine Tatsache in ihrer konkreten Lage und im Zusammenhang zu betrachten, ist ein Merkmal des Leninismus. Natürlich ist das nichts anderes als die marxistische Methode, aber man muss diese Methode anzuwenden wissen, und das ist das Wertvolle, was der Leninismus zur revolutionären Taktik beigetragen hat, das ist von gewaltiger Bedeutung.

Ferner müssen wir jede Erscheinung, die wir vor uns haben, in ihrer Entwicklung betrachten. Als ich vor der heutigen Versammlung in den Werken von Wladimir Iljitsch blätterte, las ich gerade einen Artikel über die Konstituierende Versammlung noch einmal nach. Wie betrachtete Lenin darin diese Frage? Er untersuchte, wie diese Konstituierende Versammlung geschaffen wurde, wie die Situation überhaupt war, was die Volksmassen dachten, als sie ihre Vertreter wählten und in die Konstituierende Versammlung entsandten, wie hoch damals ihr Bewusstseinsniveau war. Weiter untersuchte er, wie diese Konstituierende Versammlung künftig handeln werde, und gelangte zu dem Schluss, dass die Übergabe der Macht an die Konstituierende Versammlung die Vernichtung der Sowjets, das heißt die Vernichtung der revolutionären Macht der Arbeiter und Bauern, bedeuten würde, Wir sehen, dass Lenin die Erscheinung in ihrer Entwicklung nahm, und dass er auf Grund dessen den richtigen Schluss zog, der die Taktik bestimmte: Man musste die Konstituierende Versammlung auflösen.

Man muss die Wirklichkeit aufmerksam studieren

Lenin bemühte sich stets, möglichst genau zu bestimmen, wo die Grenzen für das wirkliche Vorhandensein einer Erscheinung liegen. Er pflegte das an den eigenen Erfahrungen und an den Erfahrungen der Genossen nachzuprüfen, dann machte er sich mit russischer und ausländischer Literatur vertraut, wobei er analoge Erscheinungen auswählte, zusammenstellte und verglich, um auf diese Weise das eigentliche Wesen der Erscheinung zu ermitteln und klarzustellen, was die betreffende Erscheinung tatsächlich ist. Man kann diese Methode vergleichen mit dem Herangehen eines Künstlers an das Studium der Dinge. Der französische Schriftsteller Flaubert riet seinem Kollegen Maupassant brieflich, die Erscheinungen so zu studieren, dass er sie künstlerisch wiedergeben könne. Flaubert schrieb: Wenn du beispielsweise einen Hauswart oder Droschkenkutscher zutreffend und packend schildern willst, so sieh ihn dir an und bemühe dich, alle die Züge herauszufinden, die diesen Droschkenkutscher oder Hauswart von allen übrigen Hauswarten und Droschkenkutschern unterscheiden, dann kannst du ihn mit zwei oder drei Strichen so fassen, dass sein Bild wie lebendige Wirklichkeit vor dem Leser ersteht. Das waren Ratschläge auf dem Gebiet des künstlerischen Schaffens. Ich glaube aber, dass Marxisten auf genau die gleiche Weise an die Erscheinungen herangehen sollten. Sie müssen die Erscheinungen feststellen, müssen die besonderen Züge aufdecken, die sie herausheben aus einer Reihe analoger Erscheinungen, die wir in der Vergangenheit unseres Landes und in der Gegenwart und Vergangenheit anderer Länder antreffen. So pflegte auch Lenin an die Bewertung der Erscheinungen heranzugehen.

Das Studium der Erscheinungen also, die Feststellung ihrer Besonderheiten, die Ermittlung ihrer spezifischen Bedeutung, ihre Betrachtung im konkreten Zusammenhang und in ihrer Entwicklung bilden jene Eigenheiten des Herangehens an die Wirklichkeit, die den Leninismus charakterisieren.

1 N. K, Krupskaja hielt dieses Referat am 21. März 1924 vor Genossen, die zur Arbeit mit dem Leninaufgebot mobilisiert waren.

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