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Stanislav Bobiński und Karl Radek 19180207 Erklärung der Vertreter der arbeitenden Bevölkerung Polens

Stanislav Bobiński und Karl Radek: Erklärung der Vertreter

der arbeitenden Bevölkerung Polens

verlesen vom Genossen Bobiński bei der Sitzung der politischen Kommission am 7. Februar (25. Januar 1918)

[Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 17, часть 1. Москва-Ленинград, 1926, S. 557-562]

Um die Einheit des Eindrucks zu gewährleisten, werde ich unsere Erklärung vollständig verlesen und dann den originalen deutschen Text präsentieren.

In der Debatte über die Frage Polens erklang die Stimme der direkt betroffenen Partei, nämlich die Stimme des polnischen Volkes, noch nicht. Jetzt erheben wir diese Stimme, die polnischen Teilnehmer der allrussischen Delegation, ich und Genosse Radek. Wir sprechen hier nicht nur als Teilnehmer dieser Delegation, nicht nur als Wortführer des Willens der zwei Millionen Menschen des sogenannten Königreichs Polen, der vom Krieg nach Russland getriebenen Bevölkerung, sondern gleichzeitig als Vertreter des Proletariats des Königreichs Polen. Unser Standpunkt kommt in der folgenden Erklärung zum Ausdruck:

Zusammen mit Belgien und Serbien ist Polen das am stärksten ruinierte und vom Krieg zerrissene Land, es ist nicht nur ruiniert, sondern auch wirtschaftlich ist sein Leben für viele Jahren gestört. Der Krieg trieb zwei Millionen Einwohner Polens nach Russland, und Hunderttausende polnische Arbeiter wurden gewaltsam nach Deutschland gebracht, ohne die Soldaten Galiziens, Schlesiens und Posens zu zählen. Die Bevölkerung Polens war gezwungen, für sage und schreibe drei fremde „Vaterländer" gegen ihre eigenen Brüder und Landsleute zu kämpfen, so dass nun sein Schicksal bei diesen Friedensverhandlungen ohne seine Vertreter und gegen seinen Willen entschieden werden.

Wir, die Vertreter der Bevölkerung des sogenannten Kongress-Polens, die an den Friedensverhandlungen als Teil der Delegation der Russischen Republik teilnehmen, lenken zuerst die Aufmerksamkeit der Herren Anwesenden darauf, dass es hier bei der Friedenskonferenz keine Vertreter der Millionen der werktätigen Massen der Städte und Dörfer Polens gibt, die auf ihren Schultern alle Strapazen und Schrecken dieses Krieges getragen haben und deren Schicksal hier entschieden werden soll.

Die werktätigen Massen Polens, d. h. fast das gesamte polnische Volk, betrachten es als die größte Ungerechtigkeit, dass sie hier keine Gelegenheit haben, ihre Interessen und die Interessen ihres Landes zu verteidigen.

Daher ist die erste Forderung der werktätigen Bevölkerung Polens die Aufnahme ihrer unmittelbaren Vertreter zu diesen Friedensverhandlungen.

Solange die direkten Vertreter Polens nicht an echten Friedensverhandlungen teilnehmen, halten wir es als Sprecher der 2 Millionen starken polnischen Bevölkerung, die durch den Krieg nach Russland vertrieben wurde, für notwendig, hier die echten Wünsche der polnischen werktätigen Massen zu enthüllen, denn nur die polnischen Flüchtlinge äußern dank der russischen Revolution ihre Bedürfnisse und Bestrebungen. Wir tun dies mit umso größerem Recht, als wir gleichzeitig Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens sind, d. h. der Strömung, die die Arbeiterbewegung Polens seit 25 Jahren geführt hat und die, wie der Kongress der Arbeiterorganisationen in Warschau am 29. November 1917 bewiesen hat, jetzt die Mehrheit der Arbeiter besitzt.

Wir erklären, dass wie im sogenannten Kongresspolen die werktätigen Massen Galiziens, wie auch die werktätigen Massen Posens, des preußischen Teils Schlesiens und die Hunderttausenden von Soldaten, die in den Schützengräben umkamen, lautstark fordern:

1) die Vernichtung der nationalen Unterdrückung,

2) die Beseitigung der Polizeisperren zwischen den drei Teilen eines Landes und

3) die Möglichkeit, das Leben des eigenen Landes frei zu organisieren.

Aber wenn die Forderungen der polnischen Bevölkerung Galiziens, Posens und Schlesiens an die Mittelmächte auch mit unseren Bestrebungen übereinstimmen, glauben wir dennoch, dass ihre endgültige Formulierung den unmittelbaren Vertretern der arbeitenden Bevölkerung dieser Bezirke gehört.

Was das so genannte Königreich Polen betrifft, so sind die Forderungen aller Teile der Bevölkerung des Landes so klar und einheitlich, dass sie nicht in Frage gestellt werden können. Sie lauten:

1. Sofortiger Rückzug der Besatzungstruppen und Räumung Polens von allen von den Besatzungsmächten geschaffenen Regierungsorganen, da nur solche Bedingungen dem Volk die Möglichkeit geben, seinen Willen frei auszudrücken.

2. Was den Willen der polnischen Bevölkerung anbelangt, besteht die Hauptforderung der werktätigen Volkes darin, dass dieser Wille die völlige Freiheit der Presse, des Wortes, der Versammlung, der Vereinigung usw. zur Grundlage hat, ohne dass die stärkeren Nachbarstaaten Druck ausüben.

3. Der Wille der Volksmasse Polens kann erst nach der Rückkehr der Flüchtlinge, die durch den Krieg aus dem Land vertrieben wurden, und der gewaltsam nach Deutschland und Russland verschleppten Arbeiter als beschlussfähig anerkannt werden.

4. Die zerstörten Bezirke Polens müssen wieder aufgebaut werden mit den Ressourcen eines internationalen Fonds, der sich aus den Abgaben der besitzenden Klassen aller kriegführenden Länder zusammensetzt.

5. Die Frage der Grenzen wird durch Abstimmung und Vereinbarung mit der Bevölkerung der an dieser Sache interessieren Nachbarländer gelöst.

Die Arbeiterklasse betrachtet wie andere Gruppen der polnischen Bevölkerung die Entfernung der Besatzungstruppen vor den Wahlen und der Abstimmung und die Entfernung aller von den Besatzungsmächten geschaffenen Regierungsorganen als die wichtigste dieser Forderungen. Ohne diese einfache Forderung ist ein dauerhafter und demokratischer Frieden, der nicht auf der offensichtlichen Gewalt der Eroberer beruht, nicht vorstellbar.

Diese Forderung wurde vom Allrussischen Flüchtlingskongress im November 1917, auf einem Kongress der Arbeiterorganisationen in Warschau Ende letzten Jahres, in vielen legalen und illegalen Proklamationen bei Kundgebungen, Treffen und Reden aller Gruppen der polnischen Bevölkerung erhoben. Unter dieser Losung fand Ende Januar dieses Jahres in Warschau ein Generalstreik statt.

Wenn die Mittelmächte diese allgemeine Forderung mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Ordnung in Polen ablehnen, erklären wir, dass die polnischen Massen und insbesondere die Arbeiterklasse Polens in der Lage sind, die Ordnung im Land aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus ist dieses Argument ebenso wie der Hinweis der deutschen Delegation auf die Abneigung, eine Volksrevolution in Polen zuzulassen, ein Eingriff in das innere Leben des Landes, gegen den wir auf das Entschiedenste protestieren, wie überhaupt gegen jede Vormundschaft benachbarter Reiche.

Die Herren Vertreter von Österreich-Ungarn und Deutschland werden in Polen keine mehr oder minder ernste politische Gruppe finden, die es wagen würde, eine andere Losung öffentlich aufzustellen.

Weiter sagen die Herren Vertreter von Österreich-Ungarn und Deutschland, dass Polen bereits über sich selbst bestimmt habe. Darauf antworten wir:

Die Bevölkerung Polens und insbesondere die polnische Arbeiterklasse wurde dazu nie befragt. Außerdem: Die Besatzungsmächte haben im Land ein Regime eingeführt, das die freie Willensäußerung klar ausschließt, weshalb die deutsche Demokratie immer noch nicht weiß, welche Ordnung im besetzten Polen herrscht. Hunderttausende Arbeiter, die Avantgarde der Demokratie, wurden nach Deutschland gebracht; wie das zustande kam ist aus Aussagen der Herren Abgeordneten Trąmpczyński und Korfanty im Reichstag bekannt. Die von ihnen mitgeteilten Tatsachen wurden von der deutschen Regierung bisher nicht widerlegt. Den Arbeitern, die in Polen verblieben, wurde die Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit genommen; die Vorwahlagitation bei den Wahlen zur Warschauer Stadtduma wurde in jeder Hinsicht behindert, und dann wurden die Führer der Arbeiterklasse in deutsche Konzentrationslager gebracht. Der Presse ist es nicht erlaubt, ihre Haltung gegenüber Russland und Deutschland frei zu äußern. In einem in der deutschen Presse veröffentlichten Dekret droht der Polizeichef [polizeymeyster] von Łódź für Streiks mit dem Tode. Arbeiterdemonstrationen werden mit Waffengewalt aufgelöst. Verfolgt werden nicht nur die Arbeiter und Sympathisanten des revolutionären Russlands, sondern auch die Anhänger der Mittelmächte, wenn sie es wagen, in praktischen Dingen ihre eigenen abweichenden Meinungen zu haben, wie es zum Beispiel bei der Verhaftung von Piłsudski, dem Organisator der Legionen, sowie der Legionäre selbst der Fall war, die immer noch in deutschen Konzentrationslagern schmachten.

So konnte die wahre Stimme Polens und insbesondere seiner Arbeiterklasse nicht frei gehört werden. Die wahre Stimmung Polens sollte jedoch in Deutschland bekannt sein, zumindest aus den Parlamentsreden der Herren Abgeordneten Trąmpczyński und Korfanty im Reichstag. Selbst der preußische Minister von Loebell war gezwungen, die Unzufriedenheit der polnischen Bevölkerung mit der Politik Deutschlands öffentlich anzuerkennen.

Man kann nicht bezweifeln, dass die gesamte Bevölkerung Polens, besonders ihr Proletariat, negativ zur Besatzung und den deutschen Plänen für die Zukunft Polens eingestellt ist.

In Polen gibt es zwei Organisationen, die sich auf die Massen stützen: die Bourgeoisie – die sogenannte Volksdemokratie – und die sozialistischen Arbeiterparteien. Und so lehnen die demokratischen und sozialistischen Kreise des Volkes die gesamte Politik der Mittelmächte ab, die Polen angeblich die Freiheit in entscheidender Weise verleiht. Das beweisen die schriftlichen Erklärungen dieser Parteien, Demonstrationen auf den Straßen der polnischen Städte beweisen es. Außerdem: Wir bestätigen, dass es in Polen keine einzige Partei gibt, die dem deutschen Projekt über Polen zustimmen würde. Die in Polen bestehenden Regierungsorgane, die sich wie eine unabhängige polnische Staatlichkeit ausdrücken, sind Institutionen Deutschlands, und besitzen weder das Vertrauen noch die Unterstützung des Volkes, besonders der Arbeiterklasse. Aber auch diese Organe sind zu den deutschen Plänen negativ eingestellt, wie die Wechselfälle mit der Staatsrada beweisen. Die Stimmung der letzten Zeit spiegelte sich in der Rede des polnischen Ministers Staniszewski in Szczypiorno, wo die Legionäre schmachten, deutlich wider.

Nicht weniger akut ist die Frage nach den Grenzen Polens, die Frage, die Deutschland zur Verwirklichung seiner räuberischen Zwecke offen gelassen hat.

Angesichts dessen ist die Behauptung Deutschlands über die bereits erfolgte Selbstbestimmung Polens vollständig unbegründet.

Um unsere Worte zu beweisen, können wir der österreichisch-ungarischen und der deutschen Delegation dokumentarische Daten anbieten, sogar Daten rein offizieller Art, die die echte Haltung Polens zur „Befreiungs"-Politik Deutschlands anschaulich darstellen.

Wenn sich Deutschland von der Richtigkeit unserer Behauptungen und der Echtheit der von uns vorgelegten Dokumente überzeugen will, soll es unsere Hauptforderung erfüllen – die Besatzungsmächte zurückziehen und dadurch den polnischen Werktätigen die Möglichkeit geben, ihren Willen frei zu bekunden.

Wir erklären im Namen des polnischen Proletariats feierlich, dass bisher nur das revolutionäre Russland die wahren Interessen und die Freiheit des polnischen Volkes bewahrt, und dass Polen, wenn es nicht besetzt wäre, bereits jetzt die gleiche Freiheit wie andere Völker Russlands besäße. Die Weigerung Deutschlands, die Truppen aus Polen abzuziehen, und die Absicht, Polen zu einem Instrument der aggressiven Tendenzen Deutschlands zu machen, sind eine verdeckte Annexion und Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens. Gleichzeitig unterstützt diese Politik die polnischen besitzenden Klassen zum Nachteil der Interessen der polnischen Arbeitermassen. Die Zaren-Unterdrückung wurde in Polen durch eine zeitgenössische Unterdrückung ersetzt. Die polnische Arbeiterklasse, die in der Vergangenheit einen heroischen Kampf gegen den Zarismus geführt hat, wird dem niemals zustimmen.

Vertreter der Sozialdemokratie Polens und Litauens

Stanislav Bobiński.

Karl Radek.“

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