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Karl Radek 19200726 Rede in der Debatte über die Nationalitäten- und Kolonialfrage

Karl Radek: Rede in der Debatte über die Nationalitäten- und Kolonialfrage

6. Sitzung des zweiten Weltkongresses der Komintern, 26. Juli

[Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale. Hamburg 1921, S. 160-164]

Auf allen Kongressen der Zweiten Internationale wurden häufige Proteste gegen das Wüten der imperialistischen Regierungen in den Kolonialländern erhoben. Auch jetzt wird auf den Konferenzen der Zweiten Internationale die Kolonialfrage andauernd behandelt, und wir sehen, wie Huysmans, Henderson und Konsorten nach rechts und links den Völkern die Unabhängigkeit austeilen, selbst wenn sie sie gar nicht fordern. Wenn es darum ginge, Proteste gegen die imperialistische Politik in die Welt hinauszuposaunen, die Unabhängigkeit der Kolonialvölker „anzuerkennen”, so wäre unsere Aufgabe eine sehr einfache. Aber auf dem Gebiet des praktischen Kampfes in den Kolonialländern betreten wir einen ganz neuen Boden. Da gilt es nicht nur, die Grundlagen der kommunistischen Politik zu entwerfen, es gilt, sie nicht aus den Fingern zu saugen, sondern aus dem Studium der konkreten kolonialen Verhältnisse zu entwickeln. Es handelt sich darum, wirklich zur praktischen Unterstützung des Kampfes in den Kolonien zu schreiten. Genosse Lenin zitierte einen Ausspruch des Genossen Quelch, der in der Kolonialkommission erklärte: Falls in Indien ein Aufstand ausbrechen sollte, so würde es der jingoistischen Presse gelingen, einen großen Teil der englischen Arbeiter dahin zu beeinflussen, dass sie sich zur Unterdrückung des Aufstandes hergeben. Wenn Queich nur darauf hinweisen will, dass in den englischen Arbeiterkreisen eine starke imperialistische Strömung besteht, so ist das eine Tatsachenfrage; sollte aber diese Feststellung dazu führen, dass sich unsere englischen Genossen, bei einem kolonialen Aufstande passiv verhalten sollten, dass sie sich sagen würden, man dürfe wegen dieser Stimmung nichts weiter tun als Protestresolutionen annehmen, so konnte man sagen, dass die Kommunistische Internationale ihre Mitglieder erst das ABC der Politik lehren muss. Wenn die englischen Arbeiter, anstatt sich den bürgerlichen Vorurteilen entgegenzustellen, den englischen Imperialismus unterstützen oder ihn passiv dulden, so arbeiten sie für eine Unterdrückung jeder revolutionären Bewegung in England selbst. Es ist unmöglich, dass das englische Proletariat sich von dem Joch, das ihm der Kapitalismus auferlegt, befreit, ohne dass es für die revolutionären Kolonialbewegungen in die Bresche tritt. Wenn die Zeit kommt, da die englischen Arbeiter sich gegen ihre eigene kapitalistische Klasse erheben, werden sie vor der Situation stehen, dass England im besten Falle 30 Prozent seiner Lebensmittel aus seiner eigenen Produktion decken kann. Sie werden vor der Situation stehen, dass das amerikanische Kapital versuchen wird, das proletarische England zu blockieren. Denn wenn auch die Schiffe der amerikanischen Kapitalisten nicht imstande sein werden, dem proletarischen Europa die Lebensmittelzufuhr auf die Dauer abzuschneiden, weil die Amerikaner verkaufen müssen, so ist es doch sehr gut möglich, dass das englische Kapital für ein oder zwei Jahre in der Lage sein wird, das amerikanische Getreide aufzukaufen, um es nicht nach England gelangen zu lassen. In dieser Situation werden die Geschicke der englischen Revolution zum großen Teil davon abhängen, ob die Bauern und Arbeiter Irlands, Indiens, Ägyptens usw. in den englischen Arbeitern ihre Verteidiger sehen werden, oder ob sie in der englischen Arbeiterschaft die Helfershelfer der englischen Imperialisten zu sehen gewohnt sind. Der Arbeiterkongress in Scarborough hat eine wichtige Resolution angenommen, in der er die Unabhängigkeit Indiens und Ägyptens fordert. Kein einziger Kommunist stand auf, um dem Kongress zu sagen, dass die Macdonald die englische Bourgeoisie unterstützen, indem sie die englischen Arbeiter täuschen, wenn sie von der Unabhängigkeit Indiens, Irlands und Ägyptens sprechen. Es ist eine direkte Heuchelei, ein Schwindel, wenn dieselben Leute, die sich aus Anlass des Blutbades in Amritsar im Parlament nicht zur Charakterisierung des Generals Deyer als eines gewöhnlichen Mörders aufschwingen konnten, sich als die Verteidiger der Unabhängigkeit der Kolonien hinstellen. Wir bedauern es sehr, dass unsere Parteigenossen, die in der Labour Party sind, diesen Schwindlern nicht die Maske vom Gesicht gerissen haben. Die Internationale wird die englischen Genossen nicht nach den Artikeln, die sie im „Call", im „Worker's Dreadnought" schreiben, beurteilen; sie wird sie beurteilen nach der Anzahl der Genossen, die für die Agitation in den Kolonialländern in die Gefängnisse geworfen werden. Wir weisen die englischen Genossen darauf hin, dass es ihre Pflicht ist, die irische Bewegung mit allen Kräften zu unterstützen, dass es ihre Pflicht ist, Agitation unter den englischen Truppen zu treiben, dass es ihre Pflicht ist, mit allen Mitteln die Politik zu durchkreuzen, die der englische Transport- und Eisenbahnarbeiterverband jetzt treibt, indem er zulässt, dass Truppentransporte nach Irland eingeschifft werden. Es ist sehr leicht, jetzt in England gegen die Intervention in Russland zu sprechen, denn sogar die bürgerliche Linke ist dagegen. Es ist schwieriger für die englischen Genossen, für die Unabhängigkeit Irlands und für die antimilitaristische Tätigkeit einzutreten. Wir haben ein Recht, diese schwierige Arbeit von den englischen Genossen zu fordern.

Wir werden über diese Frage und über die Frage des Parlamentarismus noch zu sprechen haben, aber schon heute ist es wichtig, den englischen Genossen von den Shop Stewards, die die kommunistische Bewegung unterstützen wollen, zu zeigen, wie kindisch sie handeln, wie sehr sie die Möglichkeit des Kampfes aus den Händen geben, wenn sie sich nicht an den Kämpfen im Parlament beteiligen. Die Bauern Indiens können es nicht wissen, dass unsere Shop Stewards gegen ihre Unterdrückung kämpfen. Aber wenn einer die Dinge, ohne lange Reden zu halten, im Parlament beim Namen nennen würde, ganz gewiss würde er vom Speaker des Hauses ausgewiesen werden, und Reuter würde in der ganzen Welt berichten, dass sich im englischen Parlament ein Verräter gefunden hat, der einen Mörder einen Mörder genannt hat. Das englische Kapital, gestützt auf eine starke Bourgeoisie, kann nicht allein in London, Sheffield, Manchester, Glasgow gestürzt werden, es muss in den Kolonien geschlagen werden. Dort ist seine Achillesferse, und es ist die Pflicht der englischen Kommunisten, in die Kolonien zu gehen und dort an der Spitze der sich erhebenden Volksmassen zu kämpfen und sie zu unterstützen. In der alten Internationale kennen wir fast keinen einzigen Fall, dass eine sozialdemokratische Partei sich zum Vorkämpfer der Befreiung der Kolonialvölker gemacht hätte. Als die Hereros zu Tausenden in die Wüste getrieben wurden, enthielten sich die deutschen Sozialisten der Abstimmung, wobei sie erklärten, die Gründe des Aufstandes nicht zu kennen, kein Urteil über die Sache zu haben. Es ist die Pflicht der Kommunistischen Internationale, eine Atmosphäre zu schaffen, in der es möglich wird, hier an dem Kongress teilzunehmen, ohne sich darüber ausweisen zu können, dass man praktisch an dem Aufstand in den Kolonien geholfen hat. Es handelt sich um eine der größten und wichtigsten Lebensfragen der Kommunistischen Internationale. So wie wir in jedem Lande versuchen müssen, für unseren Kampf auch die kleinbürgerlichen Elemente zu gewinnen, die in die Richtung des Proletariats getrieben werden, so muss die Kommunistische Internationale eine Säule sein, die den aufständischen Völkern in Asien und Afrika voran leuchtet. Die Kommunistische Internationale muss den Kapitalismus der Welt schlagen, nicht nur durch die europäischen, sondern auch durch die kolonialen Volksmassen. Der Kapitalismus wird sich nicht nur ökonomisch, sondern sogar militärisch auf die Kolonialvölker stützen. Die soziale Revolution in Europa wird noch mit schwarzen Truppen zu tun haben. Es ist die Pflicht der Kommunistischen Internationale, zu Taten zu schreiten. Die russische Sowjetrepublik hat diesen Weg beschritten, und wenn man in England unsere mühselige Arbeit im Osten, unsere bewusste Agitation, in Turkestan und im Kaukasus Sowjetorganisationen zu bilden, die ersten Fühler nach Persien und nach der Türkei auszustrecken, als Dinge auffasst, die die Sowjetrepublik macht, um den Engländern Schwierigkeiten zu bereiten, so ist das ein Missverstehen der auswärtigen Politik der Sowjetregierung. Es ist ein Teil des Programms der Kommunistischen Internationale, es ist Pflichterfüllung Sowjetrusslands als eines Teils der Kommunistischen Internationale. Wir betrachten die orientalische Agitation nicht als ein Aushilfsmittel im Kampf gegen den europäischen Kapitalismus, wir betrachten sie als den Kampf, zu dem wir im dauernden Interesse des europäischen Proletariats verpflichtet sind. Die Hilfeleistung kann nicht darin bestehen, dass man künstlich kommunistische Parteien bildet, wo kein Boden für den Kommunismus vorhanden ist; sie kann geschehen, indem wir diesen Völkern helfen. Vom Genossen Lenin ist darauf hingewiesen worden, dass keine theoretische Notwendigkeit vorliegt dafür, dass alle Völker die Phase des Kapitalismus durchschreiten müssen. Nicht alle Völker, die heute kapitalistisch sind, sind zum Kapitalismus durch die Periode der Manufaktur gekommen. Japan ging aus einem Feudalzustand in die Phase der imperialistischen Kultur über. Wenn es den proletarischen Massen in Deutschland, Frankreich und England gelingt, den Sozialismus zu erobern, dann werden wir zu den Kolonialvölkern gehen nicht nur mit allen modernen Mitteln, die uns vom Kapitalismus zurückgelassen worden sind, sondern mit den Produktionsmethoden, die der Sozialismus schaffen wird. Wir werden ihnen helfen, aus der feudalen Barbarei den direkten Weg zu finden zu einer Produktion, bei der sie die modernen Mittel der Technik anwenden können, ohne durch die Phase des Handwerks und der Manufaktur hindurchgehen zu müssen. Wir stehen am Anfang einer neuen Epoche. Der europäische Kapitalismus fürchtet das Erwachen der orientalischen Völker; er erzählt von der „gelben Gefahr“, und man kann sagen, wenn der Kapitalismus weiter bestehen bleibt, so besteht eine gelbe Gefahr. Der proletarisierte Bauer in China oder in der Türkei, dem man die Haut über die Ohren zieht, wird auswandern müssen, um Arbeit zu suchen, er wird sich in großen Völkerwanderungen zur Wehr setzen. Aber der Kommunismus hat keine gelbe Gefahr zu fürchten, er kann allen unterdrückten Völkern seine Hand hinreichen, denn er bringt ihnen nicht Ausbeutung, sondern brüderliche Hilfe.

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