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Karl Radek 19141200 Marxismus und Kriegsprobleme

Karl Radek: Marxismus und Kriegsprobleme

[Lichtstrahlen 1914, Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 282-293]

I.

Nach dem Kriegsausbruch wurden in der Arbeiterpresse vielerorts einzelne Aussprüche von den Altmeistern des wissenschaftlichen Sozialismus angeführt zur Begründung der Haltung der Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktionen in diesem Kriege. Von einer Seite, die sonst die Orientierung der Arbeiterpolitik nach den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels als eine orthodoxe Zeilenanbeterei immer verabscheute, wurden Stellen aus den Marxschen Schriften als heiliges Vermächtnis herumgetragen. Dagegen legte schon der Historiker der deutschen Sozialdemokratie Verwahrung ein, indem er darauf hinwies, dass dabei die historischen Umstände ganz außer acht gelassen wurden, unter denen Marx und Engels zu Kriegsfragen Stellung nahmen, historische Umstände, die den jetzigen ebenso ähnlich oder unähnlich sind, wie die Nachtigall einer Eule. Wir wollen hier in kurzen Strichen darlegen, worum es sich bei Marx und Engels bei ihrem Urteil über Kriegsfragen gehandelt hat. Zuerst muss darauf hingewiesen werden, dass die Altmeister des wissenschaftlichen Sozialismus ihre Methode natürlich auch bei der Behandlung von Kriegsfragen nicht verleugnet haben. Ihre Methode, d. h. die Art ihrer wissenschaftlichen Untersuchung, bestand darin, dass sie alle Erscheinungen des sozialen Lebens in ihrer geschichtlichen Entwicklung, aus der Entwicklung der Produktionskräfte erklärten. Auf den Krieg angewandt, bestand sie darin, die besondere Bedeutung eines jeden Krieges im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu untersuchen. Keine Grausamkeit des Krieges konnte sie dazu verleiten, ihm nur jammernd und stöhnend zu folgen. Sie fragten immer, welcher Art die Quellen dieses Krieges waren, ob er nicht in seiner gewaltigen, raschen Art ein altes morsches Gebäude niederriss, ob aus den von ihm hinterlassenen Ruinen nicht neues Leben erblühen werde. Wo der Menschenfreund ohne jeden historischen Blick nur Blut und Gräuel sieht, ein unnützes Dahinmetzeln, dort erspähten sie oft die Wege des menschlichen Fortschrittes, neue Bedingungen des Klassenkampfes. Dieses ihr Verfahren müssen natürlich auch wir dem jetzigen Kriege gegenüber anwenden. Wir müssen an der Hand der uns von unseren Altmeistern und ihren Schülern erschlossenen Kenntnis der jetzigen Wirtschaftsweise die großen wirtschaftlichen Gegensätze kennenlernen, die zum Weltkriege geführt haben. Würden die sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden Länder an dieses Vermächtnis unserer Lehrer gedacht haben, sie wären heute einig in der Beurteilung des Charakters des Krieges; und diese geistige Einigkeit würde den Zusammenbruch des gegenseitigen Vertrauens der sozialdemokratischen Parteien verhütet haben, selbst wenn die Volksmassen außerstande wären, den Kriegsausbruch zu verhindern, und wenn sie auf die Schlachtfelder ziehen müssten. Hier zeigt sich, welche große praktische Bedeutung die marxistische Theorie besitzt, wenn man sie nicht als ein Sammelsurium von Zitaten, Schlüsseln, als ein Koch-und-Rezeptbuch betrachtet, sondern als eine geistige Anleitung, die erlaubt, sich in dem Wirrwarr von Tatsachen zurechtzufinden. Anders steht es mit der Stellungnahme von Marx, Engels und ihren Schülern zu einzelnen Kriegen. Es ist von größtem Interesse, wie sie einzelne Kriege beurteilen, weil wir dabei sehen, wie sie selbst ihre Methode anwandten. Aber auch die kürzeste Prüfung ihres Standpunktes in jedem konkreten Falle zeigt, wie unmöglich es ist, diesen Standpunkt als auch heute maßgebend zu betrachten. Während des „tollen Jahres" 1848 traten Marx und Engels eifrig für einen deutsch-russischen Krieg ein. Womit begründeten sie ihre Stellungnahme. Sie wiesen auf die Kräfte der feudalen Reaktion, die Deutschland beherrschten, auf die Schwäche der Bourgeoisie, die nicht imstande war, ihre Herrschaft zu brechen. Die breite Masse des Volkes bildete das Kleinbürgertum, eine Klasse, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht imstande war, energisch, bewusst um die Demokratie zu kämpfen. Dass das Proletariat unter diesen Umständen keinen starken, selbständigen Faktor bilden konnte, ist klar. Der revolutionäre Aufschwung Deutschlands versumpfte: weder die Vereinigung Deutschlands zu einem Nationalstaat war unter diesen Bedingungen im inneren politischen Kampfe zu erreichen, noch der demokratische Umbau des Staates. Russland, damals der Hort der Reaktion – jetzt existiert der Zarismus, wie unsere „nationale" Presse behauptet, doch nur dank der Unterstützung des französischen Kapitals – unterstützte auch den Feudalismus in Deutschland wie in Österreich. Ein Krieg gegen Russland wäre also, nach der damaligen Überzeugung von Marx, ein Krieg gegen dieselben Mächte, die in Deutschland die Revolution niederhielten, und in diesem Kriege würde – so hofften sie – die nationale Gefahr das Kleinbürgertum zu revolutionären Taten anspornen. Ja, wie Engels es später, im Jahre 1859, in einem Briefe an Lassalle aus Anlass des italienischen Krieges offen erklärte, hatte er (und Marx) die Hoffnung, dass der Krieg gegen Russland und Napoleon III. Deutschland vor Aufgaben stellen würde, unter denen die bürgerliche Demokratie zusammenbrechen müsste, worauf die entschiedenen revolutionären Elemente ans Ruder kommen würden.

Wie lag die Sache im Jahre 1870? Alle Hoffnungen auf eine Einigung Deutschlands auf revolutionärem Wege hatten sich als nichtig erwiesen. Je mehr das Bürgertum wirtschaftlich erstarkte, desto mehr ging es politisch nach rechts. Die Arbeiterschaft war der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Deutschlands gemäß noch schwach, unfähig, selbst die politischen Bedingungen ihrer weiteren Entwicklung herzustellen. „Siegt Deutschland, so ist der französische Bonapartismus jedenfalls kaputt, der ewige Krakeel wegen Herstellung der deutschen Einheit endlich beseitigt, die deutschen Arbeiter können sich auf ganz anderem nationalen Maßstab als bisher organisieren, und die französischen, was auch für eine Regierung dort folgen mag, werden sicher ein freieres Feld haben als unter dem Bonapartismus" – so schrieb Marx am 15. August 1870 an Engels. „Bismarck tut jetzt, wie 1866, immer ein Stück von unserer Arbeit, in seiner Weise und ohne es zu wollen, aber er tut es doch" – schrieb er weiter. Und obwohl er sich in diesem Privatbrief, der eine persönliche Aussprache bildete, so offen über die historische Notwendigkeit des Krieges von 1870 aussprach, der angesichts der Unfähigkeit der Bourgeoisie zum revolutionären Kampfe und der Schwäche des Proletariats der einzige Weg war, auf dem die Vorbedingungen für den Fortschritt der Arbeiterklasse erfochten werden konnten, nennt er unter den Pflichten der Sozialdemokratie öffentlich: „die Interesseneinheit der deutschen und französischen Arbeiter, die den Krieg nicht billigen, und die sich auch nicht bekriegen, fortwährend hervorzuheben". Diese kurzen Auszüge zeigen schon, dass die Haltung von Marx und Engels zu dem Kriege von 1870 eine ganz andere war, als im Jahre 1848. Damals eine offene Agitation für den Krieg mit Russland, der der Revolution die Wege bahnen sollte, hier eine Stellungnahme zu schon vollzogenen Tatsachen, die man nicht billigt, aber von denen man sagen muss, dass sie, obwohl in reaktionärer Form, die Bedingungen des Aufstiegs der Arbeiterklasse schaffen werden. Und trotz dieser objektiven Beurteilung des Krieges von 1870 fällt es Marx nicht ein, sich mit einer der kriegführenden Parteien solidarisch zu erklären, da er weiß, dass Bismarcks Methoden, historische Notwendigkeiten zu verwirklichen, nicht die der klassenbewussten Arbeiterschaft waren. In beiden Fällen wird die Haltung Marxens durch den verschiedenen Grad der sozialen Entwicklung verschieden bestimmt, wobei noch zu bemerken ist, dass weder im Jahre 1848, noch im Jahre 1870 das Proletariat eine größere Macht besaß.

Man mag von der Haltung Marxens im Jahre 1848 und 1870 denken, was man will – dass sie nichts mit einem nationalen Gefühlsdusel und nichts mit einer opportunistischen Angst um die bisherigen Erfolge zu tun hat, braucht man nicht zu beweisen. Es war eine politische Stellungnahme unter konkreten politischen Bedingungen, bei der Marx keinen Augenblick über den Tag die zukünftigen Kämpfe vergaß. Wer den Standpunkt Marxens vom Jahre 1870 als ein so schönes Bild betrachtet, dass er es kopieren will, den muss man erstens fragen: warum nicht den Standpunkt vom Jahre 1848? Warum soll man jetzt nicht die Hoffnung hegen, dass die Herren Kopsch und Wiemer im Kriege gegen Russland die Revolution machen werden, indes der Genosse Pfannkuch die Rolle Marats spielen wird? Wer auf diese Frage aber mit dem Hinweis aufwarten würde, dass sich seit jener Zeit die sozialen und politischen Verhältnisse geändert haben, dem dürfte man die zweite Frage stellen, ob sich die sozialen Verhältnisse seit dem Jahre 1870 nicht auch geändert haben, ob jetzt dieselben Aufgaben vor Deutschland stehen wie vor vier Jahrzehnten? Die Antwort auf all diese Fragen kann nur die eine sein: die sozialen und politischen Verhältnisse haben sich seit dem Jahre 1870 gründlich geändert; von den Aufgaben, die damals vor Deutschland standen und die Haltung der Sozialdemokratie (in ganz verschiedener Weise, nebenbei bemerkt) beeinflussten, ist jetzt keine Rede. Der Standpunkt der Sozialdemokratie dem Weltkriege 1914 gegenüber lässt sich nur aus dem Charakter dieses Weltkrieges selbst und aus gegenwärtigen Aufgaben des proletarischen Klassenkampfes bestimmen. Der Marxismus gibt dem Proletariat die geistigen Waffen dazu, indem er uns lehrt, den Weltkrieg historisch aus den Gegensätzen des reifen Kapitalismus zu begreifen und die Aufgaben des Proletariats kennenzulernen, das im Produktionsprozess eine so mächtige Rolle spielt. Die Stellungnahme Marxens zu den Kriegen der Vergangenheit kann man nicht starr auf die jetzige Zeit übertragen. Wer das tut, der zeigt nur, dass es sich ihm nur um Entlehnung von Argumenten handelt, die er auf eigene Kosten nicht aufbringen kann. Man mag dafür Verständnis haben, denn Not kennt kein Gebot, wie der Reichskanzler sagte. Billigen kann man diesen Unfug nicht. Wie aber vom Standpunkt des Marxismus die jetzigen Zusammenhänge zu beurteilen sind, darüber im Folgenden.

II.

Im Zeitalter der Weltwirtschaft und der Weltpolitik.

Die Frage, die seit Jahrzehnten vor der kapitalistischen Welt steht, lautet: wie kann der Kapitalismus auf kürzesten Wegen, in gründlichster Weise sich die noch nicht kapitalistische Welt botmäßig machen? Der Lösung dieser Frage diente die enorme Entwicklung der Verkehrsmittel, ihr diente die Ausfuhr des Kapitals, ihr diente das Wettrüsten, der diplomatische Kampf, in ihren Dienst stellten sich die Sprach-, die geographische, die geschichtliche, die medizinische und technische Wissenschaft, ja, selbst die kirchlichen Institutionen. Im Jahre 1800 schätzte man die Ausfuhr und Einfuhr aller zivilisierten Länder auf 6 Milliarden Mark, im Jahre 1850 auf 17, bis 1870 etwa auf 45, im Jahre 1900 auf 90, im Jahre 1910 auf 150 Milliarden Mark. Da die Einfuhr und Ausfuhr je besonders gezählt und auch die Durchfuhrmengen nicht abgesondert werden, so schätzt Prof. K. Wiedenfels auf Grund dieser Angaben den Wert der Welthandelsmengen auf 70 Milliarden Mark. Den überwiegenden Teil dieser ungeheuren, in den Welthandel geworfenen Mengen bilden wohl noch Produkte, die, in kapitalistischen Staaten erzeugt, in andere kapitalistische Staaten eingehen. Aber immer größer werden die Massen der Produkte, die von den hochentwickelten kapitalistischen Staaten in die weniger entwickelten oder noch ganz zurückgebliebenen ausgeführt werden, und immer mehr wachsen an Zahl und Bedeutung die Produkte, die von agrarischen Ländern in die kapitalistisch-industriellen gelangen. Von der ersten Tatsache zeugen die 13 Milliarden Ausfuhr nach Asien und Afrika, zeugt das Wachstum der Eisenbahnen, deren Länge im Jahre 1890 in Asien 33.774, in Afrika 9386, im Jahre 1912 aber in Asien 107.230, in Afrika 47.707 km betrug, ganz zu schweigen von der wachsenden Bedeutung halb kapitalistischer Länder, wie Australien, Kanada, Südamerika. Die Bedeutung der Einfuhr aus den agrarischen, industriell unentwickelten Ländern äußert sich grell in der Tatsache, dass 26 Prozent der deutschen Einfuhr in Lebensmitteln, 55 in Industrie-Rohstoffen und Halbfabrikaten bestehen, dass Englands Einfuhr zu 42 Prozent aus Lebensmitteln, zu 35 Prozent aus Rohstoffen besteht, dass Frankreich über 60 Prozent seiner industriellen Rohstoffe bezieht und dass auch in der Einfuhr der Vereinigten Staaten Amerikas 25 Prozent die Lebensmittel, 32 Prozent die industriellen Rohstoffe ausmachen. Je mehr sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Länder hinsichtlich der Produktionsweise untereinander ausgleichen, desto mehr wächst der Drang der kapitalistischen Staaten nach nichtkapitalistischen Absatzgebieten. Und je mehr der Kapitalismus in den zivilisierten Ländern die Industrie auf Kosten der Landwirtschaft entwickelt, ihr auf Kosten der Landwirtschaft Arbeitskräfte zuführt, das Land entvölkert, desto mehr sucht er sich die Lebensmittelzufuhr aus agrarischen Ländern zu sichern, wo dieser Prozess noch nicht Platz gegriffen hat, ganz abgesehen davon, dass er auch Rohstoffe braucht, die in Europa und Amerika gar nicht produziert werden können, oder in denen bisher die Vereinigten Staaten ein für das europäische Kapital drückendes Monopol besitzen.

Der europäische Kapitalismus wird immer mehr auf die nichtkapitalistischen Länder angewiesen. Würde er auf ihre Entwicklung verzichten, seine Entwicklung würde angesichts des langsam wachsenden Absatzes verlangsamt, er müsste zu einer zielbewussten Änderung der Einteilung der Produktionskräfte zugunsten der Landwirtschaft greifen, müsste einstweilen auf eine Reihe von Produktionszweigen verzichten, die unmöglich sind ohne Rohstoffe, deren Zufuhr aus Afrika und Asien sich mindern, vielleicht gänzlich stocken würde. Die Verlangsamung der kapitalistischen Entwicklung auf ihrer jetzigen Stufe würde aber in den Volksmassen die Frage wecken, ob nicht durch eine zweckmäßige Organisation der Produktion das Elend, das über sie diese Stagnation bringen würde, zu beseitigen wäre. Während bei einem schnellen Tempo der kapitalistischen Entwicklung der Zustrom immer neuer, aus den kleinbürgerlichen Schichten sich rekrutierender unaufgeklärter Proletarier zwar das Rekrutierungsfeld der sozialistischen Armee ausbreitet, aber momentan ihre Aktionskraft schwächt, während sie bei einem schnellen Tempo der kapitalistischen Entwicklung den Arbeitern größere Aussichten auf Besserung ihrer Lage auf dem Boden des Kapitalismus bietet, bedeutet die Verlangsamung der kapitalistischen Entwicklung auf ihrer jetzigen Stufe die steigende Verschärfung des Klassenkampfes, den Beginn der sozial-revolutionären Massenkämpfe. Der Kapitalismus muss vorwärts, wenn er nicht zugeben will, dass seine Rolle beendet ist.

Aber es bedurfte nicht einmal dieser Erwägungen, die ganz gewiss außerhalb der Betrachtungen der einzelnen Kapitalisten liegen und hier nur gemacht wurden, um die objektive Notwendigkeit der weltwirtschaftlichen Expansion für den Kapitalismus zu beweisen; die Ausfuhr der Waren in die kapitalistisch nicht entwickelten Länder, wie die Einfuhr ihrer landwirtschaftlichen Produkte, der Eisenbahnbau in diesen Ländern, die Anleihen usw., alle diese Mittel der weltwirtschaftlichen Expansion geben den führenden Schichten des Kapitals Gelegenheit zu einem Profit, wie sie sonst auf dieser und jener Welt zusammen keinem noch so frommen Christen zuteil wird. Deswegen beginnen sie gewöhnlich Beziehungen zu den unentwickelten Ländern anzuknüpfen, bevor noch die Volkswirtschaft eines kapitalistischen Landes die Notwendigkeit der weltwirtschaftlichen Beziehungen wirklich als Lebensfrage zu empfinden beginnt. Andererseits aber verbreitet sich in den letzten Jahren unter dem Einfluss der weltwirtschaftlichen Entwicklung auch in den Ländern des jungen Kapitalismus die Erkenntnis der zukünftigen Unumgänglichkeit des Hinausgehens in die ferne Welt, und sie bildet einen Ansporn zur politischen Sicherung des Raumes für die weltwirtschaftliche Expansion.

Der Kapitalismus kann sich ohne Beherrschung agrarisch nichtkapitalistischer Gebiete nicht in dem bisherigen schnellen Tempo weiter entwickeln. Er sucht in den letzten Jahrzehnten ganz Asien und Afrika sich botmäßig zu machen. Durch seine Warenausfuhr und Bahnbauten sucht er die alten wirtschaftlichen Verfassungen dieser Gebiete zu sprengen, diese Völker zu Warenproduzenten zu machen, Warenproduzenten, die die Produkte der europäischen Industrie teuer bezahlen und ihre eigenen Produkte billig verkaufen. Wir haben hier nicht die Möglichkeit, die kolonial- und finanzpolitischen Mittel darzustellen, vermittelst deren das Kapital dieses sein Bestreben verwirklicht. Es genügt, zu sagen, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die ungeheure Ausbreitung seiner profitfördernden Tätigkeit bedeutet, sondern auch ihre rücksichtsloseste Steigerung. Und deswegen muss die weltwirtschaftliche Entwicklung nunmehr wieder zur Gewaltanwendung schreiten. Selbst wenn die kapitalistischen Staaten unter sich den unentwickelten Teilen der Welt einig gegenüberstehen würden, würde die weltwirtschaftliche Entwicklung nicht ohne die größten Zusammenstöße, Welterschütterungen vor sich gehen. Hunderte Millionen der chinesischen, indischen Bevölkerung, durch die kapitalistische Entwicklung in Bewegung gebracht, würden auch dann die Welt erschüttern, wenn das internationale Kapital ihnen mit vereinten Kräften entgegenträte.

Die kapitalistische Welt stellt jedoch keinen einheitlichen Organismus dar. Sie ist in nationale Sonderorganismen gespaltet, gemäß den historischen Wegen, auf denen der Kapitalismus in die einzelnen Länder Europas eindrang. Jeder kapitalistische Staat möchte einen Teil der Erde in seine Hände bekommen. Sie kämpfen untereinander seit Jahrzehnten um noch freie Gebiete: um China, um die Türkei, um Persien. Starke kapitalistische Staaten, die zu spät an diese Ausbreitungspolitik gingen, schauen gierig auf kleine, wie Portugal, Holland, die aus früheren Zeiten große Kolonien besitzen. Alte, mächtige Kolonialreiche, wie England, befürchten, dass andere kapitalistische Staaten Unruhen in ihren Kolonien ausnützen könnten, um ihnen einen Teil der Beute zu entreißen. Seit dreißig Jahren steigern sich diese Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten um den Anteil an der Welt. Sie haben den Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten Nordamerikas, den Russisch-Japanischen Krieg verursacht, ihnen verdanken wir das immer wütendere Wettrüsten zu Land und See. Gleichzeitig erzeugt dieser Kampf Kolonialaufstände, er erzeugt die Gefahr von Völkererhebungen, wie sie die Welt nicht gesehen hat. Aus all diesen Gegensätzen hat sich der völkervernichtende Weltkrieg des Jahres 1914 ergeben. Er ist ein Krieg um die Weltmacht, ein Krieg um die Frage, welchen kapitalistischen Staaten der größte Anteil an ihr zufallen wird. Dass dem so ist, bekunden alle Schriften über den Weltkrieg, die die Verfechter dieser Politik zur Anfeuerung des Bürgertums zum Durchhalten um jeden Preis herausgeben. Unsere Stellungnahme zu dem Weltkrieg ist also unmöglich ohne Beantwortung der Frage: hat das Proletariat ein Interesse an der weiteren Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise? Nur wer auf diese Frage eine klare Antwort gibt, nimmt eine klare Stellung gegenüber den ungeheuren historischen Ereignissen, die wir erleben, ein. Keine Zitate aus Marx, keine Deklamationen können eine Antwort auf diese Frage erübrigen. Wir wollen sie geben. –

III.

Als die moderne Wirtschaftsform des Kapitalismus in der Form des Handelskapitals vor Jahrhunderten ihren Lauf begann, beutete sie die Völker des Orients aus. „Wenn Westeuropa eine so starke kapitalistische Entwicklung erlebt hat" – schreibt Professor Sombart, ganz gewiss kein Sozialist – „so ist dies gewiss nicht zuletzt daraus zu erklären, dass die Westeuropäer mehr als irgendein anderes Volk sich früher fremde Völker tributpflichtig machen konnten und machten. Man sollte nicht vergessen, dass Westeuropas wirtschaftliche Entwicklung die Ausplünderung dreier Erdteile zur notwendigen Voraussetzung gehabt hat, dass der Wohlstand unzähliger blühender und reicher Völker der Alten und Neuen Welt erst die Mittel geschaffen hat, die den europäischen Kapitalismus ins Leben riefen. Der Reichtum der italienischen Städte ist ebenso undenkbar ohne die Auspowerung der übrigen Mittelländer, wie Portugals, Spaniens, Hollands, Frankreichs und Englands Blüte nicht denkbar ist ohne vorherige Vernichtung der arabischen Kultur, ohne die Ausraubung Afrikas, die Verarmung und Verödung Südasiens und seiner Inselwelt, des fruchtbaren Ostindiens und der blühenden Staaten der Inkas und Azteken." (Moderner Kapitalismus, Bd. I, 326.) Indem aber der Kapitalismus die Naturalwirtschaft zurückdrängte und an ihre Stelle die Geldwirtschaft setzte, ermöglichte er den Feudalherren, auch die Ausnutzung der Bauern ins Ungemessene zu steigern: denn mit der Möglichkeit, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu verkaufen, bekam die Übervorteilung der Bauern, die Steigerung der Robote, das Bauernlegen erst den rechten Sinn. Dem Handwerk nahm das Kapital den goldenen Boden. Und als das moderne Fabriksystem aufkam, brachte das Kapital die proletarisierten Bauern- und Handwerkermassen erst recht unter seine Botmäßigkeit. Indessen in all den vielen Jahrhunderten, von der Entstehung des Handelskapitals sozusagen in den Ritzen und Winkeln der feudalen Gesellschaft bis zu seiner offenen Thronbesteigung war sein Weg auch durch den rücksichtslosen Kampf der verschiedenen kapitalistischen Gruppen untereinander gezeichnet. Sie führten Kriege um die Abgrenzung des Herrschaftsgebietes, was zur Bildung der nationalen Staaten führte. Sie kämpften um überseeische Gebiete untereinander. Und in all den Kriegen war es das Volk, das die Krieger stellte. Es bäumte sich oft dagegen auf, suchte die Räder der Geschichte aufzuhalten, aber umsonst. Denn der Kapitalismus steigerte das Interesse des Kapitalisten am Ertrag der Arbeit, er spornte sie zu Erfindungen an, die die Ausgiebigkeit der menschlichen Arbeit ungeheuer erhöhten. Die Masse der Werte, die der Kapitalismus in immer größerem Umfange anhäufte, gab ihm große Machtmittel in die Hand. Sie erlaubte ihm, trotz der Steigerung der Intensität der Ausbeutung die Volksmassen an einer gewissen Kultur teilnehmen zu lassen, und diese Kulturmittel, die Schule, die Kanzel, die Presse, das Buch, alles predigte dem Volke, es sei nichts ohne die Kapitalisten, jeder Fortschritt sei nur dank den Kapitalisten möglich. Und wenn einmal die Massen die ihnen so von Kindheit an eingeimpfte Demut mit jähem Ruck beiseite schoben, dann wandte der Kapitalismus seine mächtigen Gewaltmittel gegen sie an, bis sie wieder zu Kreuze krochen.

Doch war es keine sinnlose Qual. Sie ermöglichte dem Kapital die Eroberung der ganzen europäischen Welt, eine solche Steigerung der menschlichen Arbeitsfähigkeit, dass jetzt selbst bei einem achtstündigen Arbeitstag noch Riesenprofite gemacht werden können. Das Kapital hat dem Menschen die Natur in einem Maße untertänig gemacht, wie sie es niemals zuvor war, es beherrscht das Wasser, die Luft, das Innere der Erde. Nachdem es dies getan, brachen seine dialektischen Widersprüche durch. Der Stand der Wissenschaft erlaubt jetzt, die Ergiebigkeit des Bodens zu steigern. Aber das Kapital bevorzugt die Industrie, weil es sich in ihr viel schneller vermehren kann. Unzählige Erfindungen werden der Allgemeinheit vorenthalten, weil ein einzelner sie aufgekauft hat. Kapitalistische Verbindungen – Trusts und Kartelle – regeln die Produktion nicht nach den Bedürfnissen der Gesamtheit, sondern nach ihren Kalkulationen. Ein immer größerer Teil der menschlichen Arbeitskraft muss alljährlich der Produktion entzogen werden, um das Waffenhandwerk zu erlernen zur Sicherung der Nationalstaaten. Die Orientvölker wachen auf, wenden sich den Kulturerrungenschaften Europas zu, aber dieses kann sie ihnen ohne Zerstörung ihrer heimischen, veralteten Wirtschaftsform nicht geben. Immer besser verstehen die Arbeitermassen der modernen Staaten diesen Zusammenhang, immer stärker wächst ihre Opposition: die moderne sozialistische Arbeiterbewegung. Diese wendet sich nicht mehr gegen die Errungenschaften des Kapitalismus, gegen seine Technik, denn sie weiß gut, dass diese dem Volke Heil bringen, wenn sie von der Allgemeinheit verwaltet, im Interesse der Allgemeinheit verwandt werden. Nicht die Wiederkehr zu vorkapitalistischen Zeiten des Zunfthandwerks, des Feudalismus stellt sich die sozialdemokratische Vorhut der Arbeiterklasse als Ziel, sondern eine Organisation der Produktivkräfte, wie sie die Interessen der ganzen Menschheit erfordern. Aber die geistig aufgeweckten, aufgeklärten Elemente bilden in der Arbeiterschaft nur eine Minderheit. Sie sind nicht imstande, allein ihr Ziel zu erringen. Gegen sie stehen noch große Massen von Arbeitern, die noch keine Möglichkeit einer anderen Organisation der Wirtschaft sehen, oder die zermürbt durch die alltägliche Arbeitsqual, in sich keine Kraft zu ihrer Durchführung fühlen. Inzwischen geht der Kapitalismus weiter an die Eroberung neuer Erdteile, die bisher abseits von der modernen Entwicklung standen. Dort hofft er, neue Arbeitermassen zu bekommen, neue Reichtümer zu sammeln. Welche Stellung hat der bewusste Teil der Arbeiterschaft demgegenüber einzunehmen? Er weiß, dass man die wirtschaftliche Entwicklung nicht aufhalten kann. Er lehnt es ab, dies durch reaktionäre Maßregeln zu versuchen. Aber er macht sich keineswegs zum Verfechter dieser Entwicklung. Vielmehr sucht er den Übergang zu höheren Produktionsformen möglichst schmerzlos zu gestalten. Der Imperialismus ist eine Politik, die mit Hilfe der staatlichen Gewalt die noch unentwickelten Länder dem modernen Kapitalismus zuführen will. Das Proletariat hat diese Politik aufs schärfste bekämpft. Nicht nur, weil es wusste, dass sie zu einem Weltkrieg führen kann, sondern weil es auch den unentwickelten Völkern den Übergang zu höheren Wirtschaftsformen ohne Gräuel und Elend ermöglichen will. Ein Förderer der kapitalistischen Entwicklung kann das seiner historischen Aufgabe bewusste Proletariat nicht sein, weil es die Menschheit schon heute für reif zu höheren Lebensformen hält. Aus diesen Tatsachen erklärt sich die grundsätzliche Gegnerschaft des Proletariats zu diesem Weltkriege. Es gab in der Vergangenheit Kriege, die ein notwendiges Glied in der wirtschaftlichen Entwicklung darstellten. Vielen von ihnen stand das Proletariat ohne irgendein selbständiges Verständnis gegenüber, weil es damals noch kein sozialistisches Bewusstsein hatte. Die Kriege, die zur Bildung des Deutschen Reiches führten, waren auch notwendig, weil auf deutschem Boden die moderne Wirtschaftsform sich unter der Leitung eines einheitlichen Staates am besten entwickeln konnte. Aus diesem Grunde erklärte ein Teil der Führer der damals aufkommenden sozialistischen Bewegung jenen Krieg auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse für notwendig, wie kritisch sie sich auch den Machthabern gegenüber verhielten, die den Krieg führten. Ein zweiter Teil aber protestierte gegen den Krieg in den schärfsten Formen, und es ist kein historischer Zufall, dass in dem dankbaren Gedächtnis der Arbeiterklasse dieser Protest einen dauernden Ehrenplatz behielt.

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