Karl Radek‎ > ‎Gegen den Zentrismus‎ > ‎

Karl Radek 19160000 Das Zentrum der Partei und die Kriegsfragen

Karl Radek: Das Zentrum der Partei und die Kriegsfragen

(1916)

[Arbeiterpolitik, II. Jahrgang, Nr. 9, 10, 13. Nach ders., In den Reihen der deutschen Revolution 1909-1919, S. 437-455]

DIE AUSSICHTEN DES IMPERIALISMUS1

Schon in den ersten Diskussionen im Jahre 1911, die die Scheidung zwischen Linksradikalen und Zentrum anbahnten, spielte die Frage von der Zukunft des Imperialismus eine entscheidende Rolle. Wir vertraten die Auffassung, dass er die Politik des Kapitalismus in seiner letzten, dem Sozialismus vorangehenden Epoche sei. Nicht als ob er die Interessen aller Schichten der Bourgeoisie direkt verträte. Er vertritt die Interessen nur der führenden Schichten des Kapitals, Aber diese Schichten (das Finanzkapital, die schwere Industrie) gewinnen in den kapitalistischen Staaten immer mehr an Gewicht, und es ist eine reaktionäre Utopie, ihre Politik in die friedlich-freihändlerischen Geleise zurückführen zu wollen. Die imperialistische Politik bedeute aber nicht nur die Verschärfung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt, sondern auch in der Weltpolitik, und sie müsse schließlich zu einem Weltkrieg führen, wenn das Proletariat nicht die Gewalt an sich bringe. So behaupteten die Linksradikalen.

Demgegenüber vertrat Kautsky die Auffassung, dass die internationale Versippung des Kapitals einen wichtigen Friedensfaktor darstelle, der durch die Friedensinteressen gewisser Teile der Bourgeoisie, die unter dem Imperialismus leidet, gestärkt werden. Das Proletariat müsse die bürgerliche Friedensbewegung unterstützen, Abrüstung, Schiedsverträge usw. fordern. Es sei noch zu schwach, um den Kapitalismus abzuschaffen, aber es könne ihm den Frieden aufzwingen. Wir bekämpften diese Auffassungen und suchten zu beweisen (wir nennen nur die Abhandlung in der besonderen Beilage der “Bremer Bürger-Zeitung” zum Chemnitzer Parteitag 1912, die die erste Phase der Diskussion abschloss), dass solange die Bourgeoisie am Ruder bleibt, es — trotz mancher Stillstandsmomente — zu einer immer größeren Verschärfung der internationalen Gegensätze kommt. Wenn Kautsky auf Teilbündnisse zwischen einzelnen kapitalistischen Staaten hinweist als auf den Beweis, dass eine Verständigung möglich sei, so vergisst er, dass es sich nur um eine Konzentration der größten imperialistischen Gegensätze zu desto allgemeinerem Kampfe handle. Kommt es zu Verständigungen über Rüstungen, so handle es sich nur um einen vorübergehenden Waffenstillstand.

Dass der Gang der Ereignisse uns und nicht Kautsky Recht gab, brauchen wir nicht erst zu beweisen. Irgendwelche bürgerliche Friedensbewegung, die sich dem Kriege entgegensetzen sollte war nicht vorhanden, die imperialistischen Koalitionen erwiesen sich als Mittel der Verallgemeinerung des Krieges. Wir waren nur insoweit im Unrecht, als wir, die angeblichen Überschätzer der Macht des Imperialismus, seine Kraft noch unterschätzten: denn selbst das Proletariat erwies sich als aktive Friedenskraft ohne jede Bedeutung. Als sich Kautsky von den ersten Kriegsschlägen erholt, die erste wichtigste Arbeit erledigt hatte (nämlich zu beweisen, dass die Politik des 4. August wohl mit dem Internationalismus zu vereinigen sei, wenn sie nur aus guten, internationalen Rücksichten getrieben wird), begann er von neuem sein sozialpazifistisches Lied zu singen. Die europäische Bourgeoisie wird kein Geld haben, um nach dem Kriege imperialistische Politik zu treiben, der Gegensatz zu den Vereinigten Staaten Amerikas wird sie zusammenführen, große Kreise des Bürgertums werden gegen den Imperialismus aufstehen usw. Also: Proletarier aller Länder, vereinigt euch, um die Bourgeoisie zur Verständigung zu bringen, brecht der kapitalistischen Rose die Dornen ab, aber lasst sie weiter blühen.

Wir antworteten auf diese Ausführungen Kautskys in unserer Artikelserie “Staat, Nation, Imperialismus”, dass die Verarmung Europas durch den Krieg nur die der Volksmassen (des Proletariats und des Kleinbürgertums) sei, dass sie die Bereicherung der führenden kapitalistischen Schichten bedeute, dass, wenn dem Kapital in den Kolonialländern große Profite winken werden, es weiter Kapital exportieren wird, dass, wenn die Vereinigten Staaten und Japan, dank dem Kriege, die Vorherrschaft bekommen, sie eben die imperialistische Politik treiben werden, dass der Gegensatz zu Amerika nicht allgemein sei, dass es umgekehrt zum Mittelpunkt einer neuen imperialistischen Koalition wird. Kurz und gut: Keine Ära des Friedens, sondern neuer imperialistischer Kriege stände bevor, und nicht die pazifistische Reform des Imperialismus, sondern seine Abschaffung durch eine grundsätzliche Umwälzung müsse das Ziel des Proletariats sein.

Kautsky blieb auf alle diese Argumente die Antwort schuldig. “Kennt ihr die Fabel? Ja? Wenn ja, dann kann ich sie euch noch einmal erzählen” — so leitet ein jovialer Junker in einer alten polnischen Komödie die Rezitation von Fabeln ein, die seine Hörer schon hundertmal gehört haben. So ein Herr Jowialski ist auch der führende Theoretiker des Parteizentrums. “Was sich im Imperialismus durchsetzt, ist ein Streben, das nicht ihn allein kennzeichnet das Streben nach Extraprofit. Dieses freilich ist untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden,2 es kann nur verschwinden mit diesem nur durch den Sozialismus überwunden werden. Aber der Imperialismus ist nur eines der Mittel, Extraprofit zu gewinnen, nicht das einzige. Wird dieser Weg dem Kapital gesperrt, sucht er sich andere Wege”, — erzählt Kautsky zum x-ten Male in der “Neuen Zeit” vom 16. Februar. Und er weist auf die “Wandlungen” hin, die sich in der imperialistischen Politik der Großmächte anbahnen. Schon indem ein imperialistischer Staat sich mit den anderen verständigt, Bündnisse schließt, hat er “den Weg zu einer erheblichen Modifikation … beschritten”, wiederholt er wie ein Star, denn dem Wesen des Imperialismus nach müsste jeder von ihnen für seinen eigenen Magen Ansprüche stellen.

Wenn sich nun einige imperialistische Staaten verständigen, um einer Koalition anderer, gleiche Zwecke verfolgender Staaten die Beute abzujagen, warum sollen sie sich nicht überhaupt verständigen? “Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass der jetzige Krieg damit endet, dass die Imperialisten der führenden Großmächte beider Lager sich über die Teilung und Ausbeutung der Welt verständigen … Die imperialistische Internationale mag den Weltfrieden bringen, ja unter Umständen sogar sichern, aber um so planmäßiger und riesenhafter wird sich in diesem Falle die Ausbeutung der Welt durch das internationale syndizierte Finanzkapital gestalten.”

Wie der Leser sieht, hält Kautsky an seiner Illusion über die Rolle der imperialistischen Bündnisse fest; er wandert weiter wie ein Blinder in der vom Weltkrieg erschütterten Welt herum, hält Kriegswaffen für Friedensinstrumente und träumt seinen Traum vom Frieden im Kapitalismus, und schläfert die Arbeiter mit diesem Liede ein.3 Aber, aber tun wir Kautsky nicht Unrecht? Sagt er doch, dass ein imperialistischer Weltfriede “nur eine unter vielen anderen Möglichkeiten des Kriegsabschlusses” sei und dass dieser eine “um so planmäßigere und riesenhaftere Ausbeutung der Welt durch das international syndizierte Finanzkapital” bedeuten würde! Nein, wir tun ihm nicht Unrecht! Diese theoretischen Zugeständnisse, die er hier den Linksradikalen nach sechsjähriger Diskussion im Punkte des imperialistischen Weltfriedens als Vergrößerung der Ausbeutung macht, drücken seiner Politik den Stempel einer durch und durch konterrevolutionären Politik auf.

Würde er wie der brave Spectator4 alle umwälzenden sozialen Möglichkeiten, die die Krise des Imperialismus eröffnet, in absehbarer Zeit für unmöglich halten, so müsste man auch dann die Stärkung des Kapitalismus durch die pazifistische Agitation ablehnen, aber sein Handeln würde seiner Auffassung von dem Charakter der bevorstehenden Epoche entsprechen. Er wäre nur Opfer seines Unverstandes. Aber so ist es nicht. Kautsky ist überzeugt, dass die ökonomischen Verhältnisse für den Sozialismus schon reif sind. (Er hat dies gegen Cunow noch im Jahre 1915 behauptet.) Er hält verschiedene Möglichkeiten der Lösung der Weltkrise, die seit zweieinhalb Jahren das Proletariat vernichtet, für objektiv gegeben: den Beginn der grundsätzlichen Umwälzung als Folge des Krieges ebenso wie eine Festigung des Kapitalismus durch seine internationale Verständigung, eine Verstärkung seiner Ausbeuterkraft. Niemand kann — nach seiner Überzeugung — sagen, welche Möglichkeit wahrscheinlicher ist. Der Ausgang hängt aber auch von der Politik des Proletariats ab, von der Kraft, die es in die Wagschale der Geschichte wirft. Die allgemeine Richtung unserer Propaganda, unserer Agitation, unserer Aktion, ihr Charakter ist nicht nur Resultat der Verhältnisse, sondern auch einer der für die Kraft des Proletariats entscheidenden Faktoren. Und trotzdem tut dieser führende Theoretiker der 2. Internationale, zu dem noch heute Tausende und Tausende als zu dem Meister der revolutionären Politik aufblicken, nichts, um die politischen Kräfte, die er beeinflusst, in die Richtung einer Politik zu lenken, die für eine grundsätzliche Umwälzung arbeitet, sondern er stellt sich praktisch von vornherein auf den Boden der zweiten Lösung, der Verständigung der imperialistischen Staaten, die nach seiner Überzeugung die Ausbeutung der Welt noch planmäßiger, noch rücksichtsloser gestalten wird.

Hier ist der unüberbrückbare Gegensatz zwischen uns Linksradikalen und dem Zentrum. Nicht um theoretische Spintisierereien handelt es sich, sondern um die Grundrichtung unserer Politik. Es kann sich später herausstellen, dass wir das Tempo der Bewegung überschätzt haben. Größere als wir, unsere Altmeister, haben es sogar oft überschätzt. Und trotzdem war ihre aus dieser Überschätzung des Tempos der Entwicklung entstammende Politik richtig. Denn wenn es nur unter vielen eine Möglichkeit gibt, eine soziale Krise zu lösen, so ist es eine Pflicht jedes Sozialdemokraten, seine Politik auf dieses Ziel einzustellen, denn nur dadurch werden die darauf hinarbeitenden Kräfte — inwieweit es von der Sozialdemokratie abhängt — gestärkt. Wohlgemerkt: es handelt sich nur um die Richtung der Propaganda und Agitation und Verschärfung der schon bestehenden Konflikte. So haben es Marx und Engels ihr Leben lang getan. Aber wer die Möglichkeit einer Lösung zugibt und nicht aus allen Kräften, mögen sie klein oder groß sein, für sie eintritt, der mag Bibliotheken über Marxismus zusammengeschrieben haben, mag der beste Marxphilologe, Marxapologet sein, mit der marxistischen Politik hat er nichts zu tun. Wenn er aber dazu, nachdem er die Möglichkeit der Lösung der Weltkrise angenommen hat, für eine kapitalistische eintritt, indem er die Fahne des Pazifismus im Lager des Proletariats aufpflanzt, der gebraucht den Namen des Marxismus nur zur Verdeckung einer ihrem Wesen nach konterrevolutionären Politik.

Und dass die Politik, die Kautsky vertritt, objektiv nichts anderes darstellt, als einen Kampf gegen die aufwachenden Kräfte der Internationale, als eine Irreführung der sozialistischen oppositionellen Arbeiterschaft, das beweisen, wie die Taten des Zentrums, Kautskys Ausführungen über die Mängel der linksradikalen Formel vom imperialistischen Kriege. Darüber im zweiten Artikel.

VOM CHARAKTER DES WELTKRIEGES.

Der Leser des ersten Artikels könnte sagen: nun gut, Kautsky fehlt eine richtige Perspektive, aber was den jetzigen Krieg anbetrifft, so hat er nach 30 Kriegsmonaten schließlich festen Grund unter den Füßen. Er hat doch sogar in seinem Friedensmanifest sich auf Zimmerwald berufen. Und schließlich handelt es sich in der praktischen Politik um das, was man heute tut. Die Ausführungen Kautskys beweisen das gerade Gegenteil. Kautsky negiert die Grundlagen einer gemeinsamen Haltung des Proletariats dem Weltkriege gegenüber.

Kautsky hält uns zuerst einen Vortrag darüber, dass der Imperialismus verschiedener Großmächte dank ihrer verschiedenen ökonomischen und politischen Zustände verschieden sei. England hat eine entwickeltere Textil- aber eine weniger entwickelte Schwerindustrie als Deutschland und die Vereinigten Staaten Amerikas. Es besitzt Freihandel und keinen entwickelten Militarismus, während Deutschland schutzzöllnerisch ist und ein stehendes Heer besitzt usw., was an solchen Unterschieden sich schon jeder ABC-Schütze an den Sohlen abgelaufen hat.

An allen diesen räumlichen und zeitlichen Verschiedenheiten im Charakter des Imperialismus sowie seiner Kompliziertheit mit den mannigfachsten anderen Problemen — an alledem geht achtlos derjenige vorbei, der meint, die Stellung zu jedem kriegführenden Staate und in jeder einzelnen Phase des heutigen Krieges sei schon mit der Konstatierung gegeben, dass wir im Zeitalter des Imperialismus leben. Das Bedürfnis, die unendliche Fülle der Motive und Tendenzen in den verschiedenen Staaten, bei den verschiedenen Klassen, unter den wechselnden Situationen auf das eine Schema des Imperialismus zu reduzieren, zwingt förmlich zur Blindheit gegenüber den Erscheinungen der Außenwelt, so dass man sie nur noch in jenem Dunkel sieht, in dem alle Kühe grau und alle Kriegsprobleme imperialistisch sind.”

Wir können von Kautsky nicht fordern, dass er alle die Artikel liest, die wir innerhalb der letzten zehn Jahre über die imperialistischen Fragen in der “Leipziger Volkszeitung”, “Bremer Bürger-Zeitung” usw. veröffentlicht haben, in denen wir über die besonderen Tendenzen des Imperialismus in verschiedenen Ländern dauernd berichteten. Aber mindestens die müsste er kennen, die er selbst aus unserer Feder in der “Neuen Zeit” gebracht hat — manche, wie die Marokkokrise in den gespanntesten weltpolitischen Situationen — und die es ihm verbieten müssten, solche Vorwürfe zu erheben. Und so wie wir, hat es van Ravensteyn ‚ einer der besten Kenner der Weltpolitik unserer Richtung getan, dessen letztes Buch: “Wereldoorlog” (Zutphen 1916, Verlag Thieme) — eine Sammlung seiner Artikel aus der Kriegszeit — direkt musterhaft die Unterschiede in der Struktur des Imperialismus der verschiedenen Länder herausarbeitet.

Der Streitpunkt zwischen uns und Kautsky in diesem Punkte ist nicht, ob wir blind den Unterschieden im Charakter des Imperialismus gegenüberstehen und er sie sieht — wie stark seine Sehkraft ist, bewies er am 3. August 1914, als er nicht wusste, worum es sich auf deutscher Seite handelte —‚ nicht, ob wir an den vorimperialistischen Elementen in diesem imperialistischen Weltkrieg achtlos vorübergingen, sondern in der Frage, ob all die verschiedenen Imperialismen trotz ihrer Verschiedenheit gleich verderbliche Folgen für das internationale Proletariat haben und ob ihnen allen die Internationale mit gleicher Entschiedenheit entgegentreten muss. Kurz, ob der Weltkrieg einen einheitlichen Charakter hat. Kautsky sucht lang und breit zu beweisen, dass verschiedene Teile der Bourgeoisie nicht immer eine reaktionäre Masse bilden. Wir haben im Laufe der letzten Jahre diese seine schönen Ausführungen x-mal gelesen. Aber er wiederholt sie ganz gewiss nicht deswegen, um uns die Freude zu bereiten, alte Bekannte wieder zu sehen sondern um uns den Schluss nahe zu legen: wie wir bei den Unterschieden in der Struktur der Bourgeoisie mit einzelnen ihrer Teile ein Stück Wegs zusammengehen können, so ist es auch mit dem Imperialismus.

Und richtig: Kautsky erklärt, das Zentrum “lehne ebenso jene Verpflichtung (der Linksradikalen. D. V.) zu unbedingter Opposition ab, die aus dem imperialistischen Charakter des Krieges gefolgert wird, wie jene Verpflichtung (der Sozialpatrioten. D. V.) zu unbedingter Unterstützung der Regierung, die aus dem Grundsatz der Landesverteidigung gefolgert wird. Das Zentrum entscheidet im Kriege über jeden besonderen Fall nach seinen besonderen Merkmalen”. Wir wissen, dass Kautsky, der am 3. August 1914 über die besonderen deutschen “Merkmale” im unklaren war, später sich durch die französischen Merkmale zur Anerkennung der besonderen Lage der französischen Sozialpatrioten bestimmen ließ. (Siehe seine Erklärung im “Vorwärts” vom 1. Januar 1916.) Hier ist der Unterschied zwischen Kautskys und unserer Position.

Unsere Blindheit demonstriert Kautsky an einem Zitat aus dem “Volksrecht” (vom 5. August 1916), das lautet: “Die Kleinstaaten, die Kolonien besitzen, sind imperialistische Staaten, und die belgischen Proletarier, die ihr Blut für die Unabhängigkeit Belgiens verspritzen, verspritzen es, wenn auch ungewollt, nicht minder dafür, dass die belgischen Bourgeois es den Kongonegern abzapfen können.” Entsetzt fragt Kautsky: “sind der Besitz dieser Kolonie und die Unabhängigkeit Belgiens unzertrennlich miteinander verbunden, so dass man für das eine nicht kämpfen kann, ohne für das andere zu kämpfen?” Gewiss sind die beiden Dinge nicht unzertrennlich. Aber helfen die belgischen Proletarier der Entente zum Siege, und anders können sie für die “Unabhängigkeit” ihres Landes nicht kämpfen, so haben sie auch für die Unzertrennlichkeit des Kongos von Belgien gekämpft. Und wenn Kautsky fragt, ob Belgien wegen des Kongos in den Krieg geraten ist, so würden wir ihm sehr die Arbeit des Historikers Rathgen (in den Preußischen Jahrbüchern) über die Kongofrage und den Weltkrieg empfehlen. Man mag in noch so vielen Punkten mit Rathgen differieren, dass die Angst um den Kongo für den Fall eines deutschen Sieges die belgische Regierung sehr stark auf die Ententeseite gedrängt hat, kann keinem Zweifel unterliegen. Das haben auch die belgischen Genossen bei dem Erwerb des Kongos befürchtet. Sie hatten eben zur kapitalistischen belgischen Regierung nicht das Vertrauen des Genossen Kautsky; sie glaubten, dass die Aussicht auf Verlust einer Kolonie, die allein in Katanga Milliarden an Werten birgt, auf die Haltung der Regierung nicht ohne Einwirkung bleiben würde.

Noch gekünstelter scheint Kautsky unsere Behauptung, dass durch die allgemeinen kapitalistischen Zusammenhänge auch die Bourgeoisie der Kleinstaaten, die keine Kolonien besitzen oder sogar keine besitzen können, Nutznießer des Imperialismus ist. Dass sie einerseits durch Investierung ihres Kapitals in den imperialistischen Unternehmungen der Großmächte ein Interesse an dem Siege eines oder des anderen Lagers haben können, dass andererseits die Anlage des fremden Kapitals in den Kleinstaaten die Haltung der Bourgeoisie des Kleinstaates oft im Sinne des Geldverleihers beeinflusst. Dies alles sei eine “verzweifelte Konstruktion”. Und Kautsky stellt uns dann zerschmetternde Fragen. Wenn dem so ist, so müsste doch z. B. deutsches in Russland investiertes Kapital ein Interesse an Russlands, französisches in der Türkei investiertes ein Interesse am Siege der Türkei haben? Das sind Spiegelfechtereien. Das deutsche Kapital kann desto besser Russland und das französische desto besser die Türkei ausbeuten, je größer die Macht Deutschlands oder Frankreichs ist, denn die Unterstützung der Regierung verschafft ihm bessere Bedingungen der Ausbeutung Russlands, resp. der Türkei.

Diese kann dem Übersee exportierenden Kapital des Kleinstaates seine Regierung nicht geben, es lehnt sich an die Großstaaten an.

Ohne die Macht des deutschen Imperialismus käme z. B. das Schweizer Kapital gar nicht dazu, sich an der Bagdadbahn zu beteiligen, weil sie ohne den Druck Deutschlands nicht gebaut worden wäre. Ob es den Schweizer Teilnehmern an dem Bau der Bagdadbahn nicht gleich wäre, wenn sie vorn Engländern geleitet wäre — fragt Kautsky. Nein, werter Genosse Kautsky, denn die Schweizer Kapitalisten kennen die Bagdadbahnfrage besser als Sie: wenn England in diesem Kriege entscheidend siegt, wird es den größten Teil der Bagdadbahn nicht bauen, weil dies seinen Interessen widerspricht. Das würde aber die Profitaussichten sehr mindern, denn die Bagdadbahn würde zu einer kleinen Provinzbahn herabsinken. In gleicher Weise kann man die anderen zerschmetternden Fragen Kautskys beantworten. Aber dies ist nicht nötig. Denn würden die Kapitalisten der Kleinstaaten so unbeteiligt an der imperialistischen Politik wie der Genosse Kautsky sein, würde in der kapitalistischen Welt das Wunder bestehen, dass in ihrer Mitte ganze Staaten mit höchstentwickeltem Kapitalismus als von seinen modernen, gewaltigen Tendenzen unberührte Oasen, existieren, das alles würde nichts an der wichtigsten, durch die Erfahrungen dieses Krieges erhärteten Tatsache ändern: kein Kleinstaat, gleichgültig ob er in den imperialistischen Weltkrieg freiwillig eintritt, ob er als Opfer des Imperialismus in ihn hineingezerrt wird, kann eine selbständige Politik treiben, er kämpft als Teil der imperialistischen Koalition, als sehr wehrloses Werkzeug für die allgemeinen Interessen des Imperialismus. Das entscheidet auch die Frage, ob das Proletariat der Kleinstaaten dieselbe Politik treiben kann, wie das der Großstaaten, oder ob es sich an die “besonderen” Merkmale zu halten hat.

In dem jetzigen Krieg verfolgen alle kapitalistischen Staaten, selbst wenn man annehmen würde, dass sie gegen ihren Willen in den Krieg hineingezogen wurden, imperialistische Ziele.” Alle kapitalistischen Staaten! Was für ein “Blinder” schrieb das? Gustav Eckstein schrieb diese Worte kurz vor seinem Tode in einem Artikel des Avanti, Gustav Eckstein, von dem Kautsky im Nekrolog schrieb, er habe “die politische Ökonomie gemeistert”, Eckstein, dessen Tod Kautsky als den Verlust der “rechten Hand” beklagte.

Es zeigt sich, dass die linke Hand nicht weiß, was die rechte wusste und so klar niederschrieb. Das beweist nur, dass jüngere Theoretiker des Zentrums nach langem Schwanken die Blindheit den Tatsachen gegenüber aufgeben mussten, die sich Kautsky als besonderes marxistisches Verdienst anrechnet. Er sieht Bäume, sieht aber den Wald nicht. Sieht Imperialismen, aber den Imperialismus, den imperialistischen Krieg nicht. Deswegen kommt er zu einer besonderen Politik der Arbeiterklasse jedes imperialistischen Landes nach seinen besonderen Merkmalen zu einer besonderen Politik des Proletariats in den Kleinstaaten. Indem er die Auflösung der Internationale zu ihrem Ideal erhebt, erklärt er mit Stolz, das sei der Standpunkt der ersten und der zweiten Internationale gewesen. “Wir brauchen nur wieder seine allgemeine Anerkennung, brauchen keinen neuen internationalen Standpunkt und keine neue Internationale.”

Aber Genosse Kautsky, da haben Sie ja alles, was Ihnen zum Glück nötig ist, und Sie können mit Scheidemann, Plechanow, Renaudel usw. eine freundliche Unterhaltung über die “besonderen Merkmale” beginnen. Es wird ein Symposion sein, das hoffentlich seinen Plato findet, ein Symposion der Sozialpatrioten aller Länder. Aber eine internationale proletarische Aktion wird und kann es nicht fördern. Der “Blindheit” der Linksradikalen stellt Kautsky seinen eigenen positiven Standpunkt entgegen. Ihn den Lesern zu zeigen ist ein besonderer Genuss. Niemals zeigte sich ein Philosoph in einem zerrisseneren und zerschabteren Mantel, als der Theoretiker des Zentrums.

JEDER BESONDERE FALL NACH SEINEN BESONDEREN MERKMALEN.”

Getreu seinen Traditionen nimmt das marxistische Zentrum auch im Weltkrieg eine Mittelstellung ein. Es lehnt ebenso jene Verpflichtung zu unbedingter Opposition ab, die aus dem imperialistischen Charakter des Krieges gefolgert wird, wie jene Verpflichtung zu unbedingter Unterstützung der Regierung, die aus dem Grundsatz der Landesverteidigung gefolgert wird. Das “Zentrum” entscheidet im Kriege über jeden besonderen Fall nach seinen besonderen Merkmalen, aber nicht opportunistisch je nach dem Augenblickserfolg, den man dabei erwartet, sondern prinzipiell vom Standpunkt der dauernden Interessen des internationalen Proletariats.” So definiert Karl Kautsky in der “Neuen Zeit” vom 16. Februar die Kriegspolitik des Zentrums. Und um dieser Politik eine höhere Weihe zu verleihen, beruft er sich auf den “Zentrumsmann Marx”, den er sozusagen zum Vorläufer Kautskys ernennt, und er leugnet, dass das Zentrum eine opportunistische Politik treibt, eine Politik des Sumpfes. “Der Sumpf sucht eine Mittelstellung nur, solange die Entscheidung nicht gefallen ist. Ist sie getroffen, dann hält er sich stets zur augenblicklich stärkeren Seite. Er verträgt es nicht, in Minorität zu sein.” Nicht so Marx, der oft in Minorität verblieb, wenn es nötig war, an seinen von der Mehrheit abgelehnten Auffassungen festzuhalten. So treibt es auch das Zentrum. Immerdar und allewege!

Die Berufung auf die Marxsche Politik ist jetzt schon so diskreditiert, seitdem die Scheidemanns und Legiens sich zu Vollstreckern seines Testaments aufwerfen, dass man Kautskys Erbansprüche auf sich beruhen lassen könnte: denn schließlich ist es für Marx kein größerer Schimpf als Zentrumsmann wie als Sozialpatriot dargestellt zu werden, und die Arbeiter müssen lernen, mit ihrem eigenen Kopfe und nicht mit einem fremden, und sei es auch das Löwenhaupt Marxens, die verzwickten Fragen zu beantworten, die die Gegenwart an sie stellt. Aber wie die Marxsche Methode überhaupt den wichtigsten Orientierungsfaden im Labyrinth der imperialistischen Erscheinungen bildet, so erlaubt auch die Prüfung seiner Stellungnahme zu den Kriegen des Zeitalters von 1848—71, den prinzipienlosen, opportunistischen Charakter der Zentrumspolitik zu entlarven. Kautskys Berufung auf Marx ist ein ebensolcher Humbug, wie die der Scheidemanns und Legiens.

Welchen Standpunkt nahm Karl Marx den Kriegsfragen gegenüber ein? Kautsky behauptet, er habe ihn bestimmen lassen zunächst durch die Frage des Kriegsbeginns — auf welcher Seite der Angriff und auf welcher die Abwehr liege —‚ aber dadurch ließ er sich nicht für den ganzen Verlauf des Krieges binden: dann kam die Frage des Kriegsausganges in Betracht; je nach seinen Resultaten für das internationale Proletariat stellte er sich auf diese oder jene Seite. Wir müssen bekennen: Eine ähnliche Vulgarisierung des Standpunktes von Marx würde uns bei Ledebour, der sein Leben lang ein braver Demokrat von 1848 war und nicht mehr, nicht weiter Wundern, aber bei Kautsky geht sie doch über die Hutschnur.

Wir werden demnächst Gelegenheit haben, an den zwei Bänden der Marxschriften, die unlängst vom Genossen Rjasanow herausgegeben worden sind und die Abhandlungen von Marx und Engels über den Krimkrieg zum größten Teil enthalten, die Haltung von Marx an einem konkreten Falle zu analysieren. Hier kann es sich nur um die allgemeine Charakterisierung handeln, die auch vor dem Erscheinen der neuen Marxschriften für uns feststand, die aber kein zum Zwecke der Polemik gegen Kautsky konstruiertes Bild ist.5

Marx‘ Haltung war durchaus einheitlich und grundsätzlich. Er ging aus vom Gesamtcharakter der Epoche der Jahre 1848—1871. Auf ihrer Tagesordnung stand die Überwindung der staatlichen Zerklüftung Mittel- und Südeuropas. Die Bildung eines einigen Deutschlands, Polens, Italiens, einer Föderation der Balkanstaaten war in den Augen von Marx und Engels ein mächtiger Schritt auf dem Wege der kapitalistischen Entwicklung, von der er hoffte, dass sie bald zur sozialen Revolution führen würde. Wann und wo ein Staat diese Entwicklung hemmte, war er der Feind des internationalen Proletariats und ein Krieg gegen ihn ein Instrument vorerst der kapitalistischen Entwicklung, dann aber der sozialen Revolution. Da fragte Marx nicht nach Angriff oder Verteidigung, sondern weil er das Ziel wollte, so predigte er den Angriff. Russland bedrohte 1848 die Entwicklung zum einigen Deutschland: Marx predigte den Angriffskrieg gegen Russland. Österreich verteidigte 1848 die Zerstückelung Italiens: Marx und Engels waren gegen Österreich. Die Orientpolitik des Zaren bedrohte die ganze demokratische Entwicklung Europas: Marx predigte zur Zeit des Orientkrieges 1854 den Krieg der Westmächte gegen Russland. Napoleon der Dritte stellte sich der Einigung Deutschlands in den Weg: Marx und Engels erklärten im Jahre 1871 das historische Recht auf Deutschlands Seite. Als Deutschland zur Annexion Elsass-Lothringens überging, sahen Marx und Engels die Gefahr der späteren Stärkung des Zarismus darin enthalten, und sie wandten sich gegen die Politik Deutschlands.

Die Politik von Marx und Engels war also grundsätzlich orientiert durch ihr Urteil von der Bedeutung des Entstehens starker zentralisierter Staaten in Mittel- und Südeuropa und über die Gefahren, die dieser Entwicklung, als Grundlage des Kampfes um den Sozialismus, sei es seitens Russlands (dauernd), sei es seitens des napoleonischen Frankreichs (vorübergehend) drohten. Marx und Engels konnten irren und irrten in Teilfragen (so in der Überschätzung der Triebkräfte der polnischen Frage, in der Unterschätzung der Entwicklungsfähigkeit der österreichischen Slawen); aber ihre Politik entsprach vollkommen der allgemeinen, von ihnen scharf erkannten Tendenz der Entwicklung; sie war methodisch einheitlich, stellte als internationale Bedingungen der sozialistischen Politik scharf umrissene “Merkmale”. Sie war keine “Mittelstellung”, sondern eine radikale Stellungnahme und wandte sich rücksichtslos gegen die Politik Proudhons und seiner Anhänger, die erklärten, diese Fragen seien dem Proletariat gleichgültig, es solle auf die friedliche Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft durch die proudhonistischen Heilmittel warten. Sie war eine revolutionäre Politik, weil Marx in ihr nicht nur die Schaffung der Vorbedingungen der sozialen Revolution sah, weil er nicht nur keinen Augenblick auf die Selbständigkeit des Proletariats verzichtete, sondern dem Proletariat das Ziel setzte, in den großen Erschütterungen, die er von dieser Ära der Kriege erwartete, nach der Macht zu streben. Kautsky sollte die großen Schatten der Marxschen Politik ruhen lassen. Denn, wie das an die Spitze dieses Artikels gestellte Zitat zeigt, hält er es für den Vorzug der Zentrumsopposition, eben darauf zu verzichten, aus dem allgemeinen Charakter der Ära der imperialistischen Kriege eine allgemeine Politik des internationalen Proletariats abzuleiten. Marx fasste die theoretischen Aufgaben der Ära der so genannten nationalen Kriege scharf ins Auge: die Bildung der Großstaaten in Mittel- und Südeuropa, die Demokratie. Was ist der Charakter der jetzigen Epoche, was sind ihre Aufgaben? Wir Linksradikalen antworten: das Bürgertum stellt sich die Bildung der imperialistischen Großstaaten, der Weltstaaten als Aufgabe, aber dieselben Tendenzen, die die Grundlage dieses bürgerlichen Strebens bilden, machen die Erringung des Sozialismus in allen kapitalistisch entwickelten Ländern zur historischen Möglichkeit und somit zur historischen Aufgabe des Proletariats. Welche Aufgaben liest Kautsky von der Stirn der gewaltigen historischen Kämpfe ab?

Im Jahre 1911 faselte er von der Bildung der Vereinigten Staaten von Europa als eines noch zwar kapitalistischen aber friedlichen Gebildes und sah in der proletarischen Revolution den Weg zu ihnen. Jetzt erkannte er, dass dieses schöne Ziel ein imperialistisches wäre wenn es möglich sein würde, und er sieht ein, dass es etwas schwierig ist, dem Proletariat zu raten für dieses Ziel Revolutionen zu machen. Nachdem er so vom Baume der linksradikalen Erkenntnis gegessen und die Frucht als bitter befunden hat, begräbt er schweigend die Vereinigten Staaten Europas und bleibt ganz ohne Ziel. Von Fall zu Fall, diese neue Losung, bedeutet nichts anderes, als dass Kautsky der ganzen eisenklirrenden Epoche, in der die Menschheit von Geburtswehen von etwas Neuem, Großen erschüttert wird, keinen allgemeinen Sinn entlocken kann: weder für die Bourgeoisie noch für das internationale Proletariat. Marx und Engels suchten das Proletariat selbst in der Epoche der sich erst bildenden kapitalistischen Staaten auf die großen revolutionären Aufgaben vorzubereiten. Kautsky erkennt die Reife der jetzigen ökonomischen Verhältnisse für die sozialistische Umwälzung, aber er stellt sie nicht als aktuelle Aufgabe des Proletariats hin. Die Verständigung der kapitalistischen Regierungen: das ist sein und des Zentrums Ziel. Und dieses kurzdärmige und kurzatmige Epigonentum prätendiert auf die Weiterführung des Marxschen Werkes, verleumdet Marx als seinen Vorläufer!

Aber nehmen wir an, dass das gefälschte Bild, das Kautsky von Marxens Politik entwirft, richtig ist, dass nämlich Marxens auswärtige Politik als Ausgangspunkt der internationalen Stellungnahme des Proletariats die Frage: Angriff oder Verteidigung? habe, um sich später nach den internationalen Folgen des Kriegsausganges zu orientieren. Hat Kautsky und das Zentrum nach diesem angeblichen Vorbild gehandelt?

Am 3. August 1914 schlug Kautsky die Stimmenthaltung vor: wo waren Angriff und Verteidigung? Die Stimmenthaltung konnte doch nur bedeuten, dass ihm entweder unbekannt war, wer der Angreifer und wer der Angegriffene sei, oder dass er diesen Merkmalen keine Bedeutung beimaß. Kautsky wirft den Linksradikalen vor, dass sie dieser Frage keine Bedeutung beimessen, dass sie achtlos an ihr vorüber gehen. Das ist nicht wahr. Die Deklaration Karl Liebknechts vom 2. Dezember 1914 spricht in dieser Frage eine klare Sprache, und wir haben zu ihr nicht weniger klar Stellung genommen (siehe Nr. 16 der Arbeiterpolitik vom 7. Oktober 1916). Wer zu ihr als Richtung keine Stellung nahm, das war das Zentrum. Wie es am 3. August damit aussah, wissen wir schon. Die Zentrumsleute wollten überhaupt von einer Sonderdeklaration nichts wissen. Nachher — erklären sie — belehrten sie die diplomatischen Dokumente eines Besseren. Und Gustav Eckstein schreibt in seinem schon zitierten Avanti-Artikel, sie hätten gut verstanden, “warum unsere französischen Genossen (d. h. die französischen Sozialpatrioten - d. V.) in erster Linie ihr Vaterland gegen die feindliche Invasion verteidigen wollten. Selbst die Annahme der Ministerposten durch Guesde und Sembat wurde oft durch die radikalen deutschen Genossen (d. h. das deutsche Zentrum, in dessen Namen Eckstein spricht) gutgeheißen, die bisher Gegner jedes Ministerialismus waren und die jetzt anerkannten, dass die gefährdete Lage Frankreichs selbst solche außerordentliche Maßregel, wie den Eintritt der sozialdemokratischen Führer in das Ministerium, dessen einzige Aufgabe die Verteidigung des Landes sein sollte, entschuldigt.”

So dachten die Zentrumsführer nach dem Zeugnis eines der Ihrigen: Trotzdem schwiegen sie auf der parlamentarischen Tribüne und suchten nur in der Presse in den Artikeln Kautskys und Bernsteins “Verständnis” für die Politik der Renaudels zu erwirken. Und als schließlich die Zentrumsmänner im März 1916 den Mut fanden, von der parlamentarischen Tribüne ihren Standpunkt zu vertreten, da verschwiegen die Tapferen ihre von Eckstein geschulterte Auffassung von Angst und Verteidigung und erklärten ihre Opposition damit, dass Deutschland genug gesiegt habe, dass die Grenzen schon gesichert seien. Das heißt, sie hielten bis März 1916 am Verteidigungscharakter des Krieges auf der Seite Deutschlands fest.

Und wie steht es mit dem zweiten Kriterium, der Bedeutung des Kriegsausganges für das internationale Proletariat? Marx trat im zweiten Teile des Krieges 1871 dafür ein, dass es im Interesse des internationalen Proletariats liege, dass Frankreich siege, weil sonst die Annexion Elsass-Lothringens Frankreich in die Arme des Zarismus treiben würde, was die gesamte Demokratie gefährden müsste. Welcher Meinung sind jetzt Kautsky und das Zentrum? Wenn ihr Vorwurf, als beachteten die Linksradikalen nicht den Unterschied zwischen den verschiedenen Imperialismen, irgendwelche Bedeutung haben kann, dann nur eine: entweder ist der Imperialismus der Ententestaaten oder der der Zentralmächte nach der Meinung des Zentrums weniger gefährlich, und es gilt den weniger gefährlichen zu unterstützen. Die Renaudels, Hyndmans, Plechanows, Potressows erklären, der der Ententemächte sei es, die Lensch, Rennert, der der Zentralmächte sei ungefährlicher. Dem entsprechend unterstützen die einen die Entente, die anderen die Zentralmächte.

Die Linksradikalen lehnen den einen wie den anderen Standpunkt ab, sie erklären, dass trotz aller Unterschiede in der Struktur der imperialistischen Staaten nur das Proletariat den historischen Fortschritt darstellt, und sie richten ihre Politik danach ein: Was ist die Meinung des Zentrums? Kautsky deklamiert gegen das Schlagwort von der reaktionären Masse, er fordert, man solle Unterschiede machen, aber wo es zum Pfeifen kommen muss, spitzt er den Mund. Die Zensur ist gewiss nicht das Hindernis zur Änderung seines Standpunktes, denn wenn sie ihm Schweigen gebieten würde, so würde man sich aus der politischen Stellungnahme des Zentrums einen Vers auf diesen Standpunkt machen können. Wenn der Fortschritt auf der Seite einer der Koalitionen liegen würde, dann müsste das Zentrum gegen den Frieden ohne Sieger und Besiegte sein. Aber ein solcher Kriegsausgang ist das A und O des Zentrumsstandpunktes. Das ganze Gerede von den “Unterschieden” ist hohl, es führt zu keinen politischen Folgerungen. Das Zentrum will den Frieden nur, weil der Krieg kein Honig ist. Der bürgerliche Pazifismus, die Kriegsmüdigkeit der Massen, das ist das Zentrum.

Wir sind am Ende unserer Ausführungen. Wir haben gezeigt, dass die ganze Zentrumspolitik keinen einzigen zu Ende durchdachten Gedanken darstellt, dass ihr jede allgemeine Auffassung von der imperialistischen Epoche, jede konkrete Auffassung des Weltkrieges fehlt, dass sie dem internationalen Proletariat weder sagt, was es jetzt tun soll, noch was es in der Zukunft zu tun hat. Sie drückt nur die Tatsache aus, dass, seitdem die Kriegsmüdigkeit in den Volksmassen zu steigen begann und die Gefahr drohte, dass die Linksradikalen zur Macht werden, ein Teil der Sozialpatrioten sich genötigt sah, “oppositionell” zu werden.

Hat Wurm am 4. August 1914 erklärt, man würde nicht bis nach dem Brandenburger Tor gelangen, wenn man die Kredite ablehnt, so hat er später bemerkt, dass umgekehrt die Sache auch brenzlich werden kann. Und wie Wurm, so die Zubeil, Dittmann und andere “grundsätzliche” Zentrumsführer. Die ganze theoretische Begründung ihres Standpunktes muss dieser opportunistischen Rechnungsträgerei entsprechen. Und wie sie aus Angst um den Einfluss auf die Massen oppositionell wurden, so bleiben sie rein passiv, weil die Mehrheit der Arbeiterschaft sich nicht zum Kampfe entschlossen hat. Die widerspruchsvolle “Theorie” Kautskys, das Fehlen jeder umwälzenden Aussicht, spiegelt nur den faktischen Charakter der Zentrumspolitik wieder. Wenn das Zentrum der Opposition vorschlägt, Prinzipienlosigkeit zur vorläufigen Grundlage zu nehmen, so schlägt es ihr vor, vorläufig inaktiv zu bleiben. Dass sich das Proletariat dafür bedanken wird, daran zweifeln wir nicht. Dann wird vielleicht Genosse Kautsky andere “Merkmale” finden und sie mit anderen Zitaten aus Marx belegen.


1 Wenn auch nicht zur Vorbereitung der von der Arbeitsgemeinschaft einberufenen Konferenz geschrieben, so erscheinen die Artikel Karl Kautskys über die Kriegsfragen (Nr. 13, 14, 19 und 20 der ‚‚Neuen Zeit”) sehr glücklich vor ihr, um die zentrümliche Politik in allen ihren Widersprüchen zu zeigen, und den oppositionellen Arbeitern vorzudemonstrieren, dass das ‚‚vorläufige Banner‘‘, das ihnen die Zentrumsleute mit der unschuldigsten Miene in die Hand drücken wollen, kein Kampfbanner des Sozialismus, sondern ein aus pazifistischen und sozialpatriotischen Fetzen zusammengeflickter durchlöcherter Regenschirm ist, mit den, man sich kaum in die Stürme der Zeit hinauswagen kann. Gleichzeitig mit den Kautskyschen Artikeln erschien in Bern eine Broschüre Spectators ‚‚Vaterlandsverteidigung und Auswärtige Politik der Sozialdemokratie” (31 S.) Spectator ist ein ehrenwerter Mitarbeiter der ‚‚Neuen Zeit‘‘, er hat mehr Bücher gelesen, als er verdauen kann. Ein solch gelehrtes Haus verdient achtungsvolle Behandlung. Da er aber Kautsky nur abgeguckt hat, wie er sich räuspert und spuckt, wird er uns nicht verübeln, wenn wir ihn nur da heranziehen, wo er die Argumente Kautskys ‚‚ergänzt‘‘. Dass wir den Famulus nur in Fußnoten behandeln, erfordert die Achtung vor dem Magister.

2 Verehrter Spectator! Spitzen Sie die Ohren und schreiben [gemeint: streichen?] Sie in ihrer Broschüre (S. 29) den Satz: ‚‚Es handelt sich (bei der imperialistischen Politik) immerhin bloß um Extraprofite, nicht um den Profit selbst. Auf Extraprofite verzichtet man, wenn es nicht andere geht‘‘ usw. Spectator scheint als den Typus des modernen Kapitalisten einen kleinen Krämer anzusehen, der sich duckt. Das Großkapital der imperialistischen Staaten wird um den Extraprofit bis zum Letzten kämpfen, bis es mit dem Extraprofit zusammen fällt. Jetzt, nachdem es von Kautsky ‚‚selbst‘‘ beglaubigt ist, wird es wohl auch der Famulus glauben.

3 Der gute Spectator zitiert sogar die Rede Herrn Bethmann Hollwegs und die Bemühungen Mister Wilsons für die Schaffung einer ‚‚zwischenstaatlichen Organisation‘‘, als Beweis des Realismus der zentrümlichen Politik. Wir wissen nicht, ob wir dem Zentrum oder Herrn Bethmann Hollweg oder Wilson zu diesem Jünger Kautskys gratulieren sollen.

4 Der Kautskysche Adjutant Spectator lehnt jede Umwälzungsperspektive für absehbare Zeit im Vorhinein ab: ‚‚Wenn es sich nicht bloß um moralische Kundgebungen, sondern um wirkliche proletarische Klassenkämpfe handelt, (so) sind diese nicht bald zu erwarten. Jedenfalls gerade nicht sofort nach diesem Kriege.‘‘ (S. 7.) ‚‚Dass auf den Krieg sofort die soziale Revolution folgen würde wird wohl kein ernst zu nehmender Mensch behaupten.‘‘ (25.) Wenn sie aber nicht ‚‚sofort‘‘, d. h. an einem bestimmten Datum ‚‚beginnt‘‘, dann muss der ‚‚ernst zu nehmende‘‘ — mit Respekt zu sagen — Theoretiker des Marxismus Herrn Bethmann Hollweg und Wilson als die Verkünder des Weltfriedensgedankens feiern. Und das alles wirft nur so mit dein ‚‚Marxismus‘‘, ‚‚Dialektik‘‘ usw. herum!

5 Wir gaben sie schon im Jahrs 1909 in der ‚‚Bremer Bürger-Zeitung” in unserer Artikelserie “Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie”, wie auch in der theoretischen Revue der polnischen “Przeglad Socjaldemokratyczny”. Oktober 1909: Die Politik des Imperialismus und das Proletariat, S. 459—475. Diese Artikel enthalten schon in Umrissen die Haltung, wie wir und andere Vertreter des Linksradikalismus sie später positiv und kritisch entwickelt haben.

Kommentare