I. Zwei Epochen im Sein der II. Internationale.

I. Zwei Epochen im Sein der II. Internationale. Gegen den Zarismus und gegen den Imperialismus.

Die Vorarbeiten zur Wiederaufrichtung der II. Internationale fallen in die zweite Hälfte der 80er Jahre, die Wiedergeburt der internationalen Arbeiterorganisation – nach dem Zusammenbruch der I. Internationale – findet, man könnte sagen, an der Scheide zweier Epochen statt. Die 80er Jahre sind in vieler Hinsicht eine Zeit der Krise – in den 80er Jahren beginnt die Ära des neuesten Imperialismus, der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts seinen Kulminationspunkt erreicht.

Die Geschichte der II. Internationale selbst kann man in zwei Perioden teilen. Die erste Periode umfasst die Zeit vom Pariser Kongress (1889) ungefähr bis zum Kongress in Amsterdam (1904). Die zweite Periode liegt zwischen den Kongressen von Stuttgart und Basel.

Gegen den Zarismus – unter diesem Losungswort steht die II. Internationale in ihrer ersten Entwicklungsperiode. Gegen den Imperialismus – das ist die wichtigste Parole der Internationale in ihrer zweiten Entwicklungsperiode.

Wer den Kampf der verschiedenen Richtungen und die Evolution der Ansichten der II. Internationale in der Kriegsfrage verstehen will, der muss seine Aufmerksamkeit zuerst auf den Züricher Kongress (1893), auf den Stuttgarter Kongress (1907), auf die Jahre des Balkankrieges (1912/13) und auf den Baseler Kongress (1912) richten.

Die Jahre 1893, 1907 und 1912/13 sind die wichtigsten Daten zur Beurteilung der Evolution in den Ansichten der II. Internationale. Zürich, Stuttgart und Basel – das sind die wichtigsten Meilensteine auf dem zurückgelegten Wege.

Warum kam im Jahre 1893 in Zürich die Kriegsfrage auf die Tagesordnung? Warum war der Züricher Kongress fast ausschließlich dieser Frage gewidmet? – Darum, weil in den Jahren 1891/92 das französisch-russische Bündnis – d. h. das Bündnis der französischen Oligarchie und des russischen Zarismus – endgültig zustande kam, und es den Anschein hatte, als ob der europäische Krieg schon in der nächsten Zukunft ausbrechen würde.

Man muss sich in die damalige Lage der Dinge versetzen, um den Sinn der Geschehnisse auf dem Züricher Kongresse richtig zu beurteilen.

Der Anfang der 90er Jahre war ein entscheidender Moment in der Geschichte der Auslandspolitik der neuesten Zeit. Die imperialistischen Großmächte trieben Europa von dieser Zeit an mit aller Macht einem Weltkriege entgegen.

Wenn wir jetzt zurückblicken, so sehen wir, dass die Ära des Imperialismus der Gegenwart in den 90er, sogar in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts begann. Man darf aber nicht vergessen, dass unsere jetzige Ansicht auf einer retrospektiven Beurteilung aufgebaut ist. Jene Sozialisten, die in den 80er und 90er Jahren am Werke waren, konnten die sich eben erst bemerkbar machende Erscheinung noch nicht in ihrem ganzen Umfange abschätzen. Jetzt, nach dreieinhalb Jahrzehnten, sehen wir, dass die Entstehung der beiden wichtigsten Gruppierungen – des Dreibundes und besonders des französisch-russischen Bündnisses, das dann zur Triple-Entente wurde – unter dem Zeichen des Übergangs zum Imperialismus der Gegenwart zustande kamen. Das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich wurde im Jahre J878 geschlossen. Im Jahre 1882 wurde aus diesem Zweibunde ein Dreibund. Italien verbündete sich mit Deutschland und Österreich, indem es sich von rein imperialistischen Erwägungen leiten ließ. (Wettkampf zwischen den französischen und italienischen Imperialisten wegen Tunis.) Aber in der Zeit, da diese Ereignisse stattfanden, konnte der wahre Charakter dieser neuen Gruppierungen die Unvermeidlichkeit der Bildung einer neuen imperialistischen Gegengruppierung der übrigen Großmächte noch nicht klar hervortreten lassen. Marx starb im Jahre 1883, d. h. schon nach der Bildung des Dreibundes.

Und selbst dieser geniale Denker, der eine besondere Gabe der geschichtlichen Voraussicht besaß, konnte den Anbruch einer ganz neuen Ära in der Entwicklung des jüngsten Kapitalismus noch nicht bemerken, jener Ära, die wir jetzt Imperialismus nennen.

Sogar Engels, der 12 Jahre später starb als Marx, konnte den Imperialismus noch nicht als eine bestimmte, fest umrissene Epoche, als ein ganzes Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus wahrnehmen. Die 80er und 90er Jahre waren, wie gesagt, Übergangsjahre. Nur seit dem Beginne der imperialistischen Kriege tritt der Charakter dieser neuen Epoche klar zu Tage. Der erste große imperialistische Krieg der neueren Zeit fiel in die Jahre 1894/95 (Krieg zwischen Japan und China). Engels aber starb im Jahre 1895.

Der Abschluss des französisch-russischen Bündnisses musste große Unruhe im Lager der revolutionären Sozialisten hervorrufen, besonders unter den revolutionären Sozialisten Deutschlands. Was bedeutete der Abschluss des französisch-russischen Bündnisses? Das bedeutete, dass es der französischen Plutokratie, der französischen nationalistischen Reaktion gelungen war, die Truppen des russischen Zaren zur Durchführung ihrer Pläne in Europa zu dingen – und zwar in erster Reihe zum Kampf gegen Deutschland. Im Jahre 1871 besiegte Bismarck Napoleon III. und annektierte Elsass-Lothringen. Bis dahin hatten aber Frankreich und Russland gemeinsam im Laufe vieler Jahrzehnte Deutschland unterdrückt und seine nationale Vereinigung verhindert. Diese Unterdrückung hatte in der Mentalität des deutschen Volkes unverwischbare Spuren hinterlassen. Es ist daher durchaus nicht zu verwundern, dass die revolutionären Sozialisten Deutschlands damals (im Jahre 1891) ernsthaft die Gefahr erwogen, die ihrem Lande infolge des französisch-russischen Bündnisses drohte.

Dies ist die eine Seite der Frage. Andererseits bedeutete aber der franko-russische Vertrag eine große Stärkung des Zarismus, sowohl in Russland selbst, als auch auf internationaler Arena. Der Zufluss der französischen Milliarden nach dem zaristischen Russland verhalf der Monarchie der Romanows die innere Krise zu überwinden. Und was das wichtigste war – das franko-russische Bündnis verlieh der Auslandspolitik des Zarismus neuen Glanz. In gewissem Sinne stellte dieses Bündnis die französische Republik in den Dienst dieser Politik, brachte sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zum „internationalen Gendarmen".

Es fragte sich nun, wie hatten sich die revolutionären Sozialisten allen diesen Fragen gegenüber zu verhalten?

Seit langer Zeit – schon seit dem Jahre 1848 – betrachtete Marx Russland als Hauptfeind der internationalen Demokratie. Das alte Russland der Leibeigenschaft, das die ungarische Revolution erdrosselte, den polnischen Aufstand im Blut ertränkte, dieses reaktionäre Russland, das die Rolle eines „Völkergefängnisses" spielte, war in der Tat der Hauptfeind der Demokratie, bis zu der Zeit, da es in Russland selbst zu einer revolutionären Massenbewegung kam.

Im Momente des Zustandekommens des franko-russischen Bündnisses war die Massenbewegung aber erst im Anfangsstadium. Die Reaktion herrschte schrankenlos. Der Anfang der 90er Jahre fällt mit den goldenen Tagen des Regimes Alexanders III. zusammen. Die Romanows und Pobjedonostzews1) saßen auf Russlands Nacken und freuten sich an der Kirchhofsstille. Das ganze Land befand sich unter dem Drucke der Reaktion. Zu jener Zeit musste man das Russland der Selbstherrschaft, das ein Bündnis mit den Geldfürsten der reichsten westeuropäischen „Demokratie" geschlossen hatte, wirklich als die größte Gefahr für den Sozialismus betrachten.

Die deutsche Sozialdemokratie stellte schon zu jener Zeit einen ziemlich bedeutenden Machtfaktor dar. Die Zahl ihrer Wähler überstieg eine Million. Was für eine Position sollte nun der deutsche Sozialismus jener neuen Gefahr gegenüber einnehmen, die durch das franko-russische Bündnis, das eine ganz neue internationale politische Lage geschaffen hatte, entstanden war? Diese Frage stand vor Friedrich Engels und vor allen revolutionären Sozialisten, kurz vor dem Züricher Kongresse der II. Internationale.

Zwei Arbeiten Friedrich Engels, „Der Sozialismus in Deutschland" und „Die Auslandspolitik des Zarismus" sind ungefähr um diese Zeit geschrieben worden und haben den gleichen Inhalt.

Engels sieht gerade im Zarismus die Schutzwehr der europäischen Reaktion und den Grundpfeiler der Gegenrevolution. Er glaubt an das Nahen großer revolutionärer Kämpfe im Westen und zweifelt nicht daran, dass alle europäischen . Staaten – Deutschland nicht ausgeschlossen – sich in die Umarmung des Zarismus, als des einzig möglichen Retters der „Ordnung", werfen werden.

Ungeachtet aller Rechtsstreitigkeiten mit dem Zaren wegen Konstantinopel u. a., kann es Augenblicke geben, da die europäischen Regierungen dem Zarismus Konstantinopel, den Bosporus, die Dardanellen und alles übrige zum Opfer bringen werden, nur damit er sie gegen die Revolution verteidige." So schreibt Engels in seinem Aufsätze „Die Außenpolitik des Zarismus".

Was aber geschieht, wenn es nicht zur europäischen Revolution kommt und stattdessen Russland zusammen mit Frankreich Deutschland überfällt? Wie würde sich dies im Geschicke der deutschen sozialistischen Bewegung widerspiegeln?

Mit Sicherheit lässt sich eines sagen", bemerkt Engels anlässlich dieses Umstandes, „weder der russische Zarismus, noch die französische bürgerliche Republik, noch selbst die deutsche Regierung werden eine so großartige Gelegenheit vorübergehen lassen, um die einzige Partei, die für alle drei der Hauptfeind ist (d. h. die deutsche Sozialdemokratie) zu vernichten."

Was sollte das deutsche Proletariat, die deutsche Sozialdemokratie tun? Sollte es die preußischen Junker verteidigen, „seine" Regierung stützen? Nein, das war nicht möglich. Sollte es stillschweigend zusehen, wie die Heere des russischen Zaren und der französischen Bourgeoisie in Deutschland einbrechen? Nein, für Sozialisten war auch dies nicht möglich. Engels empfiehlt etwas ganz anderes: das deutsche Proletariat soll seine Regierung stürzen und einen revolutionären Kampf gegen den Zarismus führen und sich mit den französischen Arbeitern zu gemeinsamem Kampfe vereinigen.

Ein Krieg, wo Russen und Franzosen in Deutschland einfallen, wird für Deutschland ein Krieg auf Leben und Tod sein. In diesem Kampfe kann es seine nationale Existenz nur durch Anwendung revolutionärster Maßnahmen sichern … Wir haben eine starke Partei … und das ist die sozialdemokratische Partei. Wir haben jenes große Vorbild nicht vergessen, das Frankreich uns im Jahre 1793 gab. Das hundertjährige Jubiläum von 1793 steht schon ganz nahe bevor" … Und wir müssen zeigen, „dass die deutschen Proletarier von heute den Sansculotten, die vor hundert Jahren lebten, nicht nachstehen: man muss zeigen, dass das Jahr 1893 sich mit 1793 messen kann."

Die deutschen Sozialchauvinisten „berufen" sich jetzt oft auf diese Worte Engels', indem sie behaupten, dass sie im Jahre 1914 genau so gehandelt haben, wie Engels dies im Anfange der 90er Jahre angeraten hatte. Das ist aber eine Verdrehung der Tatsachen. Wir sprechen schon gar nicht davon, dass dieser Krieg nicht der Krieg war, den Engels damals im Auge hatte. Wir fragen nur: warum haben die deutschen Sozialchauvinisten ihre Regierung nicht gestürzt, warum haben sie nicht zu „den äußersten revolutionären Maßnahmen" gegriffen? Eine Kleinigkeit trennt sie von Engels. Er spricht von einem revolutionären Kriege, und sie unterstützen den gegenrevolutionären Krieg. Er spricht von der Methode der Sansculotten, d. h. von den größten Revolutionären ihrer Zeit. Sie handeln nach der Methode der Imperialisten, d. h. der schlimmsten Reaktionäre ihrer ZeitA.

Im Verhältnis zum deutschen Reiche kann die französische Republik unter gewissen Bedingungen die Vertreterin einer bürgerlichen Revolution sein", schrieb Engels. „Aber im Verhältnis zu der Republik, die im Dienste des Zaren steht, vertritt der deutsche Sozialismus unzweifelhaft die Revolution des Proletariates."

Die Folgerung ist klar. Wenn das deutsche Proletariat seine Regierung stürzt und die Macht ergreift, dann wird es im Kampfe gegen das reaktionäre französisch-russische Bündnis die proletarische Revolution vertreten. Es wird im Namen der Revolution des Proletariates dem Zarismus und der Republik Rouviers den revolutionären Krieg erklären. Es wird, der Methode des Jahres 1793 folgend, die revolutionäre Propaganda auch nach Frankreich tragen. Es wird Deutschland von der Zerstörung durch die Armeen des Zaren und der bürgerlichen Republik bewahren – aber nur, nachdem es sich von seinen eigenen Krautjunkern und von seiner eigenen Bourgeoisie befreit hat, nachdem es im Innern seines eigenen Landes zu „revolutionären Maßnahmen" gegriffen hat.

Indem Engels so sprach, setzte er – in einer veränderten Situation – die Tradition Marx' fort, die Tradition der „Neuen Rheinischen Zeitung", die im Jahre 1848 zum revolutionären Kampfe gegen den Zarismus aufrief.

Diesen Ansichten huldigten damals die besten Köpfe der deutschen Sozialdemokratie, z. B. August Bebel und Wilhelm Liebknecht.

Es ist bekannt, dass in demselben Jahre 1891 der deutsche Opportunist Vollmar schon mit einem vollständig fertigen Programm des Sozialchauvinismus hervortrat. Wir meinen seine aufsehenerregenden Reden, die er in München im Juni und Juli 1891 hieltB. In diesen Reden erklärte Vollmar offen, dass „wir (d. h. die deutschen Sozialdemokraten) den Dreibund unterstützen müssen," dass, „falls unser Land einem Überfalle ausgesetzt ist, es in Deutschland nur eine Partei geben wird, und wir Sozialdemokraten werden nicht die letzten sein in der Erfüllung unserer Pflicht".

Bebel und Liebknecht kehrten sich entschieden gegen Vollmar und kennzeichneten seine Politik auf dem Erfurter Parteitage als „nationalliberal"C.

Vollmar beschuldigte damals auch Engels und Bebel, dass sie den Krieg „wünschen", dass sie für den Krieg Propaganda machen, dass sie den Krieg wollen: „Wenn man unausgesetzt die Unabwendbarkeit eines Krieges predigt und jedes Mal hinzufügt, dass dieser Krieg der letzte auf Erden sein werde, dass in diesem Kriege die Befreiung von allen Lasten und Gebresten der Menschheit vor sich gehen werde, dann muss man den Anschein erwecken, dass man ihn wünscht"D. So interpretierte Vollmar die Idee des revolutionären Kampfes gegen den Zarismus, die von Engels und Bebel verteidigt wurde.

Damit kommt man in den national-liberalen Sozialismus hinein, das hieße nationalliberale Taktik in die sozialdemokratische Partei einführen", gab Bebel Vollmar zur Antwort … „Es ist nun nicht wahr, dass Liebknecht und ich (Bebel) einen gleichen Standpunkt eingenommen hatten, wie Vollmar in der Dreibundfrage. Trotz der Verschiedenheit unseres Wesens und trotzdem er (Engels) uns an Wissen und Erfahrung weit überlegen ist, besteht zwischen uns, wie unser fleißiger Briefwechsel hierüber beweist, in Bezug auf die Auffassung der europäischen Lage eine fast wunderbare Übereinstimmung"E.

Dies war nicht nur die Stellungnahme der revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands, sondern auch – und dies ist in diesem Falle besonders wichtig – die der revolutionären Sozialdemokraten Russlands. Plechanow, der damalige Vertreter der russischen revolutionären Sozialdemokratie, trat auf dem Züricher Kongress als offizieller Berichterstatter auf. Und in seiner Rede sagte er buchstäblich folgendes:

Wenn die deutsche Armee über unsere Grenzen einziehen würde, so käme sie als Befreier, wie die Franzosen des Nationalkonvents vor 100 Jahren nach Deutschland kamen, um als Sieger über die Fürsten dem Volk die Freiheit zu bringen.

Man spricht davon, dass die russische Gefahr durchaus nicht so drohend ist. Aber haben Sie denn vergessen, dass der russische Zar sich mit Ihrer (zu den Franzosen gewandt) Bourgeoisie alliiert hat, dass er der Mörder Polens ist? Wie kann Frankreich seine alte revolutionäre Vergangenheit so vergessen? …

Eine russische Gefahr besteht angeblich nicht; aber fragen Sie nur einmal die Delegierten Ungarns, Bulgariens, Serbiens, welche Gefahr ihnen von Seiten des russischen Zarismus droht …

Je mehr unsere deutschen Freunde den Zarismus angreifen, desto mehr Dank wissen wir ihnen. Bravo, meine Freunde, schlagt ihn auf das Haupt, zieht ihn auf die Anklagebank, so oft Ihr nur könnt, greift ihn mit allen Mitteln an, die Euch nur zu Gebote stehen"F.

Wir sehen, dass Plechanow im Jahre 1893 die Frage ebenso stellt, wie Engels, mit dem Bebel sich damals vollständig solidarisch erklärte. Es versteht sich von selbst, dass Plechanow damals auch von einem revolutionären Kriege des revolutionären Deutschland gegen das autokratische Russland sprach.

Gegen den Zarismus! Diese Losung vereinigte im Jahre 1893 die gesamte revolutionäre internationale Sozialdemokratie und bestimmte damals die Orientierung der Internationale.

Wir haben die in ihrer Art „defätistische" Äußerung Plechanows auf dem Züricher Kongress nicht dazu angeführt, um ihn vor seinen jetzigen Freunden – den Menschikow, Struve, Tichomirow – zu kompromittieren. Wir haben sie auch nicht angeführt, um zu sagen, dass sie, buchstäblich genommen, auch jetzt wahr sind. Im Jahre 1914 hätte kein einziger revolutionärer Sozialist Russlands eine solche Aufforderung an die Deutschen richten können. Weder in Stuttgart (1907) noch in Basel (1912) hat sich ein russischer Sozialist mit ähnlichen Aufrufen an die Deutschen gewandt: Russland, das das Jahr 1905 erlebt hatte, war schon nicht mehr das Russland von 1893. Kurz vor dem Beginn des Krieges von 1914 sah Petersburg schon wieder Barrikaden, die von dem revolutionären Proletariat der Hauptstadt errichtet worden waren. Andererseits kann man im Deutschland von heute nicht an das Jahr 1793 appellieren. Im jetzigen Deutschland muss man von einem neuen Jahre 1871 sprechen, von einem Aufstand nach dem Vorbild der Pariser Kommune, von einer proletarischen Revolution, mit der Losung der Niederwerfung der Bourgeoisie und der Einsetzung des sozialistischen Regimes. Nur wenn das deutsche Proletariat am Anfang des Jahres 1914 die Junker und die Bourgeoisie niedergeworfen hätte, wenn es auf dem Wege der Revolution sofort eine Reihe sozialistischer Maßnahmen verwirklicht hätte – nur in diesem Falle hätte es Freiheit und Sozialismus „auf der Spitze der Bajonette" in andere Länder tragen können. Die Regierung des deutschen Proletariats hätte dann sofort ein Friedensangebot machen sollen. Und wenn dieser Frieden nicht angenommen worden wäre, dann hätte die Arbeiterklasse Deutschlands Krieg führen müssen gegen die herrschenden Klassen der betreffenden Länder, einen Krieg, der in strategischer Hinsicht ein Offensivkrieg hätte sein können, der aber in historischem Sinne ein gerechter Defensivkrieg gewesen wäre. Und nur dann hätte das Proletariat Russlands, Frankreichs und Englands, sich an das deutsche Proletariat wendend, mit den Worten Plechanows (vom Jahre 1893) sagen können: „Wenn die deutsche Armee (d. h. die revolutionäre deutsche Armee, die mit dem Banner Liebknechts, und nicht mit dem der Hohenzollern kommt) unsere Grenze überschreitet, so kommt sie wie eine Befreierin zu uns."

Der Umstand, dass Plechanow auf dem Züricher Kongresse von 1893 unter dem allgemeinen Beifall der Sozialisten aller Länder eine solche Rede halten konnte, charakterisiert einen bestimmten Moment in der Geschichte des internationalen Sozialismus. Damals war der Zarismus der Hauptfeind. Damals konnte die einzige Losung: Gegen den Zarismus die ganze Internationale vereinen! In den Jahren 1907, 1912, 1914 war das schon unmöglich. Jetzt muss die Losung der Internationale nicht nur heißen: „Gegen den Zarismus", sondern vor allen Dingen: „Gegen den Imperialismus!"

Im Laufe von sechs Jahrzehnten propagierten die besten Revolutionäre Deutschlands unter dem deutschen Volke einen gerechten Hass gegen den Zarismus. Schon seit den Zeiten der „Neuen Rheinischen Zeitung" von Marx hörte der Ruf: „gegen den Zarismus!!" nicht auf, in den Ohren der deutschen Arbeiter zu tönen. Und jetzt, als es zum Kriege von 1914 kam, haben die deutschen Sozialchauvinisten, die auf die Seite des Imperialismus übergegangen waren, wissentlich diesen revolutionären Hass des deutschen Proletariates gegen den blutigen Zarismus exploitiert. Zynisch haben sie die alte Losung „Gegen den Zarismus" dazu benutzt, um unter ihrem Deckmantel die deutschen Arbeiter zu veranlassen, ihr Blut für die Interessen des deutschen Imperialismus zu vergießen. Aus revolutionären Kämpfe[r]n gegen den Zarismus haben sich die früheren deutschen Sozialdemokraten jetzt zu Verteidigern „ihres" Imperialismus entwickelt. Ihre Freunde aus dem russisch-englisch-französischen Lager sind ihnen aber nichts schuldig geblieben. Aus früheren revolutionären Kämpfern gegen den Zarismus haben auch sie sich in reaktionäre Verteidiger des Zarismus verwandelt. Und an ihrer Spitze steht derselbe Plechanow, der im Jahre 1893 die Deutschen aufforderte, auf der Spitze ihrer Bajonette Russland die Freiheit zu bringen, und der im Jahre 1914 erklärte, dass der Zar einen „notwendigen, gerechten Krieg" führe und dass das, „was Russland für Serbien forderte, fast gänzlich (!) mit den Forderungen der sozialdemokratischen Internationale übereinstimmte" (Sammelbuch: „Der Krieg" (russ.), S. 19, 25, 32).

Das ist der Weg, den ein gewisser Teil der II. Internationale in 20 Jahren zurückgelegt hat – von 1893 bis 1914.

Die revolutionäre Sozialdemokratie Russlands fordert die Deutschen jetzt nicht auf, uns auf der Spitze der deutschen Bajonette die Freiheit zu bringen.

Jetzt ist das revolutionäre Proletariat Russlands selbst einer der wichtigsten Faktoren in der sich vorbereitenden europäischen Revolution. Jetzt haben wir im Namen unserer Partei im Oktober 1915 folgendes geschrieben:

Auf die Frage, was die Partei des Proletariats tun würde, wenn die Revolution sie im jetzigen Kriege ans Ruder gebracht hätte, antworteten wir: wir würden allen, allen Kriegführenden den Frieden anbieten, unter der Bedingung der Befreiung der Kolonien und aller abhängigen, unterdrückten und entrechteten Nationen. Weder Deutschland noch England oder Frankreich würden unter den jetzigen Umständen diese Bedingungen annehmen. Dann müssten wir den revolutionären Krieg vorbereiten und führen, d. h. wir würden nicht nur mit den entschlossensten Mitteln unser ganzes Programm-Minimum weiterführen, wir würden auch alle von den Großrussen jetzt unterdrückten Völker, alle Kolonien und abhängigen Länder Asiens (Indien, China, Persien usw.) aufrütteln, und vor allem würden wir das sozialistische Proletariat Europas seinen Regierungen und seinen Sozialchauvinisten zum Trotz zum Aufstand anstacheln." (Einige Thesen.)

Mutatis mutandis – so hätten auch die deutschen revolutionären Sozialdemokraten im Anfang des Krieges sprechen müssen, dies wäre, den veränderten Umständen Rechnung tragend, die wahre Verwirklichung der Ansichten Engels gewesen.

Ein Vertreter der revolutionären Sozialdemokraten Deutschlands, Genosse Junius, hat ganz recht, wenn er sagt: „Engels hatte, als er dies schrieb (die von uns angeführten Zeilen), eine ganz andere Situation im Sinne, als die heutige. Er hatte noch das alte Zarenreich vor Augen, während wir seitdem die große russische Revolution erlebt haben. Er dachte ferner an einen wirklich nationalen Verteidigungskrieg des überfallenen Deutschlands gegen zwei gleichzeitige Angriffe in Ost und West. Er hat schließlich die Reife der Verhältnisse in Deutschland und die Aussichten auf die soziale Revolution überschätzt, wie wirkliche Kämpfer das Tempo der Entwicklung meist zu überschätzen pflegen. Was aber bei alledem aus seinen Ausführungen mit aller Deutlichkeit hervorgeht, ist, dass Engels unter nationaler Verteidigung im Sinne der sozialdemokratischen Politik nicht die Unterstützung der preußisch-junkerlichen Militärregierung und ihres Generalstabes verstand, sondern eine revolutionäre Aktion nach dem Vorbilde der französischen Jakobiner." (Junius: „Die Krise der Sozialdemokratie", Neudruck, Futurus-Verlag, S. 87.)

Junius begeht nur einen Fehler, wenn er weiter sagt, dass die deutschen Sozialdemokraten im Jahre 1914 das „nationale Programm der Patrioten und Demokraten vom Jahre 1848, der Marx, Engels und Lassalle und die Losung einer einigen deutschen Republik" als revolutionäres Kriegsprogramm hätten aufstellen sollen. Dies ist nicht richtig, denn jetzt kann man sich nicht mehr auf eine einzige Republik beschränken, sondern man hätte offen Sozialismus, sozialen Umschwung auf seine Fahnen schreiben sollen. Junius missbraucht die Terminologie der Vergangenheit, wenn er sagt, „das war die Fahne … die wahrhaft national" war (S. 88). In dieser Terminologie von Junius finden wir die letzten leisen Nachklänge jener Stellungnahme zu diesen Fragen, die in den Jahren 1891-1893 verständlich war, die man jetzt aber nicht einfach wiederholen darf.

Nichtsdestoweniger sind in Deutschland gerade die Genossen Junius, Liebknecht, Rosa Luxemburg, Borchardt, die wahren Fortsetzer des Werkes von Engels. Sie setzen – unter anderen Umständen – die Verteidigung derselben revolutionären Taktik fort, die von den orthodoxen Marxisten im Jahre 1893 auf dem Züricher Kongress verteidigt wurde, ebenso wie unsere Partei diese Taktik unter neuen Bedingungen auf russischem Boden verteidigt. Wer zu denken versteht, der wird sehen, dass wir, indem wir gegen den Opportunismus der II Internationale kämpfen, nicht ihre ganze Geschichte auslöschen wollen, und nicht ihre ganze 26 jährige Tätigkeit durchaus als ein einfaches Missverständnis erklären. Wir zeigen, dass es in der II. Internationale immer zwei Strömungen gab, dass zum Schluss der Opportunismus in der II. Internationale die Oberhand gewann und auch den Zusammenbruch dieser Internationale veranlasste. Wir setzen die Arbeit ihres marxistischen Flügels fort, nur unter veränderten Verhältnissen …

1 Vorsitzender des Heiligen Synod unter Alexander III.

A Das Gleiche ist von den Allüren der französischen Sozialpatrioten zu sagen. Guesde, Sembat und Hervé- wollen die Sache so darstellen, als ob sie im Geiste des Jahres 1793 handeln würden. Aber eine solche Behauptung ist eine zynische Verhöhnung der Wahrheit. Die blutige Hand Nikolaus II. küssen (Besuch von Albert Thomas) und als Geiseln im Ministerium der französischen Plutokratie sitzen – das heißt wahrlich nicht, im Geiste von 1793 handeln. Der französische Imperialist Graf de Felse hatte vollkommen recht, als er meinte, es sei ein „Meisterwerk" der französischen Imperialisten, dass sie die „Opposition" (Guesde, Sembat u. a.) veranlasst haben, ins Ministerium einzutreten und die Verantwortung für den jetzigen Krieg zu tragen … .

B Georg von Vollmar. „über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie." Zwei Reden, gehalten am 1. Juni und 6. Juli im „Eldorado" zu München. München, M. Ernst.

C Siehe Protokoll des Erfurter Parteitages, Seite 173, 207, 210.

D Siehe Protokoll des Erfurter Parteitages, Seite 187.

E Ebenda, Seite 275, 283, 284.

F Protokoll des internationalen Arbeiterkongresses in der Züricher Tonhalle, 1893, Seite 30.

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